Sahra Wagenknecht

Gipfel der Heuchler

Mit leeren Versprechungen versuchen die G-8-Staaten, von den ruinösen Folgen ihrer Schuldenpolitik abzulenken. In Lateinamerika entstehen Alternativen zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung

07.06.2007

Am Mittwoch hat der G-8-Gipfel in Heiligendamm begonnen, der in diesem Jahr unter dem schönen Motto »Wachstum und Verantwortung« steht. In Verantwortung für wachsende Profite der Multis und wachsende Armut weltweit hat der erlesene Kreis freilich vom Tag seiner Gründung an gestanden. Wenn daher Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung behauptet, daß es den G81 nicht darum gehe, »spezifische Interessen der führenden Industrieländer gegen den Rest der Welt durchzusetzen«, ist das entweder bodenlose Naivität oder, wahrscheinlicher, unverschämte Heuchelei. Seit über 30 Jahren verfolgen die Gipfeltreffen kein anderes Ziel als das, Wirtschaftsinteressen westlicher Konzerne und Banken gegen den Willen und Widerstand von Millionen Menschen aus Entwicklungsländern durchzusetzen.

Daß inzwischen auch große Schwellenländer zu den Treffen eingeladen werden, steht dazu nicht im Widerspruch. Es beweist nur, daß es für die G8 allmählich schwieriger wird, eine Weltwirtschaftsordnung aufrechtzuerhalten, die auf Ausbeutung und Gewalt in ihren rüdesten Formen beruht; die dafür verantwortlich ist, daß jeden Tag Zehntausende Menschen verhungern und über eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser hat; in der Menschen zu »Kostenfaktoren« degradiert und soziale Rechte eingestampft werden, während sich eine kleine Elite immer schamloser bereichert. Eine Weltwirtschaftsordnung, in der Entwicklungsländer notfalls mit militärischer Gewalt dazu gezwungen werden, ihre Ressourcen an westliche Multis zu verschleudern.

Zurückdrängung des Südens

Es gibt Alternativen. Eine solche Alternative wurde bereits vor 33 Jahren von den Vereinten Nationen (UN) anvisiert. So einigte sich die UN-Generalversammlung im Mai 1974 auf eine gemeinsame Deklaration sowie ein konkretes Aktionsprogramm zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, mit der Abhängigkeit, Armut und Unterentwicklung in der sogenannten dritten Welt überwunden werden sollten. Wenige Monate später nahm die Generalversammlung eine »Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten von Staaten« an, in der noch einmal bekräftigt wurde, daß jeder Staat das uneingeschränkte und unveräußerliche Recht besitzt, sein Wirtschaftssystem wie auch sein politisches, soziales und kulturelles System in Übereinstimmung mit dem Willen seines Volkes zu wählen und daß jeder Staat frei über den Besitz, die Nutzung und Verfügung seiner natürlichen Ressourcen entscheiden kann, ohne äußeren Einmischungen, Zwängen oder Drohungen irgendeiner Art ausgesetzt zu sein.

Die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung in den siebziger Jahren war das Resultat veränderter Kräfteverhältnisse. Die Überwindung des Kolonialismus durch nationale Befreiungskämpfe und die Niederlage der USA im Vietnamkrieg hatten das Selbstbewußtsein der Menschen aus dem »Süden« gestärkt. Hinzu kam die erfolgreiche Zusammenarbeit von erdölexportierenden Staaten in der OPEC, die nun einen höheren Anteil der Profite aus dem Ölgeschäft für sich selbst beanspruchten – was viele Entwicklungsländer dazu inspirierte, vergleichbare Absprachen auch für andere Exportprodukte zu treffen. Die Herrschenden der westlichen Industrieländer, die so lange von der Zufuhr billiger Rohstoffe aus dem Süden profitiert hatten, haben das als Kampfansage verstanden.

Der erste Weltwirtschaftsgipfel 1975 muß vor dem Hintergrund dieser weltweiten Machtverschiebung begriffen werden. Da die Gruppe der Entwicklungsländer bei den Vereinten Nationen im Zuge der Entkolonialisierung immer größeren Einfluß bekam, versuchten die reichen Länder, die Autorität der UN durch Schaffung eigener Institutionen in Frage zu stellen. Auf die verstärkte Süd-Süd-Zusammenarbeit im Rahmen der Blockfreienbewegung bzw. der G772 reagierte man also mit der Etablierung eines exklusiven Clubs der reichsten und mächtigsten Staaten.

Die Schuldenfalle

In der Folgezeit gelang es den Industrieländern, alle Bemühungen zur Schaffung einer anderen Weltwirtschaftsordnung ins Leere laufen zu lassen. Eine zentrale Rolle spielte dabei das »Recycling von Petrodollars«, bei dem die Einnahmen der OPEC-Länder aus dem Ölgeschäft über westliche Großbanken an die Eliten aus Entwicklungsländern weitergereicht wurden.

Indem man der »dritten Welt« umfangreiche und zinsgünstige Kredite aufdrängte, konnte man die von den Entwicklungsländern erhobene Forderung nach verstärkten Finanzhilfen erfüllen, ohne an der Abhängigkeit des Südens etwas zu ändern. Im Gegenteil: Mit den Krediten wurde die Abhängigkeit der Entwicklungsländer wesentlich verschärft und die Grundlage für künftige Plünderungen und Ressourcentransfers vom Süden in den Norden gelegt. Gleichzeitig trugen die Kredite dazu bei, die »dritte Welt« zu spalten und von gemeinsamen Forderungen oder gar Handlungen abzubringen. Schließlich war die Kreditvergabe ein gutes Mittel, die Eliten der Entwicklungsländer zu korrumpieren, die in der Folgezeit umso höriger die Wünsche der westlichen Multis erfüllten.

Als die USA Ende der siebziger Jahre die Zinsen radikal erhöhten, schnappte die Schuldenfalle zu: Die Zinszahlungen der Entwicklungsländer verdreifachten sich innerhalb kurzer Zeit, so daß an eine weitere Bedienung der Kredite nicht mehr zu denken war. Die Zahlungsunfähigkeit Mexikos im Jahr 1982 markiert den Beginn der internationalen Schuldenkrise, in deren Verlauf über 60 weitere Staaten – überwiegend aus Lateinamerika und Afrika – ihren Bankrott erklären mußten.

Statt in Reaktion darauf eine internationale Konferenz einzuberufen und gemeinsam über Auswege aus der internationalen Verschuldungskrise zu beraten, trat der Internationale Währungsfonds (IWF) auf den Plan. Dieser vertrat die Interessen der westlichen Gläubigerbanken und sollte sich in der Folgezeit zur mächtigsten Institution der G7 entwickeln. Es begann das Zeitalter der neoliberalen »Strukturanpassung«, das die Wirtschaften Afrikas und Lateinamerikas nachhaltig zerrütten und die Armut drastisch verschärfen sollte.

Das Problem der Überschuldung der Entwicklungsländer ist bis heute nicht gelöst. Nach Statistiken des IWF hat sich die Gesamtverschuldung von etwa 600 Milliarden US-Dollar im Jahr 1980 auf etwa 3,2 Billionen im Jahr 2006 mehr als verfünffacht.

Zwar wurde in Köln 1999 von den G8 großspurig ein Schuldenerlaß verkündet, der vorsah, daß den 42 ärmsten Ländern der Welt insgesamt 100 Milliarden US-Dollar Schulden gestrichen werden sollten. Doch erstens wurde jeder Schuldenerlaß an die Fortsetzung neoliberaler Politik in den armen Ländern geknüpft, was alle Bemühungen zur Armutsbekämpfung im Keim erstickt, und zweitens hat man die seinerzeit gegebenen Versprechen nicht einmal eingehalten: So wurden bislang lediglich 22 der 42 ärmsten Länder in nennenswertem Umfang Schulden erlassen. Und noch immer geben die meisten afrikanischen Staaten mehr Geld für Zinsen und Tilgung ihrer Kredite aus als für Bildung oder Gesundheit. Daß die erlassenen Schulden zudem zynischerweise dazu führen könnten, daß andere Forderungen umso heftiger auf den Schultern der ärmsten Länder lasten, zeigen jüngste Prozesse sogenannter Geierfonds. Diese haben Altschulden aufgekauft und klagen sich derzeit durch die Instanzen, um sie einzutreiben; dabei haben sie dank der jetzt »gestiegenen Bonität« der ärmsten Länder größere Erfolgsaussichten.

Auch die Versprechen der G8 zur Erhöhung der »Entwicklungshilfe« sind bei genauerem Hinsehen nicht als verlogen. Nicht nur, daß diese Geldtransfers zur Förderung von Wirtschaftsinteressen oder zur Erreichung geopolitischer Ziele mißbraucht werden. Hinzu kommt, daß der offiziellen Entwicklungshilfe der G7 in Höhe von 75,1 Milliarden US-Dollar (2006, Schuldenerlaß an den besetzten Irak mit eingerechnet) ein Schuldendienst der Entwicklungsländer von 660 Milliarden US-Dollar (2006) gegenübersteht!

Von Hilfszahlungen an die Staaten des Trikonts kann also keine Rede sein; vielmehr werden die armen Länder zur Zahlung von »Entwicklungshilfe« an die reichen Staaten genötigt. Neben dem Mechanismus der Verschuldung spielt hierbei auch die Ausbeutung durch das kapitalistische Welthandelssystem eine Rolle. Nach dessen Regeln werden unzähligen Menschen im Süden nötige Medikamente verweigert, und es ist den Ländern des Südens nicht einmal gestattet, sich gegen die Überschwemmung ihrer Märkte mit landwirtschaftlichen Importen zu wehren – Produkte, die durch milliardenschwere Subventionen der reichen Länder konkurrenzlos billig gemacht werden und die heimischen Landwirte in den programmierten Ruin treiben.

Privatisierung international

Die Schuldenkrise diente den G7 als Hebel, um die verschuldeten Länder zu umfassenden neoliberalen »Reformen« zu nötigen. Dabei zielte das Interesse der Industriestaaten und der dort ansässigen Konzerne nicht zuletzt darauf ab, sich die wirtschaftlichen Ressourcen und Kapazitäten der Schuldnerländer billig unter den Nagel zu reißen.

Vor allem das Ende des Kalten Krieges und die Niederlage des Sozialismus in Osteuropa trugen zu einer Privatisierungseuphorie ohnegleichen bei. War es bis dato auch in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre weitgehend akzeptiert, daß netzbasierte Industrien (Post, Telekommunikation, Energie- und Wasserversorgung usw.) nicht privatkapitalistisch betrieben werden können, wurden nun tendenziell alle Wirtschaftszweige der Logik des Profits unterworfen und an private Investoren verschleudert. Dabei sind die Folgen neoliberaler Privatisierungspolitik für Menschen in Entwicklungsländern besonders gravierend. So wird das Angebot von Dienstleistungen nach einer Privatisierung in der Regel auf eine kleine städtische Elite beschränkt, da nur diese über die nötige Kaufkraft verfügt, während der Rest der Bevölkerung von der Versorgung ausgeschlossen wird.

Nach Angaben der Weltbank stiegen die von Entwicklungsländern erzielten Privatisierungserlöse von weniger als fünf Milliarden US-Dollar pro Jahr in den achtziger Jahren auf über 20 bis 30 Milliarden pro Jahr in den Jahren 1991 bis 1996 und auf über 60 Milliarden im Jahr 1997 an. Statistiken der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) zufolge haben Entwicklungsländer seit Mitte der achtziger Jahre Unternehmen im Wert von über 730 Milliarden US-Dollar an ausländische Investoren verkauft.

Eine Vorreiterrolle bei der Privatisierung öffentlichen Eigentums spielten lateinamerikanische Schwellenländer wie Chile oder Argentinien, die schon in den siebziger Jahren als Experimentierfeld für neoliberale Strukturreformen dienten, die seinerzeit von brutalen Militärdiktaturen durchgesetzt wurden. Zu einer globalen und flächendeckenden Privatisierungsoffensive kam es dann in den neunziger Jahren – wobei erneut lateinamerikanische Schwellenländer wie Argentinien und Mexiko den Anfang machten.

Der Vorschlag von US-Finanzminister Nicholas Brady aus dem Jahr 1989 dürfte eine wichtige Rolle bei der Verschleuderung öffentlichen Eigentums gespielt haben. Der Brady-Plan sah folgende »Lösung« der Schuldenkrise vor: Die Entwicklungsländer sollten ihre Schuldtitel durch sogenannte Debt-Equity-Swaps in Unternehmensbeteiligungen umwandeln, d. h. der Schuldenberg sollte abgetragen werden, indem man einheimische Unternehmen an westliche Investoren verschenkt.

Professionell organisiert wurde (und wird) der globale Ausverkauf von Internationalem Währungsfonds und Weltbank. So wird geschätzt, daß für jeden Dollar, den der IWF zu Beginn der achtziger Jahre als Kredit vergeben hatte, anschließend Unternehmenswerte von etwa 50 Cent privatisiert wurden. Und als sich während der schweren Finanzkrise im Jahr 1997 viele asiatische Schwellenländer hilfesuchend an den IWF wandten, nutzte dieser die Situation gnadenlos aus, indem er die Vergabe von Überbrückungskrediten an die Bedingung knüpfte, daß lukrative einheimische Banken und Unternehmen an ausländische Investoren verkauft werden.

Globaler Dumpingwettlauf

Zwar dürfte der bedrohliche Klimawandel und die Frage, wie man ihn bekämpfen kann, auf der Agenda des G-8-Gipfels ganz oben stehen. Auf welche Weise die kapitalistische Weltwirtschaftsordnung zur Verschärfung ökologischer Probleme beiträgt, wird bei dem Gipfel aber sicherlich kein Thema sein. Beispiel Strukturanpassung: Die Auflagen des IWF zwingen verschuldete Länder dazu, alle Anstrengungen auf die Exportproduktion zu richten, um auf diese Weise möglichst hohe Erlöse zur Bedienung des Schuldendienstes zu erwirtschaften. Typische IWF-Auflagen zielen daher auf eine Abwertung der Landeswährung sowie auf Lohn- und Sozialkürzungen – all dies mit dem Ziel, die Exporte des Schuldnerlandes wettbewerbsfähiger zu machen.

Werden ganze Weltregionen gleichzeitig zu denselben Maßnahmen genötigt (wie es im Anschluß an die internationale Verschuldungskrise der Fall war), ist das Ergebnis ein globaler Dumpingwettlauf, der den Raubbau an natürlichen Ressourcen forciert und gleichzeitig dazu beiträgt, daß die Preise für die typischen Exportprodukte der Entwicklungsländer verfallen. So haben Studien belegt, daß das Tempo der Abholzung tropischer Regenwälder durch Verschuldung und IWF-Strukturanpassungsprogramme beschleunigt wurde. Der Raubbau an Ressourcen und der verstärkte Anbau von »Cash Crops« (ausschließlich für den Export bestimmte Agrarprodukte) ist aber nicht nur unter ökologischen Gesichtspunkten eine Katastrophe. Daß arme Länder gezwungen werden, billige Lebensmittel – oder gar Biokraftstoffe – für den reichen Norden anzubauen, während die eigene Bevölkerung Hunger leidet, ist ein Irrsinn, der beendet werden muß.

Neben Maßnahmen zur Steigerung der Exporterlöse zielen die Auflagen des IWF darauf ab, öffentliche Ausgaben drastisch zu reduzieren, um auf diesem Weg Ressourcen für den Schuldendienst freizusetzen. Ergebnis dieser Politik ist eine Verschärfung der Armut, da Subventionen für Grundnahrungsmittel ebenso gestrichen werden wie Ausgaben für Gesundheit und Bildung und andere notwendige Dienstleistungen. In einigen Entwicklungsländern gingen die vom IWF erzwungenen Kürzungsorgien so weit, daß sie zum Zerfall des Staates selbst, d. h. zu Anarchie, Aufrüstung krimineller Banden bis hin zu bewaffneten Bürgerkriegen geführt haben. Zynischerweise wird diese Auflösung der staatlichen Ordnung nun von den G8 instrumentalisiert, um militärischen Interventionen, einem neuen Kolonialismus bzw. der Schaffung von »Protektoraten« das Wort zu reden.

Das Pendel schwingt zurück

Die Kräfte, die sich dieser konzerngesteuerten Kriegs- und Privatisierungspolitik in den Weg stellen, nehmen endlich wieder zu. Man merkt dies am Aufschwung der globalisierungskritischen Bewegung und an den vielen Millionen Menschen, die weltweit gegen den Irak-Krieg und die brutale Besatzungspolitik auf die Straße gegangen sind. Man merkt es am Scheitern der Welthandelsrunde, am Scheitern der geplanten amerikanischen Freihandelszone ALCA sowie am gegenwärtig zu beobachtenden Machtverlust der internationalen Finanzinstitutionen, die längst nicht mehr denselben Einfluß ausüben wie noch vor wenigen Jahren.

Die Gründe für die erneuten Machtverschiebungen im internationalen System sind vielfältig. Zum einen wird immer deutlicher, daß die neoliberale Globalisierung zu einer massiven Verschärfung der globalen Kontraste beigetragen hat: So war das Bruttosozialprodukt pro Kopf in den 20 reichsten Ländern der Welt zu Beginn der siebziger Jahre etwa 19mal so hoch wie in den 20 ärmsten. Im Jahr 1990 lag der Abstand bereits beim 82fachen, im Jahr 2000 waren die reichen Länder 131mal so reich wie die armen. Zum anderen haben große Entwicklungsländer wie China, Indien oder Brasilien an Einfluß gewonnen und wollen sich den USA und der EU nicht länger bedingungslos unterordnen. Und während sich die Süd-Süd-Kooperation verstärkt, verschärfen sich die Konflikte innerhalb der G8 und wächst der Unmut über die unilaterale und aggressive Politik der USA auch bei einstigen Verbündeten.

Alles in allem gibt es also Grund zur Hoffnung. Besonders, wenn man nach Lateinamerika blickt, wo in den letzten zehn Jahren verschiedene Regierungen an die Macht gelangt sind, die mit der neoliberalen Politik gebrochen haben und seitdem versuchen, den Reichtum an natürlichen Ressourcen für die eigene Bevölkerung nutzbar zu machen.

Niedergang des IWF

Über die Politik des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ist schon viel geschrieben worden. Chávez ist es gelungen, die jahrzehntelang betriebene Plünderungspolitik nicht nur zu stoppen, sondern rückgängig zu machen. Der schleichende Ausverkauf der venezolanischen Erdölproduktion an internationale Ölmultis wurde gestoppt, eine 100prozentige staatliche Kontrolle wiederhergestellt. Die Gewinne der venezolanischen Ölgesellschaft PdVSA kommen seitdem sozialen Projekten zugute, statt ins Ausland und in die Taschen einer korrupten venezolanischen Oligarchie zu fließen.

Inzwischen ist die Politik Venezuelas für die USA zu einer ernsthaften Gefahr geworden. Dies weniger, weil Chávez sich weigern könnte, an den großen Nachbarn im Norden weiterhin Öl zu verkaufen. Hauptproblem Washingtons ist der rapide schwindende Einfluß der internationalen Finanzinstitutionen in Lateinamerika.

Die Kredite des IWF an Lateinamerika sind mittlerweile auf 50 Millionen US-Dollar geschrumpft und machen damit nur noch ein Prozent der gesamten IWF-Kredite aus. Zum Vergleich: Im Jahr 2005 entfielen auf lateinamerikanische Länder noch 80 Prozent des Kreditportfolios. Was hat den dramatischen Bedeutungsverlust der einst so mächtigen Finanzinstitution bewirkt? Wie kann es sein, daß das Kreditvolumen des IWF von seinem Höchststand von 81 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004 auf knapp zwölf Milliarden US-Dollar eingebrochen ist, so daß der IWF für dieses Jahr mit Verlusten von 100 Millionen US-Dollar rechnen muß?

Der Niedergang des IWF nahm dort seinen Anfang, wo die von ihm konzipierte Privatisierungs- bzw. Plünderungspolitik am radikalsten betrieben wurde. So stellte der argentinische Präsident Néstor Kirchner kurz nach seinem Amtsantritt im Mai 2003 fest, daß es die Politik des IWF war, die sein Land »verwüstet« hat. Argentinien war Ende 2001 in eine schwere Wirtschaftskrise geraten und hatte die Zahlungen für den Großteil seiner Schulden eingestellt. Es war die dritte schwere Krise seit Anfang der achtziger Jahre – und bei all diesen drei Krisen hatte der IWF seine Finger im Spiel.

Ende des Jahres 2005 war Argentinien endlich in der Lage, Schulden im Umfang von 9,5 Milliarden US-Dollar an den IWF zurückzuzahlen. Unterstützt wurde dieser Schritt von der venezolanischen Regierung, die argentinische Staatsanleihen im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar erwarb. Auch Bolivien oder Ecuador boten Chávez ihre Hilfe an. Als beispielsweise Ecuadors frisch gewählter Präsident Rafael Correa Gefahr lief, die Zahlungsunfähigkeit seines Landes erklären zu müssen – was üblicherweise den Gang zum IWF und ein entsprechendes Strukturanpassungsprogramm nach sich zieht – gewährte Venezuela finanzielle Unterstützung von 500 Millionen US-Dollar. Im April 2007 kündigte Ecuador schließlich an, sich aus IWF und Weltbank gänzlich zurückziehen zu wollen. Anfang Mai verkündete Chávez den Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank.

Und damit nicht genug. Seit einigen Jahren wirbt Chávez in ganz Lateinamerika und darüber hinaus für den Aufbau einer »Bank des Südens«. Sollte diese Bank erfolgreich in Betrieb genommen werden, könnte das das Ende für den IWF bedeuten, der sich jahrzehntelang wie ein Parasit von den Zins- und Tilgungszahlungen verschuldeter Staaten genährt hat. Auch wenn der Plan einer Bank des Südens noch immer von vielen belächelt wird – erste Schritte zu seiner Verwirklichung sind inzwischen getan. Am 23. Mai verkündete Paraguays Staatschef Nicanor Duarte im Anschluß an ein Treffen der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, daß man sich auf die Schaffung einer Bank des Südens als Gegengewicht zur Weltbank und IWF verständigt habe. Bei einem nächsten Treffen des Mercosur Ende Juni will man sich auf die Führung der Bank und ein entsprechendes Regelwerk einigen.

Neue Spielräume schaffen

Die Angriffe auf Venezuelas Staatschef Hugo Chávez, in den herrschenden Medien gern als »Diktator« dargestellt, der gerade die »Pressefreiheit« abschafft, sind kein Zufall. Zwar haben die Vorwürfe wenig mit den Tatsachen, dafür aber umso mehr mit der Furcht vor einem Ende der Hegemonie westlicher Konzerne und Banken in Lateinamerika zu tun. Solidarität mit Venezuela ist daher nicht nur wichtig, um die sozialen Errungenschaften in dem Land selbst zu verteidigen und einen blutigen Putsch im Interesse der alten Oligarchie verhindern zu helfen. Sie trägt auch dazu bei, den Menschen in ganz Lateinamerika Spielräume für einen eigenständigen Entwicklungsweg zu verschaffen.

Es ist gut und richtig, daß die meisten Staaten Lateinamerikas nicht mehr bereit sind, sich von Finanzhaien aus Washington, London oder Frankfurt ihre Wirtschaftspolitik diktieren zu lassen. Eine andere Weltwirtschaftsordnung ist möglich, die es den Ländern des Südens gestattet, die eigenen Ressourcen zur Armutsbekämpfung einzusetzen, statt sie Konzernen aus Europa und den USA in den Rachen zu werfen. Zumindest in Lateinamerika nimmt sie bereits Gestalt an. In der Perspektive wird sie allerdings nur eine Chance haben, wenn nicht nur die Weltwirtschaftsbeziehungen sich verändern, sondern die Wirtschaftsordnung selbst eine andere wird: eine, in der Fragen der Macht und des Eigentums nicht mehr auf kapitalistische Weise beantwortet werden. Denn das bleiben die zentralen Fragen für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts.

1) Bezeichnung für eine informelle Allianz von reichen und mächtigen Industrieländern, die einmal im Jahr zu Gipfeltreffen zusammenkommen, um die herum sich ein dichter politischer Abstimmungs- und Verhandlungsprozeß entwickelt hat. Neben den Staats- und Regierungschefs der USA, Kanadas, Japans, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands nimmt auch die Europäische Kommission an den Treffen teil; mit dem Beitritt Rußlands im Jahr 1997 wurde die G7 zur G8 erweitert.

2) Die Gruppe der 77 wurde 1964 im Verlauf der ersten Welthandelskonferenz (UNCTAD) gegründet und hat mittlerweile 130 Mitglieder. Ziel der G77 ist es, die Position der Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft zu verbessern.

* Sahra Wagenknecht ist Mitglied des Europaparlaments und Linkspartei.PDS-Vorstandsmitglied

erschienen in der Tageszeitung junge Welt

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