Sahra Wagenknecht

Was zählt das Leben eines Schwarzen?

Kolumne von Sahra Wagenknecht in der Tageszeitung "junge Welt", 26.05.2015

26.05.2015

Tod durch unterlassene Hilfe. Dieses Schicksal droht dem prominentesten politischen Häftling der USA, Mumia Abu-Jamal. Obwohl er an Diabetes erkrankt ist, wird ihm eine adäquate medizinische Versorgung seit Monaten verweigert. Wie ernst es um ihn steht, weiß man nicht genau, da die Gefängnisbehörde immer wieder die Besuche enger Angehöriger oder seiner Anwälte verhindert – von unabhängigen Ärzten ganz zu schweigen. Der Verdacht liegt nahe, dass hier ein unbeugsamer Aktivist zum Schweigen gebracht werden soll. Ein mutiger Journalist und Bürgerrechtler, der eine zutiefst ungerechte Gesellschaftsordnung immer wieder brandmarkte.

Noch am 10. April prangerte Mumia Abu-Jamal im Prison Radio die oft tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze an. Neun Tage später starb der 25jährige Freddie Gray, dem Polizisten brutal das Genick gebrochen hatten, was eine landesweite Protestwelle auslöste. Beinahe täglich stirbt in den USA ein Mensch an den Folgen rassistischer Polizeigewalt. Jeder vierte Schwarze lebt unterhalb der Armutsgrenze, jeder zwanzigste sitzt im Gefängnis. Eine ganze Industrie profitiert von der billigen Zwangsarbeit der mehr als zwei Millionen Inhaftierten. An diesen strukturellen Gewaltverhältnissen hat der schwarze Präsident Barack Obama, der das Land seit über sechs Jahren regiert, kaum etwas geändert.

Auch in Europa sind unzählige Menschen rassistischer Gewalt ausgesetzt oder sitzen unschuldig im Gefängnis – ganz zu schweigen von den Tausenden Menschen aus Afrika und Nahost, die jedes Jahr auf der Flucht sterben. Allein seit 2013 dürften mehr als 6.000 Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben sein – Tendenz stark steigend. Die EU-Staaten sind für diese Tragödie in doppelter Hinsicht verantwortlich: Nicht nur, dass sie den Flüchtlingen alle halbwegs sicheren Wege nach Europa versperrt haben. Durch ihre neokoloniale Ausbeutungs- und Kanonenbootpolitik, durch Exporte von Waffen und subventionierten Agrargütern, das gnadenlose Auspressen von Rohstoffenund Zinsen und nicht zuletzt durch militärische oder paramilitärische Interventionen schaffen sie erst jenes Elend, dem sich dann Millionen Menschen durch Flucht zu entziehen suchen.

Was der Bundesregierung das Leben eines Schwarzen wert ist, zeigt der Umgang mit dem Seenotrettungsprogramm »Mare Nostrum«, das im Herbst 2013 nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa von der italienischen Regierung beschlossen wurde. Obwohl »Mare Nostrum« gut 150.000 Menschen aus Seenot gerettet hat, wurde das Programm nach nur einem Jahr wieder eingestellt, da kaum ein EU-Staat bereit war, sich an den Kosten von monatlich 9,3 Millionen Euro zu beteiligen. Umgerechnet rund 750 Euro für die Rettung eines Menschenlebens – dafür habe die EU »weder das Mandat noch die Ressourcen«, schrieb der deutsche Innenminister Thomas de Maizière im Herbst 2014 an die EU-Kommissarin Cecilia Malmström. Damit war die nächste Tragödie programmiert: Im April kam es zur bislang schwersten Flüchtlingskatastrophe, innerhalb weniger Tage ertranken mehr als 1.000 Menschen. Doch statt die unmenschliche Abschottungspolitik in Frage zu stellen oder wenigstens das Programm »Mare Nostrum« wieder aufzunehmen, spielen die Herrschenden lieber »Schiffe versenken« und setzen das Militär gegen Flüchtlinge ein.

Was kann man gegen diesen brutalen Zynismus tun? Zumindest protestieren. Zum Beispiel kann man am 20. Juni – dem Weltflüchtlingstag – in Berlin gegen die neoliberale Kürzungs- und Abschottungspolitik auf die Straße gehen. Ein Zeichen wäre es auch, wenn weitere Städte Mumia Abu-Jamal die Ehrenbürgerschaft verleihen würden, wie dies die Stadt Paris bereits getan hat. Vielleicht hilft es auch, dem für Mumias Schicksal verantwortlichen Gouverneur von Pennsylvania, Tom Wolf, eine Nachricht zu übermitteln. An: governor@pa.gov »Black lives matter – free Mumia Abu-Jamal!«