Sahra Wagenknecht

Weniger Wissen ist mehr

Rezension des Buchs "Die Bildungshochstapler" von Thomas Städtler, erschienen in der "jungen Welt" am 22.11.2010

22.11.2010
Sahra Wagenknecht

Warum ich die Besprechung dieses Bildungsbuches vorlege? Nun, einmal ganz abgesehen davon, daß mir der geistreiche Aphorismen-Band desselben Autors »Der Sozialismus glaubt an das Gute, der Kapitalismus an den Bonus« bekannt ist, verkörpert dieses Buch etwas, das man als »gutbürgerliche Radikalität« bezeichnen könnte. Eine Radikalität, die mit unerbittlicher Konsequenz die Schwachstellen des heutigen Bildungssystems herausarbeitet. Es ist auch eine Radikalität, die ganz sicher zu einer viel gerechteren Verteilung der Bildungschancen führen wird.

Thomas Städtler beginnt an dem simpelsten Ausgangspunkt, einem, der uns allen vertraut ist: Kurz nach den Prüfungen wird so gut wie alles vom Stoff wieder vergessen, weil man für die nächste Prüfung lernen muß. Insbesondere im Gymnasium ist die Stoffmasse so ungeheuerlich, daß gerade das Elementare und Fundamentale, also das wichtige Wissen, darunter förmlich zerquetscht wird. Wir alle haben das immer geahnt, dennoch ist dies das bestgehütete, meistverdrängte Geheimnis der Schule, da ist dem Autor zuzustimmen. Wer es nicht glaubt, der wird sich durch die »Bildungsreise« überzeugen lassen, die der Verfasser durch zehn Schulfächer unternimmt. Überall spürt er dem nach, was er »EF-Defizite« nennt, also Defizite im Bereich des Eund F. Diese zehn Kapitel sind also eine Art »Quiz«, aber eines, das nichts mit den unsäglichen Fernsehratesendungen zu tun hat, sondern eines, das in größte Bildungstiefen führt, obgleich und weil es sich nur auf die genannten »EF-Defizite« konzentriert. Jeder Leser, auch jeder Akademiker und jeder Wissenschaftler, wird verblüfft sein, wie wenig er von diesem elementaren und fundamentalen Wissen noch »drauf hat«.

Städtler vollzieht – und dies ist Bestandteil seiner Radikalität – eine Art »Kopernikanische Wende«: Nicht länger soll die Idee eines Bildungsmaximums, das sich auf träumerische Weise immer höher schraubt, im Mittelpunkt der Bildungstheorien und der Schulpraxis stehen, nein, die Idee des Bildungsminimums soll künftig an dessen Stelle treten. Und alle Theoretiker und Praktiker würden dann, so der Autor, feststellen, daß es viel schwieriger ist, ein sinnvolles Bildungsminimum festzumachen, als über absurde Bildungsmaxima zu schwadronieren.

Im Kern kann man dann seine Logik mathematisch ganz einfach wie folgt formulieren: Gegenwärtig wird höchstens ein Prozent des in den Lehrplänen angelegten Stoffes dauerhaft vermittelt (der Verfasser geht weiter: kein einziger Kerngedanke irgendeines Wissenschaftsgebietes werde wirklich verstanden). Dann lassen wir doch gleich 90 Prozent des Stoffes weg und konzentrieren uns auf das wirklich wichtige Wissen, und dann können wir vielleicht sechs bis neun Prozent, also sechs- bis neunmal mehr als bisher, dauerhaft vermitteln. Sein Lösungsmodell besteht also schlicht darin, realistische Lernziele an die Stelle der bisherigen unrealistischen treten zu lassen.

Das Buch ist letzlich nur dialektisch zu verstehen: der Autor nimmt den Kampfbegriff »Effizienz« der Neoliberalen auf, er mißt die Schule an diesem Leitmotiv, und er konstatiert ihr Versagen. Andererseits will er mit diesem Zugang den falschen Leistungsdruck auf Schüler und Lehrer abschaffen. Ebenso dialektisch: Das Effizienz-Motiv wird nicht zum Elitegeschwätz verwendet, sondern zur Absicherung »nach unten«: Niemand darf mehr aus dem System fallen. Und das Buch ist auch in anderer Hinsicht »dialektisch«: Es stellt einerseits durchaus hohe Ansprüche an den Leser, wie es andererseits spannend und amüsant zu lesen ist

Insgesamt: Ein brillant geschriebenes Buch, das nicht nur eine tiefschürfende Analyse unseres Bildungssystems beinhaltet, sondern auch eine ganz eigene Art von Bildungsbuch darstellt, eine ganz fundamentale Alternative zu dem Bestseller von Schwanitz' »Bildung. Alles was man wissen muß«. Denn jeder Leser wird in jedem der zehn Kapiteln zu den einzelnen Schulfächern von der Art verblüfft werden, wie der Autor den schulischen Lehrstoff präsentiert: in einer gewissermaßen invertierten Weise, nämlich in Form typischer Wissensdefizite. Auch hier vollzieht er eine »Kopernikanische Wende«: Erst wenn wir die typischen Bildungsdefizite unserer angeblichen Wissensgesellschaft verstehen, erst dann können wir dem Begriff Bildung einen sinnvollen und neuen Inhalt geben. Dem Verfasser ist tatsächlich das gelungen, was er vorhatte: die Bildungsdiskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen!

Thomas Städtler: Die Bildungshochstapler - Warum unsere Lehrpläne um 90 Prozent gekürzt werden müssen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010, 524 Seiten, 29,90 Euro