Sahra Wagenknecht

Kritische Reichtumsforschung – so dringend wie nie

Kommentar von Sahra Wagenknecht auf www.linksfraktion.de vom 19.07.2016

20.07.2016

Immer mehr Menschen in Deutschland leben von Erträgen ihres Kapitals, das heißt sie verfügen über so viel Vermögen, dass sie nicht mehr selbst arbeiten müssen, sondern andere für sich arbeiten lassen können. Das sind die Ergebnisse einer Sonderauswertung, die das Statistische Bundesamt auf Anfrage der "Welt am Sonntag" unternommen hat (vgl. WamS vom 17.07.2016). Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der sogenannten Rentiers von 345.000 auf 624.000 nahezu verdoppelt. Obwohl die Zinsen seit Beginn der Euro-Schuldenkrise 2010 deutlich gesunken sind, ist der Anteil jener, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich aus ihrem Vermögen bestreiten, gerade in den letzten fünf Jahren rasant – um 45 Prozent – gestiegen. Offenbar sind die dreistelligen Milliardenverluste, die Kleinsparerinnen und Kleinsparer durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank seit 2010 erlitten haben, immer noch geringer als die Gewinne, die Besitzer größerer Vermögen durch die Hausse auf den Aktien- und Immobilienmärkten in den letzten Jahren einstreichen konnten. 

Angesichts der zunehmenden Konzentration von Reichtum und Wirtschaftsmacht wäre eine kritische Reichtumsforschung dringend nötig. Denn von einer Leistungsgesellschaft, in der Talent und Fleiß über die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen entscheiden, sind wir so weit entfernt wie lange nicht. Kapital und Macht besitzen jene, die Kapital erben. Wie schon zu Zeiten des Feudalismus gehören etwa ein Prozent der Bevölkerung zur Oberschicht. Sie besitzen die entscheidenden wirtschaftlichen Ressourcen, beherrschen das gesellschaftliche Leben, und statt Steuern zu zahlen, eignen sie sich die Erträge fremder Arbeit an, was ihren Reichtum stetig mehrt. So haben DAX-Unternehmen ihren Aktionären in diesem Jahr Rekorddividenden in Höhe von 38 Milliarden Euro ausgeschüttet – und für 2017 wird ein weiteres Rekordjahr erwartet. 

Leider ist der wohl bedeutendste Macht- und Reichtumsforscher Deutschlands, der Soziologe Professor Hans Jürgen Krysmanski, im Juni diesen Jahres verstorben. „Krys“, wie er von Studierenden und Freunden gern genannt wurde, war ein Schüler des konservativen Soziologen Schelsky, der in den 50er Jahren die These von der angeblich „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ prägte. „Über Herrschaft und Macht, da schweigt man besser“, soll der junge Krysmanski von Schelsky immer wieder zu hören bekommen haben. Zum Glück hat Krysmanski diesen Rat in den Wind geschlagen. Stattdessen warf er Licht auf das Schattenreich der Milliardäre – etwa in seinem 2012 erschienenen Buch „0,1 % - Das Imperium der Milliardäre“ – und klärte darüber auf, welche Gefahr die Konzentration von Geldmacht für die Demokratie und den Frieden mit sich bringt. 

So wie der Geldadel sein Vermögen und seine Macht vererbt, hat der Soziologe Krysmanski uns mit seinen Analysen zur Macht- und Geldelite ein wichtiges Vermächtnis hinterlassen. Wir werden den originellen und humorvollen Denker und Kämpfer in guter Erinnerung behalten.