Sahra Wagenknecht

»Merkels Politik hat die AfD groß gemacht«

Stern-Interview mit Sahra Wagenknecht vom 06.01.2017 (Wortlaut)

06.01.2017

stern: Frau Wagenknecht, dürfen wir Ih­nen ein Kompliment machen, oder lenkt das sehr von den Inhalten ab? Sie sehen wieder sehr elegant aus.

Sahra Wagenknecht: Danke.

Heute ganz in Rot. Ist das eine po­litische Botschaft?

Hatten Sie nicht eben noch angedeutet, dass mir das gut steht? Rot ist eine schöne Farbe. Nicht nur politisch, auch modisch.

Ihr Lieblingsdichter Johann Wolf­gang von Goethe hat sich mit der Farbenlehre beschäftigt.

War aber mehr für Grün.

Bei Goethe stand Rot für Ernst und Würde, Huld und Anmut.

Passt doch. Würde ist für mich ein zentraler Wert. Ich will eine Gesellschaft, in der die Würde jedes Menschen tatsächlich unantastbar ist, also niemand mehr durch mies bezahlte Jobs, Leiharbeit oder Armutsrenten entwürdigt wird.

Und Ernst?

Selbstverständlich möchte ich ernst genommen werden. Aber das ist ganz sicher keine Frage meiner Kleidung.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Sie neuerdings sogar im bür­gerlichen Lager gut ankommen?

Warum nicht? Der Kapitalismus ist dabei, viele bürgerliche Werte zu zerstören. Auch Menschen, die im Wohlstand leben, machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Natürlich habe auch ich mich verändert. Anfang der 90er Jahre, ich war damals 20, galt ich als DDR-Nostalgikerin. Das hat viele Leute verständlicherweise abgestoßen. Persönlich hatte ich keinen Grund, der DDR nachzutrauern, in der ich noch nicht mal studieren durfte. Aber als die Oberlinientreuen alle das sinkende Schiff verließen, habe ich aus Trotz die DDR verteidigt.

Die bürgerliche Gesellschaft hat ihren Frieden mit Ihnen gemacht?

Die Vorurteile sind weniger geworden, weg sind sie nicht. Ab und an kommen noch Mails, ich solle doch nach Nordkorea gehen.

Der CSU­-Grantler Peter Gauweiler schrieb über Ihr letztes Buch „Reichtum ohne Gier“: „Alles in unvergleichlich besser erzogener Form, als wir Westler es von unse­ren alten 68ern mit ihrem undurch­dachten Schmaddertum gewohnt waren.“

Über Gauweilers Rezension habe ich mich gefreut. Man muss den Verfall der Sprache und Kultur nicht mitmachen. Banausentum ist nicht links.

Heute sind Sie die manierliche Linke?

Es geht nicht um Manierlichkeit, sondern um Seriosität. Ein Politiker sollte überzeugungen haben, an denen man seine Politik dann auch messen kann. Das wird leider immer seltener. Schauen Sie sich Frau Merkel und ihre CDU an. Voriges Jahr die chaotische Flüchtlingspolitik, auf dem letzten Parteitag der völlige Rechtsschwenk. Da passt doch nichts mehr zusammen. Oder nehmen Sie Sigmar Gabriel. Er hat in seinem Leben schon so viele Pirouetten gedreht, woher soll der Wähler noch wissen, wofür er steht?

2016 fühlte sich an, als sei es ein Epochenjahr gewesen. Erleben wir gerade das Ende der westlichen, liberalen Demokratie?

In den USA erleben wir, wie der Oligarchenkapitalismus die liberale Demokratie abschafft. Wenn unter demokratischem Vorzeichen lange Zeit Politik nur für Reiche und gegen die sozialen Interessen der Mehrheit gemacht wird, wenden die Menschen sich ab. Verständlicher- weise. Das gilt auch für Europa. Ob Trump oder Brexit, in beiden Fällen wurde vor allem gegen ein „Weiter so“ gestimmt.

Der irre Trump wird US­Präsident, der zynische Putin ist zurück auf der Weltbühne, der autokratische Erdoğan spielt sich als Türsteher der europäischen Flüchtlingspo­litik auf ...

... weil Merkel ihn dazu gemacht hat.

Macht Ihnen diese globale Ent­wicklung Angst?

Mir macht Angst, wie schnell Grundwerte infrage gestellt werden. Die Türkei unter Erdoğan wird zur islamistischen Diktatur. Mit Trump hat die Plutokratie in den USA eine neue Stufe erreicht. Viele Trump-Wähler wollten das Establishment abwählen. Aber bekommen haben sie anstelle der früheren Regierungen der Millionäre jetzt ein Kabinett der Milliardäre.

Trump, Putin, Erdoğan – alles alte weiße Männer, machtbewusst, schnell reizbar, leicht verhaltens­ gestört.

Sorry, aber dieses Alte-weiße-Männer-Klischee halte ich für borniert.

Die Welt wäre nicht besser, wenn sie von Frauen regiert würde?

Kommt draufan, von welchen Frauen.

Und das aus dem Mund einer lin­ken Spitzenfrau!

Ein sozial ausgerichteter Kanzler wäre mir tausendmal lieber als Frau Merkel. Und mit Frau Clinton hätte die Gefahr bestanden, dass in Syrien ein militärischer Konflikt mit Russland riskiert worden wäre.

Kommen Sie mit den Männern und ihren großen Egos klar?

Was Trump wirklich antreibt, weiß wohl niemand.

Und Putin?

Regiert ebenfalls in einem Oligarchensystem, ist aber relativ berechenbar.

Ernsthaft?

Nachdem der russische Einflussbereich immer kleiner geworden war und die Nato sich bis an die russische Westgrenze ausgedehnt hatte, hat Putin signalisiert: bis hierhin und nicht weiter. Machen wir uns nichts vor, beide – die USA und Russland – betreiben eine imperiale Politik. Beide haben im Nahen Osten nicht interveniert, weil es ihnen um Menschenrechte und Demokratie geht. Sondern um Einflusszonen.

Entschuldigt das Putins brutalen Krieg in Syrien?

Es gibt keine Entschuldigung für Kriege um Einfluss, Öl, Gas und Macht. Aber das gilt für alle Seiten. Russland hat sich in Syrien militärisch als Weltmacht zurückgemeldet. Putin hat eine klare Strategie: Er will nicht, dass sein Land zu einer Regionalmacht herabsinkt, deren Interessen andere ignorieren können. Und da Russland Atomwaffen besitzt, ist der Westen gut beraten, nicht länger auf Konfrontation zu setzen, sondern auf Kooperation. Willy Brandt hat das vorgemacht.

Hat nicht Putin das Gespräch ver­weigert, Syriens Diktator Assad gerettet und das Land in Schutt und Asche bomben lassen?

Die Bombardierung von Aleppo war grauenvoll. Es ist barbarisch, wenn Krankenhäuser und Schulen dem Erdboden gleichgemacht werden. Aber das gilt für alle Kriege, sie treffen immer zuerst die Zivilbevölkerung. Bei den Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten, etwa in Raqqa und Mossul, kommen ebenfalls viele Zivilisten ums Leben. Aber die Bilder dieser Toten erreichen uns nicht, sie bleiben anonyme „Kollateralschäden“. Wie zynisch!

Ist Putin ein Kriegsverbrecher?

In Syrien sind auch von russischer Seite Kriegsverbrechen verübt worden, kein Zweifel. Aber wenn ich höre, wie deutsche Politiker sich geradezu überschlagen, Putin als Kriegsverbrecher zu verurteilen, frage ich mich schon: Warum hat keiner von denen je verlangt, die Verantwortlichen des Irak-Kriegs, Blair und Bush, vors Kriegsverbrechertribunal zu bringen? Wer das fordert, hat auch das moralische Recht, Putin zu verurteilen. Aber wer wie Merkel die Bundeswehr in immer neue Kriege schickt, die US-Drohnenmorde mit deutscher Logistik ermöglicht und sogar beim Irak-Krieg mitmachen wollte, ist in seiner Empörung über zivile Opfer ziemlich unglaubwürdig.

Haben Sie populistisches Talent?

Ich versuche mich so auszudrücken, dass die Leute mich verstehen.

Sie haben Merkels Satz „Wir schaf­fen das“ als „leichtfertig“ bezeichnet und der Kanzlerin vorgeworfen, viele Flüchtlinge erst ins Land ge­lockt zu haben. Das ist populistisch.

Nein, das ist die Wahrheit. Natürlich waren die unkontrolliert offenen Grenzen damals ein Anreiz.

Nein, das ist infam.

Ich habe in Flüchtlingsheimen mit Syrern gesprochen, sie waren tief frustriert, weil sie nach Monaten immer noch dort saßen und teilweise noch nicht mal einen Deutschkurs machen konnten. Sie haben mich gefragt: Warum hat Frau Merkel uns eingeladen? Merkel hatte keinen Plan und kein Konzept, das war letztlich schlimmer als nur leichtfertig. Ihre Politik hat viel Unsicherheit und ängste erzeugt und die AfD groß gemacht.

Von den Rechten ist Ihr Satz richtig verstanden worden. „Frau Wagenknecht, kommen Sie zur AfD!“, twitterte André Poggenburg, Wortführer des völkisch ­natio­nalen Flügels.

Sollen wir der AfD die Hoheit über unsere Positionen geben? Alles, wo irgendein Poggenburg aufjodeln könnte, darf nicht mehr gesagt werden, egal, ob es richtig oder falsch ist? Das ist absurd. Wir können doch nicht so tun, als sei es einfach, eine Million Menschen zu integrieren. Wenn wir die Benennung von Problemen der AfD überlassen, dann Gute Nacht!

Mit Ihrer Kritik an Merkel unter­ stellen Sie, es seien zu viele Flücht­linge im Land. Dann müssten Sie konsequenterweise auch sagen, wie viele gehen sollen.

Es geht um die unkontrollierte Grenzöffnung, die in ganz Europa kritisiert wurde. Es gibt in Deutschland ein Grundrecht auf Asyl. Aber es war unverantwortlich, eine Situation zuzulassen, in der wir noch nicht mal mehr wussten, wer ins Land kommt. Und natürlich ist Integration nur möglich, wenn es genügend Arbeitsplätze, genügend Wohnraum gibt. Merkel hat sich um all das kaum gekümmert. Außerdem: Wer trägt die Kosten? Werden sie auf Mittel- und Geringverdiener abgewälzt, führt das zu großer Abwehr, die sich dann von rechts instrumentalisieren lässt.

Ist nach Ihrer Logik Angela Merkel etwa auch für den jüngsten Terroranschlag in Berlin verantwortlich? Der Täter war ein Flüchtling aus Tunesien, der zwar schon im Juli 2015 nach Deutschland kam, aber die überforderung der Behörden infolge des Massenansturms im vergangenen Jahr ausgenutzt hat.

Es gibt eine Mitverantwortung, aber sie ist vielschichtiger. Neben der unkontrollierten Grenzöffnung ist da die kaputtgesparte Polizei, die weder personell noch technisch so ausgestattet ist, wie es der Gefahrenlage angemessen wäre. Ebenso fatal ist die Außenpolitik: die von Merkel unterstützten Ölkriege der USA und ihrer Verbündeten, denen der „Islamische Staat“ erst seine Existenz und Stärke verdankt.

Das klingt nach: Alles hängt mit allem zusammen.

Seit 15 Jahren wird ein sogenannter Krieg gegen den Terror geführt, zuerst in Afghanistan, dann im Irak, in Libyen, in Syrien. Was ist die Bilanz all dieser Kriege, die mittlerweile 1,5 Millionen Menschenleben gekostet haben? Der islamistische Terror ist nicht schwächer, sondern sehr viel stärker geworden. Der IS ist ein Produkt des Irak-Kriegs von Bush und Blair. Und durch die Beteiligung der Bundeswehr an Kriegen in der islamischen Welt sind auch wir zur Zielschreibe des Terrors geworden.

Sie glauben im Ernst, wenn Deutschland sich international raushielte, blieben wir vom Terror verschont?

Glauben Sie im Ernst, wir können dort bomben und morden – denken Sie an Kunduz – und bei uns geschieht nichts?

Bis auf der ganzen Welt Frieden ausgebrochen ist – wohin mit den Flüchtlingen?

Wir dürfen nicht alle über einen Kamm scheren: politisch Verfolgte, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, Menschen, die vor Armut fliehen. Das Asylrecht für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze. Punkt. Aber genauso klar ist, dass Deutschland nicht alle Armen dieser Welt aufnehmen kann. Allerdings könnten wir sehr viel mehr gegen die Armut auf dieser Welt tun.

Im Programm der Linken steht: „Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.“ Das ist also Blödsinn?

Nein, das ist unsere Vision für eine Welt, in der alle Menschen in Wohlstand leben.

Das steht dort aber nicht.

Das ist unser Ziel. Wir müssen die Kriege beenden, vor denen die Menschen fliehen. Wir müssen aufhören, armen Ländern Freihandelsabkommen zu diktieren und dann ihre Wirtschaft mit unseren subventionierten Agrarexporten zu ruinieren. Denn genau das führt vor Ort zu Verzweiflung und Flucht.

Gegen den Euro, gegen Freihandel, für Putin. Wie viel AfD steckt in der Linken?

Ich halte nichts davon, die AfD zum Referenzpunkt zu machen, an dem die Positionen aller anderen gemessen werden. Ich habe den Euro schon kritisiert, da gab es die AfD noch gar nicht. Weil er für so unterschiedliche Volkswirtschaften nicht funktioniert. Für Kooperation mit Russland waren auch Brandt und Kohl: beides AfD-Anhänger? TTIP und Ceta sind Konzernschutzabkommen, die sich gegen die Interessen von Verbrauchern und Beschäftigten richten. Wenn die AfD morgen in ihr Programm schreibt, dass die Sonne im Osten aufgeht, werde ich trotzdem nicht behaupten, der Sonnenaufgang wäre im Westen.

Manchmal reden Sie allerdings wie die Frauke Petry der Linkspartei.

Offenbar kennen Sie die Positionen von Frau Petry nicht: Sozialabbau, Rentenkürzungen, Ja zu Interventionskriegen. Vorurteile ohne Sachkenntnis, das erinnert mich jetzt aber an die AfD.

Die AfD ist erfolgreicher als die Linke. Das muss Sie frustrieren.

Wir stehen in allen Umfragen oberhalb unseres letzten Bundestagsergebnisses. Die AfD hat ein bis zwei Prozentpunkte mehr. Klar finde ich, das ist viel zu viel für diese Truppe. Aber sie kann sich dafür auch bei Journalisten bedanken, die sie unfreiwillig ständig überhöhen. Ich denke, die Menschen werden bald merken, dass von einer starken AfD kein Druck in Richtung einer sozialeren Politik ausgeht. Wer gegen wachsende Ungleichheit, ignorante Wirtschaftseliten und käufliche Politik protestieren will, kann das nur mit der Linken. Denn weniger prekäre Jobs, bessere Renten, eine Wiederherstellung des Sozialstaates haben nur wir im Programm.

Klingt nicht, als wollten Sie regieren.

Doch, weil ich ein sozialeres Land will.

Sie gelten als Gegnerin von Rot­-Rot­-Grün.

Falsch. Ich bin dagegen, nur zu regieren, um an der Macht zu sein. 80 Prozent der Bevölkerung wünschen sich mehr soziale Gerechtigkeit. Wenn wir das in einer Regierung umsetzen könnten, wäre das großartig. Das Problem ist, dass SPD und Grüne an der Zerstörung des Sozialstaates beteiligt waren und etwa die Agenda 2010 bis heute richtig  finden. Die SPD macht seit Jahren Politik gegen die arbeitende Mitte und die ärmeren. Wenn sie das auch die nächsten Jahre fortsetzt, treffen wir uns wohl bald in der Mitte zwischen 10 und 20 Prozent.

Mal angenommen, es reicht nach der Bundestagswahl für ein rot­-rot-grünes Bündnis. Gibt es etwas, was Sie in diesem Land auf gar kei­nen Fall verändern würden, weil es so fantastisch ist?

Endlich mal eine kreative Frage.

Dann antworten Sie mal kreativ.

Manches ist in Deutschland tatsächlich besser als anderswo. Nehmen Sie die Sparkassen, die im Unterschied zur Deutschen Bank noch halbwegs wissen, dass ihr Job darin besteht, Diener der Realwirtschaft zu sein. Oder, was damit zusammenhängt, die vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Die Politik sollte daran arbeiten, deren Bedingungen zu verbessern, statt ihnen das Leben schwer zu machen.

Ist Angela Merkel bei der Bundes­tagswahl überhaupt zu schlagen?

Mit einem glaubwürdigen Hoffnungsträger an der Spitze der SPD wäre das überhaupt kein Problem.

Gabriel kann das nach Ihrer Mei­nung ja nicht sein. Wer dann? Mar­tin Schulz? Olaf Scholz? Ein linker Sozi wie Andrea Nahles?

Na ja, also bei dem Begriff Hoffnungsträger fielen mir jetzt nicht gerade diese Namen ein.

Brauchte es jemanden vom Schla­ge Oskar Lafontaines?

Da erkläre ich mich für befangen.

Das brächte die Linke aber un­heimlich in die Bredouille.

Im Ernst, ein glaubwürdiger Linker an der Spitze der SPD würde uns nicht schaden, im Gegenteil. Bei der Bundestagswahl 1998, als Oskar Lafontaine SPD-Vorsitzender war, hatte die damalige PDS das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Es gab eine linke Hoffnung: dass man mit seiner Stimme die Politik verändern kann. Diese Hoffnung fehlt heute.

Sie lieben Bücher. Haben Sie an­gesichts unserer verrückten Welt eine besondere Leseempfehlung?

Goethes Gedichte. Lesen Sie seine Liebesgedichte. Sie sind eine Hommage an das Wunderbarste und Schönste, was den Menschen zum Menschen macht. Damit tragen sie uns auf ganz unpolitische Weise auf, uns um eine menschlichere Gesellschaft zu kümmern, in der nicht jeder der Konkurrent des anderen ist.

 

Interview: Jens König und Axel Vornbäumen

stern, 05. Januar 2017