Sahra Wagenknecht

Denkt an Ludwig Erhard!

Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen im Handelsblatt am 09.12.2013

10.12.2013
Sahra Wagenknecht

Es gibt einen kurzen Essay von John Maynard Keynes aus dem Jahr 1928, in dem er über die "Wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder" nachsinnt. Kernaussage dieses Textes ist, dass aufgrund der Begrenztheit menschlicher Bedürfnisse und durch den fortwährenden Anstieg der Produktivität "das wirtschaftliche Problem innerhalb von 100 Jahren gelöst sein dürfte". Das war natürlich nicht so gemeint, dass sich innerhalb von 100 Jahren die Gesellschaft in ein Schlaraffenland verwandeln würde, in dem Milch und Honig fließen und jeder anstrengungslos ein luxuriöses Leben genießen kann. Der Gedanke war eher, dass aufgrund der technologischen Entwicklung erstmals in der menschlichen Geschichte ein Anspruch einlösbar wird, den Ludwig Erhard gut zwanzig Jahre später der jungen Bundesrepublik ins Stammbuch schreiben sollte: Wohlstand für alle - und zwar bei kürzer werdender Arbeitszeit für jeden Einzelnen. Keynes schätzte, dass sich besagte Enkelkinder jede Woche nur noch für etwa 15 Stunden in die Fabrik oder ins Büro bemühen müssten.

Der Essay gipfelt in der These, dass eine solche Gesellschaft imstande sei, sich "von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, die uns seit zweihundert Jahren peinigen und durch die wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben". Namentlich gelte es, die "Liebe zum Geld als ein Wert in sich" als das zu erkennen, "was sie ist, ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halb kriminellen, halb pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt". Man kann sich vorstellen, was Keynes von einem Europa gehalten hätte, das sich seine politische Agenda ausgerechnet von der Branche diktieren lässt, in der "jene halb kriminellen, halb pathologischen Neigungen" am ungeniertesten und hemmungslosesten ausgelebt werden. Aber auch außerhalb des Finanzsektors gilt: Wo Gewinnerzielung zum Selbstzweck wird und unternehmerisches Handeln nur noch nackten Renditekennziffern folgt, ist Maßlosigkeit vorprogrammiert.

Aber wo ist das Maß, wo beginnt Maßlosigkeit? Wie viel Einkommen braucht ein Mensch? Und wie viel Ungleichheit verträgt eine Gesellschaft? Wer solche Fragen allein dem Markt überlässt, nimmt in Kauf, dass sie im Interesse der wirtschaftlich Starken beantwortet werden. Beispiel: Arbeitszeit. Wenn wir die in Deutschland wöchentlich geleisteten Arbeitsstunden durch die Zahl der Beschäftigten dividieren, kommen wir auf eine durchschnittliche 30-Stunden-Woche, sind also gar nicht so weit von der Keynes'schen Prognose entfernt. Die vom Markt herbeigeführte - gewinnoptimale - Verteilung dieser Arbeitszeit sieht allerdings so aus, dass die Arbeitsbelastung für einen Teil der Beschäftigten in den letzten Jahren stetig zugenommen hat, Abend- und Wochenendarbeit an der Tagesordnung sind, während der Arbeitsmarkt für viele andere nicht mehr als einen Minijob oder eine Teilzeitstelle bereithält. Die einen haben keine Zeit mehr für Familie und

Freunde, leiden unter Stresskrankheiten und Burn-out, die anderen unter kümmerlichen Einkommen. Am Ende wäre die Lebensqualität beider Gruppen besser, wenn die reguläre Arbeitszeit verkürzt, dafür aber die Zahl ordentlicher Vollzeitjobs wieder erhöht würde. Natürlich hätten bei einem derart regulierten Arbeitsmarkt die Gewinn- und Vermögenseinkommen in Deutschland nicht um über 60 Prozent seit der Jahrtausendwende anschwellen können.

Nächstes Beispiel: Rente. Die einst unbestrittene Aufgabe der gesetzlichen Rente bestand darin, alten Menschen nach einem anstrengenden Arbeitsleben die Chance zu geben, ihren gewohnten Lebensstandard ohne größere Einschränkung beizubehalten. Seit gut zehn Jahren heißt es, das reiche Deutschland könne sich eine solche Absicherung nicht mehr leisten. Warum eigentlich? 1950 kamen auf einen Rentner fast sieben Erwerbstätige, 2000 waren es noch vier. Die Leistungen der gesetzlichen Rente wurden in dieser Zeit sogar ausgebaut. 2030 wird es pro Rentner noch zwei Erwerbstätige geben. Das Pro-Kopf-Einkommen wird dennoch über dem heutigen liegen. Ist maßlos, wer fordert, dass auch die Alteren weiterhin ihr gerechtes Stück vom wachsenden Kuchen bekommen? Oder eher der, der seins zu ihren Lasten noch weiter ausdehnen will?

Es gibt keinen Sachzwang, es gibt nur veränderte Prioritäten. Und über gesellschaftliche Prioritäten muss in einer Demokratie nachgedacht und debattiert werden, statt sich von interessierten Kreisen Alternativlosigkeit einreden zu lassen. "Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht", von diesem Weckruf des Papstes Franziskus sollten sich nicht zuletzt jene angesprochen fühlen, die es als normal empfinden, wenn Konzerne und Multimillionäre mit allen Tricks und Kniffen Steuern vermeiden, die aber bei einer geringfügigen Verbesserung der Rente für ältere Mütter den Untergang der deutschen Wirtschaft und ihrer Wettbewerbsfähigkeit beschwören. Es sind die an der Spitze der Einkommensund Vermögenspyramide, denen ein Ludwig Erhard heute sein "Maß halten" entgegendonnern müsste.

Ja, wir brauchen eine Wertedebatte. Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der den einen Milliardenvermögen in die Wiege gelegt werden, während andere ihre Kindheit in heruntergekommenen Wohngebieten verbringen, sich von Tafeln ernähren und schon als Zehnjährige bildungspolitisch auf dem Abstellgleis landen? Was taugt ein Markt, der Investmentbankern, deren Geschäfte dem Steuerzahler schwer auf der Tasche liegen, unverändert Millioneneinkommen beschert, während ein Altenpfleger kaum über die Runden kommt?

Eine florierende Wirtschaft braucht Märkte. Aber sie braucht sie da, wo sie ihren Platz haben, und sie müssen Regeln unterworfen werden, die sicherstellen, dass man sich auf ihnen nur durch echte Leistung und nicht durch Dumpingkonkurrenz oder schlichte Größe und Macht Vorteile sichern kann. Von diesem Ideal der Ordoliberalen sind wir heute meilenweit entfernt. Wir brauchen keinen wirtschaftlichen Stillstand, sondern Erfindungsgeist und Innovation, aber beides wird nicht befördert, sondern erschwert durch einen Finanzsektor, der sich über inzestuöse Finanzgeschäfte ins Gigantische aufgebläht hat und heute mit seinen Altlasten die wirtschaftliche Erholung erstickt.

Nach John Rawls sind gesellschaftliche Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen, wenn sie die Lebenssituation der am wenigsten Begünstigten verbessern. Wenn Armut und Reichtum in einer Gesellschaft gleichzeitig zunehmen und das Medianeinkommen sich trotz beträchtlichen Wirtschaftswachstums über 30 Jahre nicht mehr relevant erhöht, ist etwas faul. Wenn "Wohlstand für alle" wieder ein Ziel werden soll, müssen wir aufhören, die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft an Kennziffern zu messen, die zu diesem Wohlstand in keinem oder sogar in negativem Verhältnis stehen. Hohe Exportüberschüsse bedeuten, dass wir sehr viel mehr produzieren als konsumieren, schon Adam Smith wusste, dass das kein erstrebenswerter Dauerzustand ist. Die Lebenserwartung oder die Geburtenrate sagen wohl mehr über die Lebensqualität in einem Land aus als das Pro-Kopf-Einkommen. Es sollte uns zu denken geben, dass Deutschland, an solchen Kriterien gemessen, keineswegs an der europäischen Spitze steht, sondern weit abgeschlagen hinter Frankreich und anderen Ländern.

"Es ist an der Zeit, die Wirtschaft, trotz ihrer selbstverständlichen Unentbehrlichkeit, wieder in die ihr gebührende untergeordnete und dienende Stellung zurückzuverweisen ...", forderte schon der Ordoliberale Alexander Rüstow. Er tat das in einem Buch, das nicht zufällig den Titel "Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus" trägt. Weil die Wirtschaft um des Menschen willen da ist und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen, dürfen wir die Maßstäbe unseres Wirtschaftens nicht den Märkten und schon gar nicht dem maßlosen Finanzmarkt überlassen.