Sahra Wagenknecht

Es geht uns alle an!

Kommentar von Sahra Wagenknecht in der Zeitung "junge welt" vom 14.11.12

14.11.2012

Gastkommentar. Streik für ein anderes Europa
In ganz Europa gibt es heute Streiks und Demonstrationen. Die Menschen protestieren gegen eine Politik, die Billionen Euro für die Rettung von Banken mobilisieren konnte und dieses Geld nun über brutale Kürzungen bei den Beschäftigten, Erwerbslosen und Rentnern wieder eintreiben will. Sie streiken für Arbeitsplätze, für Demokratie und die Verteidigung des Sozialstaats.

Was derzeit in Südeuropa passiert, geht uns alle an. Insbesondere Griechenland wird als Versuchskaninchen benutzt, um auszutesten, wie weit man bei der Zerstörung sozialer und demokratischer Rechte gehen kann. Und was dort gemacht wird, geht brutal weit: Kürzung der Renten und Löhne um ein Drittel und mehr, Sechstagewoche und Rente erst mit 67, Vernichtung von Hunderttausenden Arbeitsplätzen bei Halbierung der Abfindungszahlungen, Reduzierung der Gesundheitsausgaben um zwölf Prozent jährlich, Entmachtung der Gewerkschaften durch Vorrang betrieblicher Tarifvereinbarungen, Schleifung des Kündigungsschutzes und Förderung prekärer Beschäftigung, Anhebung der Mehrwertsteuer um vier Prozentpunkte und Erhöhung weiterer Verbrauchssteuern um 33 Prozent – diese und weitere Maßnahmen haben der griechischen Wirtschaft das Rückgrat gebrochen und zu einer humanitären Katastrophe geführt. Es glaubt niemand mehr ernsthaft, daß Griechenland seine Verschuldungsquote aus eigener Kraft bis zum Jahr 2020 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung drücken kann. Doch Schäuble und Merkel wollen die Öffentlichkeit für dumm verkaufen. Dabei ist auch ihnen klar, daß Athen weitere Schuldenerlasse braucht und auf die deutschen Steuerzahler Milliardenverluste zukommen. Doch das will man erst nach der nächsten Wahl zugeben.

Die als Euro-Rettung getarnte Bankenrettungspolitik kostet die Allgemeinheit zig Milliarden Euro – und sie kostet die Zukunft der jungen Generation in Südeuropa. Der Schaden, der Ländern wie Griechenland oder Portugal derzeit zugefügt wird, läßt sich kaum beheben. Der Verlust für die öffentlichen Haushalte kann nur noch begrenzt werden, wenn Banken, Hedgefonds und sonstige private Gläubiger sofort zum Verzicht auf jeden Cent ihrer restlichen Forderungen gezwungen werden.

Die Politik, die zur Krise geführt hat, muß radikal geändert werden. Notwendig ist ein sofortiger Stopp des Sozialkahlschlags und die Einführung einer europaweiten Vermögensabgabe zur Senkung der Staatsschulden. Die Finanzierung der öffentlichen Haushalte muß von der Diktatur der Finanzmärkte befreit werden. Die privaten Großbanken müssen vergesellschaftet und die gesamte Finanzbranche muß strengstens reguliert werden. Die Agenda 2010 muß zurückgenommen und das Lohn- und Steuerdumping beendet werden. Natürlich werden diese Ziele ohne Druck von unten nicht erreichbar sein. Ein soziales Europa kann es nur geben, wenn es von einer starken Protest- und Streikbewegung erkämpft wird.

Unsere Autorin ist Erste Stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag