Sahra Wagenknecht

70 Jahre Grundgesetz - Sozialstaats- und Friedensgebot verteidigen

Artikel von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch auf www.linksfraktion.de, 23.05.2019

23.05.2019

Das Grundgesetz ist die Antwort auf den Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben erfahren, was Faschismus und Krieg bedeuten und daraus wichtige Lehren gezogen. Gleich der erste Artikel enthält die ewige Verpflichtung des Staates, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Nach unserer Verfassung sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich, wir haben das Recht, uns ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln, Vereine und Gesellschaften zu bilden und unsere Meinung frei zu äußern. Unsere Wohnung sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.

All diese Grundrechte sollen verhindern, dass jemals wieder Kräfte an die Macht gelangen, für die Menschenwürde ein Fremdwort ist. Allerdings ist jede Verfassung immer nur so gut wie die Institutionen, die ihren Geist konkret verwirklichen. Erst kürzlich wurde ein großes Konzert gegen Rechts im sächsischen Verfassungsschutzbericht denunziert. Eine Organisation wie die VVN/BdA, die älteste Organisation des deutschen Widerstandes und der Naziopfer, wird bis heute von einigen Landesämtern für Verfassungsschutz observiert. Dabei ist Antifaschismus nicht verfassungsfeindlich, sondern zentrale Grundlage unserer Verfassung! Eine Behörde, die das nicht begreift und vermutlich bis heute nicht sämtliche obskure Beziehungen zum "nationalsozialistischen Untergrund" gekappt hat, einen solchen "Verfassungsschutz" können und dürfen wir uns nicht länger leisten.

Das Gemeinwohl steht im Zweifel über den Kapitalinteressen

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich bewusst, dass der Kampf gegen den Faschismus umfassend sein muss. Sie waren sich bewusst, dass eine allzu große Spaltung der Gesellschaft, eine allzu große Konzentration von Kapitalmacht die Demokratie untergräbt. Eben deshalb haben sie unsere Gesellschaft als demokratischen und sozialen Rechtsstaat definiert – ein Artikel mit Ewigkeitsgarantie. Nach unserer Verfassung sind wir nicht auf den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung festgelegt. Privates Eigentum wird gewährleistet, sein Gebrauch muss aber zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war klar, dass das Gemeinwohl im Zweifel über den Kapitalinteressen stehen muss. Daher können nach Artikel 15 sowohl Grund und Boden als auch Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.

In Berlin versucht derzeit ein Volksbegehren, diesen Artikel zum politischen Leben zu erwecken: Private Immobilienkonzerne, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen, sollen enteignet und ihre Bestände in Gemeineigentum überführt werden. Hintergrund des Begehrens ist die konkrete Erfahrung, dass das Profitstreben von Konzernen wie Vonovia oder Deutsche Wohnen dem Wohl der Allgemeinheit entgegensteht, da es zu rasant steigenden Mieten und Verdrängung beiträgt. Für uns ist klar: Wenn kapitalistisches Eigentum zu sozial nicht mehr tragbaren Folgen führt und gesetzliche Regulierungen wie bei der Mietpreisbremse nicht wirken, muss über Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse nachgedacht werden. Konzerne, die aufgrund ihrer Profitinteressen ein gravierendes soziales Problem schaffen, müssen gestoppt werden. 

Sozialisierungen können nötig sein

Angesichts der Missstände in der Pflege und im Gesundheitsbereich, angesichts der Wohnungsnot in deutschen Städten und angesichts der sich verschärfenden Klimakrise ist es an der Zeit, eine grundsätzliche Diskussion darüber zu führen, welche Bereiche unseres Gemeinwesens privatrechtlich, und welche öffentlich-rechtlich organisiert sein sollten. Ist es mit dem Sozialstaat und der Forderung nach gleichen Lebenschancen vereinbar, wenn Milliardenerben an einem Tag mehr Dividenden einstreichen als andere in ihrem ganzen Leben durch harte Arbeit verdienen? Ist es mit der Demokratie vereinbar, wenn Finanzinvestoren die Lebensleistung von tausenden Menschen an der Börse verspielen, wenn sie Arbeitsplätze vernichten, um kurzfristig Profite zu realisieren? Ist es mit unseren rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar, wenn Konzerne ohne unsere Erlaubnis in unsere Privatsphäre eindringen und grenzenlos Daten sammeln? Sozialisierungen können nötig sein, um unsere Gesellschaft als einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu bewahren. Es ist bedauerlich, dass eine Partei wie die FDP sich in dieser Frage gegen das Grundgesetz stellt – mit dem Antrag, Artikel 15 ersatzlos aus der Verfassung zu streichen.

Widerstand leisten gegen Angriffe auf das Grundgesetz

Nun ist unser Grundgesetz nicht perfekt. Bei seiner Abfassung standen politische, nicht soziale Rechte im Vordergrund. Der Schutz der Wohnung ist geregelt, ein Anspruch auf sie nicht. Zwar wird die Koalitions- und Vereinigungsfreiheit und damit die Existenz von Gewerkschaften garantiert, doch weitergehende Arbeitsrechte, wie sie die Weimarer Verfassung bereits kannte, sucht man vergebens. Auch basisdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen sind im Grundgesetz bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgesehen. Das liegt zum einen darin, dass sich im Verfassungsrecht immer auch ein politischer Kompromiss widerspiegelt, zum anderen auch daran, dass die Verfasserinnen und Verfasser des Grundgesetzes noch davon ausgingen, eine nur provisorische Verfassung zu schaffen.

Als LINKE haben wir viele Ideen für eine bessere Verfassung. Doch werden wir gegen jeden Angriff auf das Grundgesetz Widerstand leisten. Wir stehen in der Tradition jener, die gegen Wiederbewaffnung und KPD-Verbot, gegen die Notstandsgesetze und den Großen Lauschangriff protestiert haben. Wir kämpfen gegen die Privatisierung der Infrastruktur und gegen eine widersinnige Schuldenbremse – Änderungen, die unsere Verfassung nicht stärken, sondern verunstalten und schwächen.

Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!

Schließlich sind wir die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die das Friedensgebot unserer Verfassung ernst nimmt und verteidigt. "Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen." "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt." Sind diese Bestimmungen vereinbar mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr, mit Großmanövern an der russischen Grenze oder der geplanten Produktion eines europäischen Flugzeugträgers? Wir sind uns mit den Müttern und Vätern des Grundgesetzes einig: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen! Das bedeutet auch, dass Militärbasen auf deutschem Boden nicht für Angriffskriege genutzt werden dürfen – wie es so oft der Fall war und wie es nun wieder droht. Das Friedensgebot verpflichtet uns, völkerrechtswidrige Androhungen von Gewalt klar und deutlich zu verurteilen. Dies ist aktuell von besonderer Dringlichkeit, da die USA gegen den Iran auf Kriegskurs gehen. Die Bundesregierung muss klarstellen, dass US-Stützpunkte in Deutschland für Kriegsvorbereitungen gegen den Iran nicht genutzt werden dürfen und Überflugrechte für die US-Luftwaffe im Kriegsfall verweigert werden. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus – das ist die zentrale Lehre, die in unserem Grundgesetz verankert wurde. 70 Jahre später ist es dringend nötig, daran zu erinnern.