Sahra Wagenknecht

Ich habe einen Traum

erschienen in ZEIT 41/2000

01.01.2001

Sahra Wagenknecht, 31, studierte in Jena, Berlin und Groningen Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Sie trat 1989 der SED bei und ist heute Mitglied der Kommunistischen Plattform der PDS. Zur Zeit dissertiert sie über die ökonomische Lehre von Karl Marx. Wagenknecht träumt von einer Begegnung mit einem Zeitreisenden

Aufgezeichnet Marc Kayser Foto Andrej Glusgold

Er kam aus einer anderen Zeit und schüttelte sich vor Unbehagen, weil er im Konzert saß und die Musiker Beethovens Neunte spielten, als seien sie vor dem Komponisten auf der Flucht. »Sie spielen zu schnell«, sagte er, zu mir gewandt. Er sah auf eine so außergewöhnliche Weise gut aus, dass ich unwillkürlich an eine klassische griechische Statue denken musste. Ich stellte mich vor. Er sagte, dass er im Jahre 2169 geboren und auf Studienreise in unserer Zeit sei. »Aha«, sagte ich sprachlos. »Wissen Sie«, ergänzte ich nach zwei Schrecksekunden, »dass sie genau zweihundert Jahre nach mir geboren sind?«

Er war Geschichtsstudent und als einer der ersten Menschen in den Genuss einer sensationellen Neuentdeckung gekommen: der Möglichkeit, die Vergangenheit zu besichtigen. »Ich habe mir das Jahr 2000 ausgesucht, weil ich die seltsamen Jahrzehnte vor und nach diesem Datum in meinen Vorlesungen nie verstanden habe.« - »Aha«, sagte ich nochmals und mühte mich um Fassung. »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Zeit«, bat ich aufgeregt. »Gern«, antwortete er. »Aber lassen Sie uns woanders hingehen. Ich weiß jetzt, was unser Dozent für Kulturgeschichte mit seiner These meinte, dass ein ganzes Jahrhundert Beethoven nicht spielen konnte.« Sein schönes Gesicht verzog sich, als litte er unter akutem Zahnschmerz. Also verließen wir eilig das Konzerthaus und setzten uns in ein Café.

»Ist das Ihre erste Reise in die Geschichte?«, fragte ich ihn. »Meine erste und einzige, und heute ist mein letzter Tag«, antwortete er. »Warum ausgerechnet unsere Zeit?«, erkundigte ich mich, »Cäsar hätte Sie nicht interessiert?« - »Oh doch«, sagte er. »Aber Cäsar konnte ich begreifen. Außerdem haben uns die Römer vieles hinterlassen: Torbögen, Brücken, Skulpturen, philosophische Thesen. Da konnte man sich ein Bild machen. Aus dem zwanzigsten Jahrhundert ist fast nichts übrig geblieben: kein Haus, keine Vase, keine Philosophie, dafür aber eindrucksvolle technische Erfindungen, die auch wir noch nutzen. Aber offenbar wisst ihr nichts damit anzufangen. Was ihr produziert, produziert ihr so, dass es schnell wieder zerfällt. In euren wirtschaftlichen Entscheidungen lasst ihr euch von Zufallsfolgen sinnloser Zahlen leiten wie die alten Griechen vom Orakel. Ihr baut uniforme, stupide Städte, die noch hässlicher sind, als ich sie mir nach Bildern vorgestellt hatte. Wussten Sie eigentlich, dass der düstere Koloss, den Ihre Regierung gerade als Kanzleramtssitz bauen lässt, später als Gefängnis genutzt wurde?« Ich war ganz schön sprachlos. »Und sieht er nicht ganz so aus, als habe der Architekt das von vornherein im Auge gehabt?«, schob er unerbittlich nach.

»Wie sehen denn die Städte bei Ihnen aus?«, unterbrach ich seinen wenig schmeichelhaften Redefluss. »Unsere Städte sind keine bombastischen Metropolen«, antwortete er. »Viele Siedlungen bestimmen einen großen Raum. Ein Haus sieht natürlich anders aus als jedes andere, denn es wohnen ja in jedem Haus andere Menschen mit anderen Wünschen, Vorlieben und Eigenarten. Bevor ein Haus gebaut wird, setzen sich die Leute, die einziehen wollen, zusammen und entwerfen gemeinsam mit einem Architekten einen Bauplan.« - »Ein individuell gestaltetes Haus, kann sich das denn jeder leisten?«, fragte ich ungläubig. »Wieso leisten?«, entgegnete er, »wir haben doch Zeit.«

»Ich meine nicht zeitlich, ich meine finanziell«, erläuterte ich. »Da seid ihr wieder mit eurer Irrationalität!«, rief er brüsk. »Was ist denn Geld anderes als der Widerschein des mit bestimmtem Zeitaufwand Produzierbaren? Hohe Produktivität enthebt uns der leidigen Frage, entweder für wenige Leute wenige Dinge in guter Qualität oder für viele Leute viel normierten, naturunverträglichen Billigkram zu produzieren. Weshalb ihr das nicht begreifen wolltet, sondern fortfuhrt, die Welt zu vermüllen, auch als ihr längst in der Lage wart, Gutes und Edles in hinreichender Zahl zu erzeugen, das habe ich nie verstanden.«

Er sah mich mit großen, fragenden Augen an. Aber ich war viel zu neugierig, etwas über seine Zeit zu erfahren, als dass ich Lust gehabt hätte, ihm unsere zu erklären. »Wie seid ihr politisch organisiert?«, bohrte ich, »Wer trifft die gesellschaftlichen Entscheidungen?« - »Diejenigen, die sie betreffen. Alle kleineren Sachen werden vor Ort geregelt, kommunal. In Berlin gab es kürzlich eine größere Debatte, ob wir ein neues Werk für elektronische Gebrauchsgüter oder lieber ein schöneres Theater bauen. Ich gehörte zu den Theaterbefürwortern. In einer langen Diskussion wurde das Für und Wider erwogen. Beim Entscheid der Stadtbevölkerung hat unsere Position dann die Mehrheit gewonnen.« Er lächelte zufrieden.

»Regelt ihr alles über Plebiszite?«, wollte ich wissen. »Nein, das wäre doch zu umständlich«, erklärte er. »Es gibt natürlich auf allen Ebenen auch gewählte Vertretungen.« - »Und Parteien?«, fragte ich. »So etwas Ähnliches«, erläuterte er. »Für konkrete Programme und Projekte bilden sich Vereinigungen, die mit ihren Konzepten konkurrieren. Über Wahlen wird dann der mehrheitlich gewünschte Trend ermittelt.« - »Also eine Art Parlamentarismus?« - »Wir nennen es so nicht. Die Menschen, die bei uns in den Kammern sitzen, bleiben dort maximal acht Jahre. Sie sind nicht das, was man bei Ihnen Berufspolitiker nennt, sondern normale Leute aus allen Berufen, in die sie dann auch zurückkehren. Auch die Vereinigungen verändern sich bei uns viel öfter: lösen sich auf, bilden sich neu. Neben den gewählten Kammern gibt es übrigens Räte der Alten und Weisen. In sie werden - auf Lebenszeit - angesehene Senioren gewählt: herausragende Wissenschaftler, Dichter, bedeutende Erfinder. Sie haben nur beratende Funktion, aber ihr Rat wiegt schwer.«

Wir schwiegen. Ihm zu folgen fiel mir zwar leicht, aber er forderte mich ganz schön. Er nahm den Gesprächsfaden wieder auf: »Vor allem unterscheidet sich unser System von eurem dadurch, dass unsere Kammern tatsächliche Macht haben: Sie sind befugt, alle für ihren Kompetenzbereich relevanten Entscheidungen zu fällen.« - »Also auch wirtschaftliche Entscheidungen?«, hakte ich nach. - »Ja, sicher. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen betreffen doch die Bevölkerung. Grundsatzfragen müssen überdies im Volksentscheid bestätigt werden. Ökonomische Detailfragen werden natürlich von den Beschäftigten in den Betrieben entschieden.« - »Nach welchen Kriterien?«, wollte ich wissen. - »Danach, was die Verbraucher haben wollen. Bei vielen langlebigen Gütern läuft es ähnlich wie bei den Häusern: Man bestellt nicht einfach irgendwelche produzierten Sachen, sondern gestaltet sie nach eigenen Wünschen, bevor sie produziert werden. Kein Betrieb hat deshalb mehr ein Interesse daran, den Leuten irgendwelche Moden aufzuschwatzen.«

»Kann jeder so viel bestellen, wie er will?«, möchte ich wissen. Er lacht. »Nein, das Schlaraffenland haben wir nun noch nicht. Der individuelle Zugriff ist schon durch Geld limitiert. Aber wir haben so viel zu verteilen, dass jeder reichlich bekommt. Auch deshalb, weil wir all den anderen Unsinn, den Ihre Zeit mit Geld anstellt, rigoros abgeschafft haben.« - »Wie meinen Sie das?«, fragte ich, obwohl ich ahnte, worauf er hinauswollte. »Wissen Sie«, antwortete er, »ich war in London, New York und Frankfurt und habe mir Ihre Glücksritter bei der Arbeit angesehen.« Seine Stimme bekam einen angewiderten Beiklang. »Es gibt ja bei uns auch noch ein paar Spielhäuser«, räumte er ein. »Sie sind nicht sehr angesehen, aber ihre Schließung hat doch nie eine Mehrheit gefunden. Also blieben sie stehen, und wer will, kann hingehen. Wahrscheinlich hat es Glücksspiel immer gegeben. Aber dass eine Gesellschaft die wichtigsten Entscheidungen ihres ökonomischen Lebens nach den obskuren Vorgaben eines Spielkasinos fällt, dass sie technische Anlagen stilllegt oder weiterbetreibt, Menschen in Arbeit bringt oder auf die Straße wirft, Erfindungen umsetzt oder in den Schubladen belässt, alles abhängig davon, ob die lächerliche Roulettekugel der Kurstabellen 'hoch' oder 'niedrig', 'steigend' oder 'fallend' anzeigt, das war es, was ich mit eigenen Augen sehen wollte, weil ich es nicht glauben konnte ...«

Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, fuhr er unerbittlich fort: »Ich finde, was am meisten gegen eure Zeit spricht, ist ihre Verlogenheit. Sie schmückt sich mit schönen Titeln, die sie alle nicht verdient. Sie nennt sich frei, aber selten waren Menschen enger in unbarmherzige Zwänge eingeschnürt. Sie preist die Individualität - und produziert Uniformität ohne Ende. Sie nennt sich eine Überflussgesellschaft, was allenfalls insofern stimmt, als sie viel Überflüssiges produziert. Aber sie produziert nicht zu viel, sondern zu wenig wirklichen Reichtum. Das ist mir überhaupt aufgefallen, es ist wahrscheinlich nie in der Geschichte so viel produziert und so wenig genossen worden wie zu Ihrer Zeit. Die Leute haben verlernt zu genießen. Wie kann man in Lokalen ohne jeden Charme Chemienahrung aus Wegwerfbechern essen?«

Er meinte McDonald's, nahm ich an. Ich ließ ihn weiterreden. Er schaute an sich herunter. »Ich habe abgenommen, seit ich hier bin. Es ist so schwer, gutes Essen zu finden. Sicher haben sie auch erstklassige Restaurants. Aber sie verschwinden in einem Meer von schlechten.« - »Wie und was isst man denn bei Ihnen so?«, fragte ich interessiert. »Köche sind bei uns einer der geachtetsten und bestbezahlten Berufsstände«, erklärte er mir. »Man hat eingesehen, dass Kochen ebenso Profession ist wie das Erstellen von Computersoftware. Also überlassen wir es weitgehend den Fachleuten. Wir finanzieren unseren Köchen eine gute Ausbildung. Die Regeln, die erfüllt sein müssen, ehe einer seine Gerichte öffentlich anbieten darf, sind streng. Schlechtes Essen würden die Leute bei uns nicht durchgehen lassen. Ich glaube«, sagte er nach kurzer Überlegung, »die Essgewohnheiten eines Jahrhunderts sagen einiges über seinen Charakter aus. Bei euch ist der Begriff des Genusses auch sprachlich weitgehend verschwunden. Allenfalls wünscht ihr euch gegenseitig Spaß. Aber Spaß ist viel oberflächlicher als Genuss. Zumal ich den Eindruck habe, dass Konsumieren für die meisten nicht einmal mehr Spaß bedeutet, sondern Stress. Man kauft nicht, weil man die Dinge braucht oder Gefallen daran findet. Allein seit dieser neurotische Kaufzwang wegfiel, hatten wir plötzlich unglaublich viel Zeit und Ressourcen für die wichtigen Dinge frei.

Apropos Zeit ...« Er schaute auf die Uhr. »Oh Gott, ich muss mich für die Rückkehr fertig machen. Heute war mein letzter Abend bei euch.« - »Darf ich eine letzte Frage stellen?«, bat ich ihn. Er nickte freundlich. »Welche Fragen würden Sie der Generation stellen, die heute zwischen 20 und 40 Jahre alt ist?« Er dachte kurz nach. Dann antwortete er: »Warum verschließt ihr euch Veränderungen, die auf der Hand liegen? Warum gebt ihr wenigen Leuten die Macht, die Lebensqualität vieler zu bestimmen und oft genug zu zerstören? Warum produziert ihr mit euren enormen technologischen Möglichkeiten so unvorstellbar viel Schrott, und warum duldet ihr nach wie vor so grauenvolle Armut? Wieso gestaltet ihr euer Leben so abstrus, so irrational, so oberflächlich, wo ihr doch wisst, dass ihr nur einmal lebt?«