Sahra Wagenknecht

"Ich will Ludwig Erhard zu Ende denken"

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 15.05.2011

16.05.2011
Das Gespräch führten Hendrik Ankenbrand und Ralph Bollmann.

Die Ex-Kommunistin Sahra Wagenknecht über ihre neue Liebe zur Marktwirtschaft, die Vorzüge der alten BRD und Goethes Sozialismus

Frau Wagenknecht, in Ihrem neuen Buch fordern Sie weniger Umverteilung und mehr Wettbewerb. Sind Sie noch Sozialistin?

Sozialist sein heißt ja nicht, Märkte zu verdammen und einer zentralen Planwirtschaft anzuhängen, sondern überzeugende Alternativen zum Kapitalismus zu entwickeln. Es geht um viel mehr als um Umverteilung, wir müssen wieder produktiver, innovativer und kreativer werden.

Ein Lob dem Markt? Sind Sie die rote Sahra?

Die Frage ist doch: Was setzt man der Renditejagd im Kapitalismus entgegen? Ich möchte etwas entgegensetzen, was wirklich besser ist. Und nichts, was ideologisch vielleicht reiner klingt, aber am Ende niemanden überzeugt - weil man berechtigt sagt: Planwirtschaft funktioniert doch nicht.

Treten Sie jetzt bald der FDP bei?

Die FDP ist nicht die Partei von Wettbewerb und Leistung, sondern eher die der Oligopole und Vermögenserben. Ich will einen Sozialismus, der geballte private Wirtschaftsmacht unterbindet. Sie kommen zu spät. In der Finanzkrise war die Kritik am Kapitalismus mehrheitsfähig. Doch jetzt haben wir Aufschwung. Der Kapitalismus ist durch den Autschwung nicht akzeptabler geworden. Er ist immer weniger innovativ und löst keines der sozialen und ökologischen Probleme. Viele Menschen spüren, so geht es nicht weiter. Sie finden sich allerdings aus Mangel an Alternativen mit den Verhältnissen ab. Weil sie den Sozialismus, wie er früher war, verständlicherweise schon gar nicht wollen.

Sie wissen, wie es geht?

Ich habe auch nicht die Lösung aller Probleme in der Tasche. Aber ich habe Vorschläge vorgelegt. Wir dürfen nicht nur in die Vergangenheit schauen, wir müssen neu denken.

In Ihrem Buch bedienen Sie sich bei den geistigen Vätern des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft: Ludwig Erhard, Walter Eucken, Wilhelm Röpke. Sind Sie jetzt ein Fan der alten Bundesrepublik ?

Man muss zu Ende denken, was im Ordoliberalismus angelegt ist. Gerade Eucken hat das Problem privater Wirtschaftsmacht in den Mittelpunkt gestellt. Mit dem EU-Binnenmarkt und der Globalisierung wurden riesige Wirtschaftsgiganten herangezüchtet. Damit hat die Politik ihre Unabhängigkeit verloren. Mein Konzept ist aber kein Zurück in die Fünfziger, wir brauchen neue Ideen. War Erhard ein Sozialist? Da würde er sich wohl im Grab umdrehen. Nein, er hat übrigens auch den Ordoliberalismus nicht bis zur letzten Konsequenz umgesetzt. Die Entflechtung der Großbanken etwa ist gestoppt worden.

War die alte Bundesrepublik besser als das vereinte Deutschland?

Der damalige Kapitalismus war sozial gebändigt. Man konnte von der gesetzlichen Rente im Alter leben. Bei Gesundheit gab es keine Zuzahlungen. Die Löhne stiegen. Hartz TV war noch nicht mal erdacht. Vor allem aber hatte die Politik mehr Spielräume, weil es noch nicht diese konzentrierte Wirtschaftsmacht gab.

Wollen Sie immer noch alles und jeden enteignen?

Das wollte ich nie. Es ist doch ein Riesenunterschied zwischen einem Gründer, der mit einer guten Idee und viel Power ein Unternehmen aufbaut und dann auch etwas davon haben soll. Oder den Erben großer Aktienpakete, die Druck in Richtung hoher Renditen machen, ohne je einen relevanten Beitrag zur Unternehmensentwicklung geleistet zu haben. Im letzteren Fall wären andere Eigentumsverhältnisse produktiver.

Facebook-Chef Mark Zuckerberg dürfte als Gründer seinen Monopolkonzern behalten?

Schrittweise sollten Anteile an die Mitarbeiter gehen. Je größer ein Unternehmen, desto mehr geht seine Leistung nicht mehr nur auf den Gründer, sondern auch auf die Mitarbeiter zurück.

Dann stecken die Vermögen der Mitarbeiter im Unternehmen. Wenn es pleitegeht, haben sie gar nichts mehr. Wollen Sie jetzt Kapitalismus pur?

Wenn das Unternehmen pleitegeht, verlieren die Mitarbeiter das Wichtigste, was sie haben: ihren Arbeitsplatz. Wenn es erfolgreich ist, profitieren heute dagegen vor allem die Eigentümer. Das ist eine völlige Schieflage. Mir schwebt eine Art Stiftungsmodell vor, wo Eigentum nicht veräußerbar ist und Gewinne nicht ausgeschüttet werden dürfen.

Welche Firmen wollen Sie enteignen?

Die Frage ist falsch. Wenn vier Energiemonopolisten ungehindert Spitzenpreise diktieren, dann ist das eine Enteignung der Verbraucher. Zusätzlich kriegen sie Milliardensubventionen und klagen jetzt auch noch gegen den überfalligen Atomausstieg. Gehörten diese Konzerne der öffentlichen Hand, wäre diese Enteignung der Allgemeinheit gestoppt und die Energiewende viel leichter und billiger.

Also doch Planwirtschaft?

Natürlich gibt es strategische Entscheidungen, die man politisch durchsetzen muss. Aber das hat ja nichts damit zu tun, dass jemand in einer Behörde sitzt und vorgibt, wie viele Hamburger McDonald's im Monat verkaufen soll. Eine hoch entwickelte Wirtschaft kann man nicht im Detail planen. Da hat der Markt eine wichtige Funktion.

Freie Märkte überall?

Es gibt Bereiche, wo der Markt nichts zu suchen hat. Etwa bei Gesundheit oder Bildung. Und wo der Marktanteil einzelner Anbieter sehr groß ist, gibt es auch keinen funktionierenden Wettbewerb.

Wo hakt es denn?

Was Schumpeter als schöpferische Zerstörung bezeichnet hat, das gibt es dort nicht mehr: junge Unternehmen, die den Großen Beine machen und sie vom Markt verdrängen können.

Sind Sie nicht zufrieden mit Ihrem iPhone?

Der Markt für Smartphones wird von wenigen Konzernen bestimmt, die sich ziemliche Arroganz gegenüber ihren Kunden leisten. Und ein Neueinsteiger hat kaum noch eine Chance.

Waren Sie noch nie auf der Cebit? Da liegen Hunderte Modelle rum. Aber es gibt nur wenige Anbieter. Auch in der Autoindustrie diktieren die Großen ihren Zulieferern die Bedingungen. Das hemmt Innovation.

Aber die deutschen Autofirmen gelten doch als die innovativsten der Welt?

Im langfristigen Vergleich investieren sie heute weniger als früher. Und es geht auch nicht nur um Massage-Sitze. Gerade bei der Frage eines klimaverträglichen Antriebs könnten wir längst weiter sein.

Was fahren Sie selbst außer mit der Fahrbereitschaft?

Bahn oder Fahrrad. Ich habe keinen Führerschein.

In Ihrem Buch wettern Sie gegen Leute, die nur "Billigschund" kaufen. Sollen jetzt alle zu Manufactum gehen?

Es ist nicht Schuld der Leute, wenn sie sich Qualitätsprodukte nicht mehr leisten können, sondern eine Frage der Einkommensverteilung.

Viele sagen, der Sozialismus sei eine gute Idee. Er funktioniere nur nicht, weil die Menschen Egoisten sind. Richtig?

Falsch. Es hängt auch von der Gesellschaft ab, welche Eigenschaften des Menschen sie fördert und welche sie verkümmern lässt. Heute wird eben Egoismus, Selbstsucht, Geiz gefördert, nicht hingegen soziales Verhalten.

Ist es egoistisch, dass Sie aus Karrieregründen die Kommunistische Plattform verlassen haben? Ich habe sie nicht verlassen, sondern bei uns gilt die Regel, dass stellvertretende Parteivorsitzende keiner Parteiströmung angehören dürfen.

Ihr neues Bekenntnis zur Marktwirtschaft hat nichts damit zu tun, dass Sie neben Gregor Gysi zweite Fraktionschefin im Bundestag werden wollen - und sich deshalb Richtung Mitte profilieren ?

Ich habe auch vor fünf Jahren keinen ökonomischen Blödsinn vertreten, ich habe meine Vorstellungen nur in diesem Buch erstmals detailliert aufgeschrieben. Auch, damit man mir nicht immer wieder mit dummen Klischees kommt. Ob ich deshalb gleich in der "Mitte" stehe, bezweifle ich.

Durch den "Faust", haben Sie einmal gesagt, kamen Sie zur Politik. War Goethe Sozialist?

Er hat die frühen Sozialisten jedenfalls sehr interessiert gelesen. Für Goethe war der Mensch kein egoistisches Wesen. Sehnsucht nach Schönheit, Liebe, sozialen Bindungen waren für ihn urmenschliche Eigenschaften. Er hat für eine Gesellschaft plädiert, in der der Mensch diese Eigenschaften leben kann. Wer Goethe ernst nimmt, kann sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen abfinden.