Sahra Wagenknecht

»Kapitalismus untergräbt Freiheit und zerstört Demokratie«

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen in der jungen Welt am 14.05.2011

14.05.2011
Interview: Thomas Wagner

Sahra Wagenknecht (geb. 1969 in Jena) ist Publizistin und stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke. Von 2004 bis 2009 war sie Mitglied des Europaparlaments. Seit Oktober 2009 ist sie Abgeordnete des Deutschen Bundestags und wirtschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Sie arbeitet an einer volkswirtschaftlichen Dissertation. In dieser Woche ist ihr neues Buch »Freiheit statt Kapitalismus« im Eichborn-Verlag erschienen.

In Ihrem neuen Buch »Freiheit statt Kapitalismus« ist die Rede von einer echten Demokratie, die erst wieder hergestellt werden müsse. Damit meinen Sie überraschenderweise die alte BRD.

Natürlich war der Radikalenerlaß keine echte Demokratie, sondern das Gegenteil. Andererseits stimmt auch, daß die Politik in der Nachkriegszeit größere Spielräume hatte. Es gab zwar auch in den sechziger und siebziger Jahren eine enge Verflechtung von Konzern- und Bankenmacht, nicht jedoch diese extreme Abhängigkeit und Erpreßbarkeit der Politik, die wir heute haben.

Was meinen Sie, wenn Sie Freiheit und Kapitalismus als Alternative gegenüberstellen?

Der Kapitalismus zerstört elementare Freiheitsrechte. Zur Freiheit gehört, daß man sozial abgesichert ist und über sein Leben selbst bestimmen kann, was Hartz-IV-Empfängern genauso verwehrt ist wie Menschen, die in befristeter Beschäftigung sind oder ständig Überstunden machen müssen. Wirkliche Freiheit kann erst realisiert werden, wenn wir eine sozialistische Wirtschaftsordnung haben.

Von der Planwirtschaft haben Sie sich jedoch verabschiedet.

Die ist sogar in der DDR schon kritisiert worden, etwa im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems der 60er Jahre. Schon damals haben Ökonomen vehement dafür geworben, daß man nur Grundstrategien planen kann. Die Idee, daß man jedes Detail planen könne, wurde als nicht realisierbar verworfen. Man kann in einer hochdifferenzierten Wirtschaft keine zentrale Detailplanung betreiben. Das hat nie funktioniert, und ich glaube, daß das auch nicht funktionieren kann.

Auch nicht auf dem heutigen Stand der Computertechnologie?

Versuchen Sie mal, allein für sich selbst detailliert zu planen, was Sie im nächsten Jahr verbrauchen wollen. Es geht nicht; je mehr Einkommen Sie haben, desto weniger. In einer armen Gesellschaft, wo es erst mal nur darum geht, daß alle Leute satt werden und etwas zum Anziehen haben, kann man planen: Man braucht soundso viel Kartoffeln, so viel Fleisch, Hosen usw. Das sind Quantitäten. In einer Wirtschaft wie der heutigen wollen die Leute nicht bloß eine Jacke kaufen, sondern eine, die ihnen auch gefällt. Außerdem verändern sich die Technologien, und völlig neue Produkte kommen auf den Markt. Ein Sozialismus, der nur den Status quo verplant, würde Kreativität und Erfindungsgeist zerstören. Die brauchen wir aber, nicht zuletzt zur Lösung der ökologischen Frage. Also sind tatsächlich auch Mechanismen wie Markt und Wettbewerb nötig, die dafür sorgen, daß sich die Produkte durchsetzen, die die Leute auch haben wollen, und immer neue, bessere entwickelt werden. Der Irrtum besteht ist ja gerade darin, daß das nur im Kapitalismus funktioniert. Wir brauchen Märkte, keine Kapitalverwertung. Und natürlich muß der Markt begrenzt werden. Bei elementaren Bedürfnissen wie Gesundheit oder Bildung hat er nichts zu suchen.

In Ihrem Buch beziehen Sie sich kaum auf marxistische Autoren. Haben die Ihnen nichts mehr zu sagen?

Sehr viele marxistische Diskurse, auf die man sich beziehen könnte, gibt es aktuell ja leider nicht. Marx hat mir noch sehr viel zu sagen.

Der kommt auch nicht vor

Doch, als Analysemethode. Darin, welche Kategorien für mich die entscheidenden sind, nämlich Kapitalverwertung und Profitrate. Ich leite mit ihrer Hilfe ab, warum der Kapitalismus nicht wieder so produktiv werden wird, wie er in der Nachkriegszeit war. Die Finanzblase, das exorbitante Wachstum des Finanzsektors, hat nicht nur mit falscher oder fehlender Regulierung zu tun, nicht nur mit politischen Prioritäten und Bankenmacht, sondern mit den Zwängen der Kapitalakkumulation.

Sie sagen, daß der heutige Kapitalismus wirtschaftsfeindlich ist.

Er ist nicht mehr produktiv, sondern schmeißt immer mehr Geld für sinnlose Dinge raus, weil das Renditeprinzip die technologische Entwicklung nicht mehr vorantreibt, sondern hemmt. Viele moderne Produktionsverfahren setzen ein sehr hohes Kapitalminimum voraus. Darüber gewinnt der Eigentümer Kapitalmacht, Marktmacht und also auch die Macht zum Technologie-Konservatismus. Im Energiebereich ist das einleuchtend. Daß die auch unter Kostengesichtspunkten nie überlegene Atomenergie bis heute existiert, hat etwas mit ökonomischer Macht zu tun. Aber auch in der Autoproduktion oder der chemischen Industrie werden Verfahren konserviert, die ökologisch fatal sind, nur weil sonst Milliarden an Kapital, die in den Produktionsanlagen stecken, entwertet würden. Die »kreative Zerstörung« wie Schumpeter das nannte, also daß ein Neuneinsteiger mit einer besseren Idee die alten Platzhirsche vom Markt drängt, funktioniert in solchen Märkten schon lange nicht mehr. Wir brauchen deshalb andere Eigentumsverhältnisse, damit die Wirtschaft nicht mehr dem Diktat maximaler Rendite unterworfen ist, sondern andere Prioritäten durchgesetzt werden können.

Wie sollen die neuen Eigentumsverhältnisse denn organisiert werden?

Ganz anders als früher. In der DDR etwa gab es in den Kernbereichen zwar kein kapitalistisches Eigentum mehr, aber dieses überwiegend staatliche Eigentum wurde nicht so organisiert, daß es Produktivität und Kreativität stimuliert hätte. Es geht also darum, gesellschaftliches Eigentum – das kann öffentliches oder Belegschaftseigentum sein – so zu organisieren, daß die Wirtschaft technologisch innovativ ist und ökologisch nachhaltig produziert.

Und wie geht das?

Indem man Strukturen schafft, die die Anreize in diese Richtung setzen. Bei öffentlichen Unternehmen ist das relativ einfach, da kann man ja als Staat die Kriterien setzen. Wenn die Bezahlung der Leitungsebene sich an der Zahl der Arbeitsplätze und der Entwicklung der unteren Lohngruppen orientiert, folgen daraus komplett andere Prioritäten der Unternehmensführung als in kapitalistischen Firmen. Natürlich funktioniert das nur, wenn auch das kapitalistische Eigentum überwunden ist. Öffentliche Versorger waren früher auch in Frankreich oder Österreich nicht darauf aus, maximale Rendite zu machen, einfach, weil das Management nicht daran, sondern am Versorgungsauftrag gemessen wurde. Das müßte heute noch durch ökologische Kriterien ergänzt werden. Letztlich verhalten sich Menschen immer so, wie die Anreize sind, die man ihnen setzt. Wenn man einen Manager besonders gut bezahlt, wenn er maximale Renditen bringt, dann wird er sich anders verhalten, als wenn er an der Umweltverträglichkeit seiner Produkte gemessen wird. Wenn Unternehmen in Belegschaftshand übergehen, ist zum Beispiel kein Anreiz mehr da, Produktionsstätten zu verlagern oder auf Billigjobs und Leiharbeit zu setzen. Eine ökologische Orientierung allerdings ist nicht automatisch gegeben.

Sie stützen sich auf eine Terminologie, die eher aus dem heutigen Wirtschaftsdenken stammt, wenn Sie etwa einen Begriff wie Anreiz verwenden. Wie begreifen Sie das Verhältnis von Wirtschaft und Demokratie?

Der Kapitalismus untergräbt die Freiheit und zerstört die Demokratie. Ordoliberale wie Walter Eucken, also Leute, die eigentlich als Ideologen des Kapitalismus gehandelt werden, haben dieses Problem schon früh thematisiert. Wir haben heute eine derart hochkonzentrierte Wirtschaft, daß es keine unabhängige Regierungspolitik mehr gibt. Die Politik ist gekauft. Forderungen nach dem Verbot von Parteispenden, einem Lobbyregister und Ähnlichem sind richtig, packen das Problem aber nicht an der Wurzel. Die besteht darin, daß eine Handvoll Familien die Macht besitzt, über die Entwicklung ganzer Branchen und Millionen Arbeitsplätze zu entscheiden. Solange diese Konzentration von Wirtschaftsmacht existiert, wird es keine unabhängige Politik geben. Das erleben wir bei der Finanzmarktregulierung, bei der Energiepolitik, überall. Das wird so lange bleiben, solange die Grundlage dieser Macht fortexistiert: das private Eigentum an großen Wirtschaftsgütern.

Die Ordoliberalen formulierten ihre Position als Antwort auf eine von ihnen so gesehene Bedrohung von Links, die sogenannte bolschewistische Gefahr. Diesen Kontext klammern Sie aus.

Ich finde interessant, was die wirklich gesagt haben und ob die heutige Regierungspolitik ein Recht hat, sich auf diese Tradition zu berufen. Sie hat es nicht. Und zumindest einem Teil der Ordoliberalen sollte man auch abnehmen, daß sie ein Modell entwickeln wollten, mit dem sich nicht wiederholt, was die europäische und besonders die deutsche Geschichte in den Jahrzehnten zuvor gekennzeichnet hatte: Weltwirtschaftskrise, Hunger, faschistische Diktatur und Krieg. Natürlich waren das zugleich überzeugte Antikommunisten. Aber das Spannende ist ja, daß sie trotzdem Überlegungen angestellt haben, die, zu Ende gedacht, in unsere Richtung führen. Ich plädiere ja nicht dafür, jetzt das ordoliberale Ideal zu verwirklichen. Das geht schon deshalb nicht, weil sie keine wirkliche Antwort auf die Frage nach den Eigentumsverhältnissen in jenen Bereichen gegeben haben, in denen das Kapitalminimum sehr hoch ist. Eine Wirtschaft, in der nur kleine und mittlere Unternehmen existieren, ist heute völlig unrealistisch. Es gibt Bereiche, in denen die Technologie eine bestimmte Betriebsgröße einfach voraussetzt. An dieser Stelle geht es um die Eigentumsfrage.

Ich störe mich gar nicht daran, daß Sie einzelne Gedanken aufgreifen. Aber wenn beispielsweise ein Alexander Rüstow lange vor Ernst Nolte und Peter Sloterdijk den Bolschewismus für den Faschismus verantwortlich macht und die Sowjetunion lange vor Ronald Reagan als Reich des Bösen brandmarkt, dann muß darüber doch reflektiert werden.

Ja, wenn man ein Buch über Rüstow schreibt. Aber nicht, wenn man ein Buch über eine neue Wirtschaftsordnung schreibt und sich ansieht, welche Traditionen und Gedankengänge dafür produktiv gemacht werden können. Und wenn es darum geht, der heutigen Politik ihre Selbstlegitimation zu entziehen. Der Ordoliberalismus ist für Leute wie Rainer Brüderle, der bis diese Woche Wirtschaftsminister war und nun die FDP-Fraktion leitet, sowas wie eine Bibel. Brüderle macht aber eine Politik, die dessen Zielen komplett entgegensteht. Wenn man heute Sozialismus fordert, dann kann das breiter fundiert werden, als viele meinen, nämlich auch mit Gedanken aus dieser ordoliberalen Tradition.

Die in der Frühphase der BRD ein attraktives ideologisches Angebot an die ökonomisch Mächtigen war, die ihr Eigentum durch eine tatsächliche Arbeitermacht in einem sozialistischen Staat bedroht sahen. Heute fehlt diese Gegenmacht, und die Herrschenden können ganz gut ohne eine Theorie des Dritten Weges auskommen, wie Sie sie auf eine intellektuell beeindruckende Weise weiterentwickeln. Deswegen meine Frage: Was würde Lenin dazu sagen?

Ich plädiere nicht dafür, die soziale Marktwirtschaft in diesem tradierten Modell einfach neu aufzulegen.

Aber wie kommt man vom Jetztzustand zu einem Sozialismus, wie Sie ihn sich vorstellen?

Nur über breite Kämpfe und Auseinandersetzungen. Ohne eine Massenbewegung und ohne Menschen, die das Mittel des Arbeitskampfs und das Mittel des politischen Streiks für solche Ziele einsetzen, wird so eine Veränderung nicht möglich sein. Natürlich kann man jetzt sagen: Das ist ja völlig utopisch. Andererseits war es in der Geschichte oft so, daß Bewegungen plötzlich entstehen, obwohl es kurz zuvor noch völlig hoffnungslos aussah. Als in Lateinamerika der Aufbruch begann mit Venezuela, Bolivien und anderen Ländern, hatte sich das vorher auch kaum angekündigt.

Ich habe den Eindruck, daß Ihr Buch eigentlich zu früh und zudem aus der falschen politischen Richtung kommt. Ich meine das so: Wenn es ein Heiner Geißler geschrieben hätte, um damit der Revolution und der Einführung der Planwirtschaft durch eine in harten Kämpfen erstarkte Arbeiterbewegung etwas Kluges entgegenzusetzen. Dann wäre es ein interessanter Vermittlungsversuch, ein Kompromißangebot für einen gemeinsamen Block von kleinen bis mittleren Unternehmern, die vom Privateigentum so viel zu retten versuchen wie nur möglich, und den abhängig Beschäftigten, die eine Verhandlungslösung anstreben.

Was die Eigentümer erschreckt, ist ja nicht die Planwirtschaft, sondern die Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Insofern ist das von mir vertretene Modell natürlich kein Kompromiß, sondern ein Angriff, der viel gefährlicher ist als eine Planwirtschaft, die sich dadurch diskreditiert hat, daß sie bestimmte Aufgaben nicht lösen konnte. Ich glaube nicht, daß sie jemals wieder Menschen begeistern kann. Da kommen sofort die auch begründbaren Vorbehalte, daß das nicht funktioniert und man am Ende womöglich noch jene materielle Lebensqualität einbüßt, die man heute hat. Ein Sozialismus, der dasjenige aufgreift, was man am Kapitalismus positiv bewertet, nämlich die Förderung von Produktivität und technologischer Entwicklung, ist viel gefährlicher. Ich will eine Diskussion darüber anstoßen, wie eine andere Wirtschaftsordnung funktionieren kann. Als Linke müssen wir doch ein Sozialismus-Modell entwickeln, das Menschen anzieht und überzeugt.

Die Sprache, die Sie in Ihrem Buch benutzen, richtet sich eher an ein bürgerliches Publikum als an Linke.

Linke muß ich ja nicht überzeugen, daß eine Alternative zum Kapitalismus möglich ist. Man darf nicht unterschätzen, wie stark das, was wir bürgerliches Denken nennen, auch das Denken der meisten abhängig Beschäftigten ist. Wenn ich eine originär marxistische Terminologie verwende, versteht mich selbst auf einer Gewerkschaftsversammlung schon nur noch ein Bruchteil. Das Buch ist der Versuch, an Denkmuster anzuknüpfen, die sehr verbreitet sind, und sie so auf dem Weg zum Sozialismus mitzunehmen. Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man andere Bücher schreiben, weil die marxistische Terminologie zumindest im Milieu der organisierten Arbeiterschaft lebendig war. Das ist leider heute anders. Heute gibt es ein verbreitetes Unbehagen am Kapitalismus. Gleichzeitig sind Begriffe wie Leistung und Wettbewerb positiv besetzt, was ja auch nicht falsch ist. Man darf der bürgerlichen Seite nicht Begriffe überlassen, auf die sie gar keinen Anspruch hat. Auf vielen Märkten findet heute kein produktiver Wettbewerb mehr statt, sondern ein Dumpingwettlauf. Und eine Leistungsgesellschaft war der Kapitalismus noch nie.

Wenn Ihre Diagnose stimmt, daß sich das bürgerliche Bewußtsein längst in den Bereichen der abhängig Beschäftigten durchgesetzt hat, stellt sich doch noch mehr die Frage, ob es nicht besser wäre, den Leuten erst einmal dabei zu helfen, ihre Klassenlage zu erkennen, als auf dem bürgerlichen Klavier eine eigene Melodie zu spielen. Man muß doch an die adressieren, die tatsächlich der Motor oder die treibende materielle Kraft einer Veränderung sein können. Möglicherweise fühlen sich von ihrem Buch mehr die kleinen Unternehmer angesprochen als die für sie Arbeitenden.

Die Idee eines Belegschaftsunternehmens ist für die heutigen Eigentümer sicher nicht so attraktiv. Aber richtig ist: Kleine und mittlere Unternehmer sind nicht meine Gegner. Es wäre gar nicht so schlecht, sie zu gewinnen, es ist nur sehr schwer.

Mir geht es hier weniger um die von Ihnen gemachten Vorschläge als um die Richtung der Ansprache. Sie versuchen als linke Intellektuelle, einen Gesellschaftsentwurf ins Gespräch zu bringen, der den abhängig Beschäftigten zwar zugute kommen soll, sprechen andererseits aber kleine Unternehmer an, denen Sie die Angst vor dem Sozialismus durch die Ankündigung großzügiger Erbschaftssteuerfreibeträge zu nehmen versuchen.

Ein Freibetrag von einer Million Euro mag großzügig klingen, aber die wirklich Reichen und Mächtigen liegen weit darüber. Und da plädiere ich für eine Erbschaftssteuer von 100 Prozent. Sozialismus richtet sich nicht gegen kleine und mittlere Unternehmer. Privates Eigentum in diesem Bereich ist weder mit Wirtschaftsmacht verbunden noch erpreßt es die Staaten. Politik kann Klein- und Mittelbetriebe durch entsprechende Gesetze problemlos zu sozialem Verhalten zwingen. Es gibt tatsächlich nur eine Gruppe, die in dem von mir vorgeschlagenen Modell verliert: Das sind die, die heute die Kernbereiche der Wirtschaft steuern, die »oberen Zehntausend«. Alle anderen würden gewinnen.

Was von Ihrem Modell zunächst einmal unberührt bliebe, wären aber jene Herrschaftsverhältnisse, die auch in kleinen Unternehmen vorzufinden sind.

Oberhalb der Millionengrenze geht ein Teil des Eigentums an die Belegschaft bzw. die öffentliche Hand über. Das würde die Machtverhältnisse in allen nicht ganz kleinen Unternehmen verändern. Im heutigen Kapitalismus sind auch Mittelständler insofern problematisch, als sie unter dem Konkurrenzdruck das ausnutzen, was die Politik ihnen möglich macht. Wenn die Politik Tür und Tor für Hungerlöhne öffnet, sind kleinere Firmen oft die ersten, die solche zahlen. Aber sie können die Politik nicht dazu erpressen, Hungerlöhne zu ermöglichen. Das ist der Unterschied. Ich fände es falsch zu sagen: Überall, wo es einen Privateigentümer gibt, ist da ein Kapitalist, und das muß alles enteignet werden. Selbst die DDR hatte bis zum Beginn der Siebziger einen relativ breiten privaten Sektor, und es war ganz sicher kein Fortschritt, als der dann auch noch verstaatlicht wurde.

Eine Fraktionskollegin von Ihnen, Ulla Jelpke, hat vor kurzem in dieser Zeitung gefordert: »Enteignet Springer!«

Ja klar, das fordere ich in meinem Buch auch. Große Medienkonzerne dürfen nicht in Privateigentum sein. Das müßte im Grundgesetz festgeschrieben werden. Ich finde es ein Unding, daß Medienmacht erbliches Eigentum von Familien ist. Das hat mit Demokratie überhaupt nichts zu tun.

Ausgewählte Buchveröffentlichungen von Sahra Wagenknecht

– Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2011

– Wahnsinn mit Methode – Finanzkrise und Weltwirtschaft, Berlin 2008

– Armut und Reichtum heute, Berlin 2007

– Aló Presidente. Hugo Chávez und Venezuelas Zukunft, Berlin 2004

– Kapitalismus im Koma. Eine sozialistische Diagnose, Berlin 2003

– Vorwärts und vergessen? Ein Streit um Marx, Lenin, Ulbricht und die verzweifelte Aktualität des Kommunismus, Hamburg 1996