Sahra Wagenknecht

"Zeugt nicht von politischer Kultur"

Sahra Wagenknecht im Interview mit der WELT, erschienen am 11.11.2017

11.11.2017
Interview: Marcel Leubecher und Tobias Heimbach

Wegen fortwährender Kritik der Parteispitze trat am Freitag Linke-Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn zurück. Mit der WELT sprach die Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Sahra Wagenknecht, über den Streit in ihrer Partei und deren künftigen Kurs.

WELT: Frau Wagenknecht, der Fiskus holt sich von vielen Konzerngewinnen noch weniger Prozente, als die Linkspartei in Bayern. Wie würden Sie den Steuervermeidern das Handwerk legen?

Wagenknecht: Ich finde es unerträglich, dass der Gesetzgeber seit Jahren zuschaut, wie ausgerechnet die reichsten Privatpersonen und die größten Unternehmen sich um ihre Verpflichtungen für das Gemeinwesen drücken. Der eigentliche Skandal ist doch, dass wir hier zum großen Teil nicht über kriminelle Steuerhinterziehung reden, sondern die Gesetze exakt so gemacht sind, dass Konzerne und Superreiche die Allgemeinheit ganz legal um Milliarden prellen können. Eine Lösung wäre, dass Patent- und Lizenzgebühren, die in Steueroasen fließen, in Deutschland nicht mehr vom Gewinn absetzbar wären. Eine bessere Variante wäre eine generelle Quellensteuer auf Finanzflüsse in Steueroasen. Das wäre alles möglich, dafür braucht Deutschland weder die Zustimmung Irlands noch der EU-Kommission. Wenn trotzdem nichts geschieht, gibt es nur eine Erklärung: auch die deutsche Regierung steckt mit den Steuervermeidern unter einer Decke.

WELT: Der geschäftsführende Finanzminister Peter Atmaier hätte sich dann aber recht schnell unter der Decke weggerollt, sein Ministerium denkt genau über so eine Mindeststeuer auf Lizenzeinnahmen nach.

Wagenknecht: Naja, das Nachdenken dauert schon ziemlich lange... Immer, wenn der Skandal in die Medien kommt, werden große Programme entworfen, die dann wieder in den Schubladen verschwinden. Ja, es gibt Planungen für eine Lizenzschranke, aber einiges spricht dafür, dass die einschlägigen Interessenverbände die Möglichkeiten zur Umgehung des Gesetzes schon wieder mitverankert haben.

WELT: Die transnationalen Konzerne könnten dann ausweichen, indem sie über andere konzerninterne Gebühren Gewinne in die Steueroasen abzusaugen?

Wagenknecht: Ja, deswegen spricht vieles dafür, Quellensteuern zu erheben. Weil es da keine Umgehungsmöglichkeit gibt. Das bedeutet ja einfach, dass Einkommen, die in Steueroasen fließen, an der Quelle, also dort wo sie entstehen, mit einer entsprechenden Steuer belastet werden. Wir müssen uns allerdings immer wieder bewusst machen: Die schlimmsten Steueroasen sind nicht auf den Bahamas, sondern mitten in der EU.

WELT: Haben solche Enthüllungen, wie zuletzt zu Nike, Einfluss auf Ihr Kaufverhalten? Würden Sie sich demnächst Nike-Turnschuhe kaufen?

Wagenknecht: Wenn man danach ginge, dürfte man definitiv bei Starbucks keinen Kaffee mehr kaufen und bei Amazon sowieso gar nichts mehr bestellen. Das würde funktionieren, wenn die Steuerpreller wenige schwarze Schafe wären. Aber in der Herde der transnationalen Konzerne gibt es wohl kein einziges weißes Schaf. Sie machen das alle, wenn auch mit unterschiedlicher Aggressivität. Nur Mittelständler und Kleinunternehmen haben diese Möglichkeiten nicht. Das zeigt: es geht nicht nur um Steuerausfälle, es geht auch um Wettbewerbsverzerrung. Wir mästen die Größten der Großen und machen sie dadurch noch größer und mächtiger.

WELT: So wie viele transnationale Konzerne sich selbst aussuchen, wo sie Gewinnsteuern zahlen, stellt Ihre Partei sich das bei der Migration vor. Ist Ihre Forderung nach offenen Grenzen für alle Menschen noch zeitgemäß, nachdem das Land einmal ganz kurz erleben durfte, was das bedeutet?

Wagenknecht: Zum Glück stellen wir eine solche Forderung nicht...

WELT: …doch, sie steht wörtlich so in Ihrem vom Parteitag beschlossenen Programm.

Wagenknecht: Ich habe immer darauf hingewiesen, dass das eine Zukunftsvision ist und keine Forderung für die heutige Welt. Was wir heute brauchen, sind nicht offene Grenzen für alle, sondern ernsthafte Bemühungen um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, statt zuzuschauen, wie unsere Konzerne arme Länder regelrecht ausplündern und ihnen mit internationalen Verträgen auch noch Rückendeckung zu geben. Wir müssen uns um ein Ende von Kriegen bemühen, statt sie mit Waffenexporten zu munitionieren und glänzend daran zu verdienen. Die konzerngesteuerte Globalisierung produziert in armen und reichen Staaten sehr viele Verlierer. Die Ungleichheit wächst, weil die Staaten ihre Gestaltungshoheit an die Konzerne abgegeben haben, die immer dahin gehen, wo sie die geringsten Steuern und die niedrigsten Löhne zahlen. Jetzt wollen sie auch noch in größerem Umfang als bisher billige Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt rekrutieren. Deshalb trommeln sie für ein Einwanderungsgesetz, es soll den Druck auf die Löhne weiter verstärken...

WELT: Die ausländischen Arbeitnehmer kommen doch freiwillig zu uns…

Wagenknecht: Es vergrößert die Armut in den Entwicklungsländern, wenn wir ihnen qualifizierte Fachkräfte abwerben, die sie selbst dringend brauchen. Wieso kann ein reiches Land wie Deutschland nicht seine Fachkräfte selbst ausbilden? Jeder weiß, bei uns fehlen Ärzte. Es gibt im Medizinstudium jedes Jahr 43.000 Bewerbungen, von denen wegen des Numerus Clausus allerdings nur  9000 einen Studienplatz bekommen. Um die Versorgungslücke zu schließen, holen wir uns dann Ärzte aus dem Irak, Syrien, dem Niger oder anderen armen Ländern – zynischer geht’s nicht. 

WELT: Müssen die Anhänger einer sehr liberalen Migrationspolitik in Ihrer Partei von ihren drei radikalsten Forderungen Abstand nehmen: Offene Grenzen für alle Menschen, Bleiberecht für alle, Visa für alle? 

Wagenknecht: Es geht nicht darum, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle leben können, sondern um eine vernünftige und realitätstaugliche Position. Für Linke ist klar: Politisch Verfolgte müssen Asyl in der EU bekommen. Inzwischen ist das teilweise nicht mehr gewährleistet. Außerdem gilt die Genfer Flüchtlingskonvention. Aber wirtschaftlich motivierte Migration muss verhindert werden, und zwar dadurch, dass die Menschen zuhause wieder eine Perspektive bekommen. Solange wir allerdings die bisherige Politik fortsetzen und etwa Diktaturen wie Saudi-Arabien dabei unterstützen, im Jemen eine humanitäre Katastrophe anzurichten, ist das Gerede über die Bekämpfung von Fluchtursachen pure Heuchelei. 

WELT: Katja Kippings Konzept für ein Einwanderungsgesetz würde allen die Einwanderung ermöglichen, die in Deutschland einen „sozialen Ankerpunkt“ haben, was auch ein Chor oder eine Fußballmannschaft sein kann. Was halten Sie davon?

Wagenknecht: Ich finde, Linke sollten sich bemühen, seriöse Vorschläge zu machen. Seriös ist es, sich für ein Ende der Waffenexporte in Spannungsgebiete und ein Ende der Ausplünderung armer Länder einzusetzen. Linke Politik heißt, sich für Solidarität mit den Ärmsten zu engagieren, aber die leben in ihren Heimatländern, weil sie sowieso keine Chance haben, je nach Europa zu kommen.

WELT: Einig ist sie die Linke darin, die Nato auflösen, die macht gerade das Gegenteil, halten Sie es für klug, auf Putin-Russland mit Abrüstung zu reagieren?

Wagenknecht: Wir wollen die Nato nicht auflösen, sondern durch ein defensives Verteidigungsbündnis ersetzen, in dem Russland ebenso Mitglied ist wie die USA. Die Strategie der Nato in den letzten Jahren hat die Welt nicht sicherer gemacht. Kriege von NATO-Staaten haben den Nahen und Mittleren destabilisiert und die Konfrontation gegenüber Russland löst kein einziges Problem. Im Gegenteil, mit den Truppenstationierungen in Osteuropa, den Manövern und der massiven Aufrüstung wächst die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes – und sei es durch ein Missverständnis. Wir sollten nicht vergessen: Russland stand einst mit seinen Truppen in ganz Osteuropa, es hat sie freiwillig abgezogen. Niemand hätte sie dazu zwingen können. Die Antwort der NATO auf diese Geste war, sich bis an die russische Grenze auszudehnen... 

WELT: Aber die osteuropäischen Staaten wollten doch freiwillig der Nato beitreten – aus Angst vor Russland.

Wagenknecht: Natürlich gibt es in Osteuropa berechtigte Ängste, aber die gibt es ebenso in Russland, das in seiner Geschichte immer wieder von europäischen Mächten überfallen wurde. Am schlimmsten und mörderischsten von Hitlerdeutschland. Zu behaupten, Putin könnte mal eben das Baltikum angreifen, ist absurd. Beide Seiten wissen, dass ein solcher Angriff einen Atomkrieg zur Folge hätte, der von Russland und Europa kaum etwas übrigließe. Man kann Putin manches vorwerfen, aber ein unzurechnungsfähiger Selbstmörder ist er nicht. Es war eine gute Tradition der deutschen Außenpolitik von Brandt über Schmidt und Kohl bis Schröder, sich um ein gutes Verhältnis zu Russland zu bemühen. Erst Frau Merkel hat sich von Washington in eine Konfrontation hineintreiben lassen, die unserer Wirtschaft schadet und unsere Sicherheit gefährdet.

WELT:Steht hinter dem Rücktritt von Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn ein Versuch der Parteispitze, ihre Einflusssphäre auszudehnen?

Wagenknecht: Wer einem Wahlkampfleiter vorwirft, dass er mit den Spitzenkandidaten gut zusammenarbeitet, der hat nicht verstanden, worum es im Wahlkampf geht. Ich bedaure diesen Rückzug. 

Welt: Höhn wurde wohl vorgeworfen, dass er sich im Konflikt mit Ihnen nicht klarer auf die Seite der Parteivorsitzenden geschlagen hat...

Wagenknecht: Wenn es stimmt, dass er deswegen zum Rücktritt gedrängt wurde, zeugt das nicht von politischer Kultur.

Welt: Haben Bernd Riexinger und Katja Kipping den Bundesgeschäftsführer rausgeekelt?

Wagenknecht: Ich bin nicht Mitglied in den entsprechenden Gremien, aber wenn man die Artikel darüber liest, kann man zu einem solchen Schluss kommen.