Sahra Wagenknecht

Die EU-Menschenrechtspolitik - Selbstbeweihräucherung als Programm

Rede von Sahra Wagenknecht auf der Eröffnung des 13. Antifaschistischen Jugendtreffens der VVN-BdA am 12.01.08 in Berlin

12.01.2008

Die Menschenrechtspolitik der EU ist im Wesentlichen durch drei Merkmale geprägt: Zum einen werden soziale Menschenrechte systematisch ausgeblendet und der Menschenrechtsbegriff wird auf die Gewährung politischer und bürgerlicher Rechte verengt. Zum zweiten werden Menschenrechtsverletzungen, die von Mitgliedstaaten der EU begangen werden, nicht benannt - und zwar sowohl wenn sie innerhalb als auch außerhalb der EU geschehen. Und zum dritten nutzt die EU nach dem Vorbild der USA ihre Menschenrechtspolitik als Instrument einer Außenpolitik, die darauf ausgerichtet ist, den Sturz unliebsamer Regierungen weltweit mitzubefördern.

Ich möchte im Folgenden auf alle drei Punkte näher eingehen und diese anhand von Beispielen illustrieren. Beginnen möchte ich mit den Stiefkindern der Menschenrechte, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten.

Formal sind die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte den bürgerlichen und politischen Menschenrechten gleichgestellt. Seit dem Ende der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West nimmt die Gewährung sozialer und wirtschaftlicher Rechte allerdings einen deutlich geringeren Platz in der öffentlichen Wahrnehmung ein.

Wenn von Menschenrechten die Rede ist, geht es meist um das Recht auf freie Meinungsäußerung, es geht um Folter und Todesstrafe, um den Schutz vor willkürlichen Festnahmen und um Religionsfreiheit - essentielle grundlegende und unveräußerliche Rechte, die im UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte festgelegt sind.

Selten hingegen geht es jedoch im Kontext der Menschenrechte um Hunger und Bildung, um das Recht auf Arbeit und um das Streikrecht, um soziale Absicherung und sichere Arbeitsbedingungen - alles Rechte, die im UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgeschrieben sind. Diese Rechte werden eher als eine Art Luxusrechte behandelt - nicht jedoch als das, was sie sind: grundlegende Menschenrechte, zu deren Umsetzung sich die mittlerweile 156 Staaten, die den Pakt ratifiziert haben, verpflichtet haben und deren Gewährleistung in vieler Hinsicht die Basis dafür ist, dass die Menschen an den politischen Menschenrechten überhaupt partizipieren können. Es reicht nicht aus, formal freie Wahlen zu fordern, ohne dafür zu sorgen, dass die Menschen auch lesen können und damit überhaupt in der Lage sind, sich tatsächlich eine eigene Meinung zu bilden. Und wer hungert und damit ausgelastet ist, sein elementares Überleben zu organisieren, den dürfte das Recht auf freie Meinungsäußerung auch nicht unbedingt vorrangig interessieren.

In der EU-Menschenrechtspolitik führt die Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) eher ein Schattendasein - auch wenn formal betont wird, dass die EU diesen Rechten die gleiche Bedeutung zumisst wie den bürgerlichen und politischen Rechten. So steht es beispielsweise im aktuellen Bericht der EU über die Menschenrechtslage 2007, der am 20. November des letzten Jahres vorgelegt wurde. In diesem 216 Seiten starken Dokument gibt es zwar einen eigenen Abschnitt zu den WSK-Rechten, in dem betont wird, wie wichtig man diese Rechte findet und wie man sich für ihre Stärkung im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation und der UNO sowie der Entwicklungspolitik einsetzt. Dieser Abschnitt ist indessen ganze fünf Seiten lang.

Auf den restlichen 200 Seiten ist herzlich wenig von diesen Rechten die Rede, abgesehen von einem kurzen Abschnitt zu "Menschenrechten und der gewerblichen Wirtschaft", der die Verantwortung europäischer Unternehmen behandelt, die doch bitte nicht unter Missachtung elementarster Menschenrechte weltweit ihre Profite mehren mögen. Ob dieser Abschnitt irgendeinen Konzernvorstand dazu bringt, von Hungerlöhnen, katastrophalen Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit Abstand zu nehmen, darf freilich bezweifelt werden.

Im Rest des Berichts geht es dann vor allem um die tatsächlichen Schwerpunkte der EU in ihrer Menschenrechtspolitik: die politische Einflussnahme der EU in den internationalen Beziehungen. Diese ist in der Tat erheblich und wird nur zu gerne mit dem Mäntelchen der Menschenrechtspolitik kaschiert. Einer mehr als selektiven Menschenrechtspolitik, wie sich von selbst versteht.

Natürlich wird dies nicht explizit gesagt, aber ein Blick auf die im Jahresbericht gesondert erwähnten Länder und Regionen lässt es klar erkennen: So wird bestimmten Regionen und Ländern großer Raum gegeben, während andere Länder kaum eine Erwähnung finden. Lange Abschnitte finden sich über Menschenrechtsprobleme in Russland und in China. Über die Menschenrechtslage in Kuba drückt die EU im Menschenrechtsbericht ausführlichst ihre Sorge aus - selbstverständlich ohne nur im geringsten beispielsweise das kubanische Gesundheits- und Bildungssystem zu erwähnen, das jedem kostenlos zur Verfügung steht. Anstattdessen wird pathetisch die Solidarität mit "allen friedliebenden Kubanern, die der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der universellen Menschenrechte verbunden sind" abgefeiert und unverhohlen zur "praktischen Unterstützung auf dem Weg zu einem friedlichen Wandel in Kuba" aufgerufen.

Auch die Sorge über die Nichtverlängerung der Sendelizenz eines venezolanischen Fernsehsenders darf selbstredend nicht fehlen, wohlgemerkt es geht nicht um die Schließung, sondern die Nichtverlängerung der Lizenz eines Senders, der gerne zum Sturz der Regierung aufgerufen hat.

Es ist auch nicht etwa so, dass es im Bericht kein Lob gäbe. Mitnichten. Nur bezieht sich das Lob ausgerechnet auf Länder, von denen man es eigentlich nicht erwartet, da sie nicht gerade durch ihr Eintreten für Menschenrechte von sich reden gemacht haben. So besteht der Abschnitt zu Marokko fast ausschließlich aus Lob. Man erinnere sich: U.a. hält Marokko weiterhin das Gebiet der Westsahara besetzt und lässt seine Sicherheitskräfte dort regelmäßig Demonstrationen brutal niederschlagen. Aber natürlich: Marokko ist ein Verbündeter der EU, dessen Kooperation man insbesondere bei der Sicherung der Außengrenzen gegen illegale Migration benötigt. Da werden gern alle Augen zugedrückt.

Geradezu grotesk wird es, wenn im Menschenrechtsbericht der EU in Bezug auf ein Land wie Saudi-Arabien zu lesen ist, dass es im letzten Jahr "gewisse positive Entwicklungen" gegeben habe und "Menschenrechtsangelegenheiten immer mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken scheinen".

Frauenrechte finden im kurzen Absatz zu Saudi-Arabien erst gar keine Erwähnung - und das in einem Menschenrechtsbericht über das Jahr 2007, das von der EU als Jahr der "Chancengleichheit für alle" ausgerufen wurde.

Fazit: Der Jahresbericht der EU spiegelt das wider, was die EU-Politik im Bereich Menschenrechte grundsätzlich kennzeichnet: selektives Handeln entsprechend der eigenen Interessenlage, Lob und Tadel nach politischen Präferenzen und auf der Grundlage ökonomischer und strategischer Überlegungen.

Um diese Politik ökonomisch zu untersetzen, hat sich die EU, nach dem Beispiel der USA, ein neues Instrument geschaffen, das diesen Zwecken unauffällig dienen soll. Es handelt sich um einen Geldtopf "für die weltweite Förderung der Demokratie und der Menschenrechte", der weitgehend ohne öffentliche Beachtung im Dezember 2006 ins Leben gerufen wurde und für die im Haushaltszeitraum von 2007 bis 2013 1,1 Mrd. Euro zur Verfügung stehen, also etwa 160 Mio. Euro pro Jahr.

Mithilfe dieses Geldes sollen Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Stiftungen finanziert werden, wobei diese Mittel ohne wirksame Kontrolle an entsprechende Partner geschleust werden und somit einen aktiven Beitrag leisten können, um beispielsweise den Sturz unerwünschter Regime zu befördern.

Vorbild war ganz offensichtlich die US-Agentur National Endowment for Democracy. Diese wurde in den 80er Jahren vom damaligen Präsidenten Ronald Reagan gegründet und wird seitdem eingesetzt, um fortschrittliche Bewegungen zu destabilisieren und Strukturen zu fördern, die an der Beseitigung unliebsamer Regierungen arbeiten. Aktivitäten sind beispielsweise aus Venezuela, Weißrussland und der Ukraine bekannt.

Ähnlich soll auch das EU-Menschenrechtsinstrument (EIDH) arbeiten. Laut Zielsetzung soll »die Gemeinschaftshilfe im Rahmen dieser Verordnung dank ihres globalen Charakters und ihrer Unabhängigkeit von der Zustimmung der Regierung von Drittstaaten und anderen staatlichen Behörden eine eigene und komplementäre Rolle spielen« (EIDH, Punkt 13). Die Finanzhilfe der EU soll insbesondere auf die »stärkere Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten« abzielen sowie die »Förderung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit« beinhalten. In einem Entwurf des Finanzinstruments war sogar explizit vorgesehen, daß die Zahlungen geheim erfolgen können. Die letztendliche Entscheidung, welche Organisation mit wie viel Geld bezuschusst wird, liegt allein bei der EU-Kommission mit einem Apparat von einigen hundert EU-Beamten.
Das Menschenrechtsinstrument ist erklärter Teil der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« der EU. Ganz offen wird seitens der EU-Außenkommissarin eingestanden, daß mit diesem Instrument erstmals ohne jede Beteiligung der betroffenen Regierungen an die dortigen Staatsangehörigen herangetreten werden kann: »Die Umsetzung unserer Menschenrechtspolitik und solcher Projekte erfolgt durch Nichtregierungsorganisationen. Daher ist das Besondere an unserem neuen Instrument, daß wir direkt und autonom die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen unterstützen können, die einen großen Erfahrungsschatz bei der Durchführung vor Ort besitzen«, so Benita Ferrero-Waldner.

Und warum man beim europäischen Werteexport auf die internationale Kooperation angewiesen ist, daran ließ sie keinen Zweifel: »Wir können diese Werte aber nicht alleine auf der Welt propagieren, sonst würden sie ja auch oft als ›Neokolonialismus‹ von einigen abgelehnt. Es handelt sich um universelle Werte, die wir mit internationalen Partnern gemeinsam vorantreiben.«

Welche Partner dafür infrage kommen und wie ein gemeinsames Vorantreiben universeller Werte aussehen kann, lässt sich bereits heute an Orten wie Afghanistan oder dem Irak beobachten. Zur systematischen Verletzung elementarer Menschenrechte durch die EU und ihre Mitgliedstaaten, beispielsweise durch die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen gibt es allerdings auch im Menschenrechtsbericht der EU keine kritische Stellungnahme. Es nimmt sich angesichts von 151.000 zivilen irakischen Bürgerinnen und Bürgern, die nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation seit Beginn der US-geführten Invasion des Irak ums Leben gekommen sind, nur noch zynisch aus, wenn die EU im Menschenrechtsbericht betont, sie setze sich im Irak für eine "Konsolidierung der Sicherheitslage durch die Stützung des Rechtsstaatssystems und die Förderung einer Kultur der Achtung der Menschenrechte" ein.

Doch von Selbstkritik ist im EU-Menschenrechtsbericht ohnehin nichts zu spüren. Menschenrechtsverletzungen gibt es in der EU keine, wenn man dem Jahresbericht Glauben schenkt. Erwähnt werden zwar problematische Politikfelder wie die Datenüberwachung, die Asyl- und Migrationspolitik, die Minderheitenpolitik. Diese Abschnitte stehen jedoch vor allem im Dienste der Öffentlichkeitsarbeit. Die EU nutzt sie, um sich als Wahrerin und Hüterin der Menschenrechte zu präsentieren. Die Realität wird konsequent ausgeblendet.

Nur zwei Beispiele: Lang und breit berichtet die EU über die wichtige Rolle, die Minderheitenrechten zukommen und betont dann mit einem herausgestellten Zitat die Wichtigkeit, die dem Schutz von Minderheitenrechten gerade im Kontext eines EU-Beitrittsprozesses zukommt. Dies dürfte freilich beispielsweise in den baltischen Ländern bei den dort lebenden russischsprachigen Minderheiten Übelkeit erzeugen, die als Folge des EU-Beitrittes sogar ihre Staatsangehörigkeit verloren und in Estland und Lettland, Ländern in denen sie seit Jahrzehnten leben, teilweise sogar geboren sind, nun als Staatenlose mit eingeschränkten Rechten ihr Dasein fristen. Die EU hat das nie interessiert, zu wichtig war ihr der Beitritt ehemaliger Sowjetrepubliken, als dass wirksame Minderheitenrechte vereinbart worden wären.

Das zweite Beispiel: die Asylpolitik. Als Auswirkung der massiven Abschottung der EU-Außengrenzen sind alleine im vergangenen Jahr mindestens 1861 Menschen beim Versuch, die Festung Europa zu erreichen, gestorben. Davon ist selbstverständlich im EU-Jahresbericht nicht die Rede. Anstatt dessen heißt es wörtlich: "Gemeinsame Operationen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten tragen zur Bekämpfung der illegalen Migration und zur Rettung von Menschenleben bei." Eine deutlichere Umkehr von Ursache und Wirkung kann man kaum vornehmen.

Alles in allem lässt sich sagen, dass die EU ihre Menschenrechtspolitik schlicht in den Dienst ihrer globalen Einflusspolitik stellt. Ein selbstkritischer Umgang mit der eigenen Rolle, eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit grundlegenden menschenrechtspolitischen Problemfeldern und dem eigenen Agieren im internationalen Umfeld, eine Reflexion der gravierenden Verstöße innerhalb der EU oder aufgrund von Aktivitäten der EU, ist und bleibt Fehlanzeige.

Die unkritische Selbstbeweihräucherung, die der EU-Menschenrechtspolitik inneliegt, ist angesichts ihrer vielfältigen Versäumnisse und Verstöße gegen grundlegende Rechte und einer Politik, die auf den Abbau von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten setzt und die Einschränkung von Freiheitsrechten willig in Kauf nimmt, unerträglich und ein Schlag ins Gesicht der vielen Menschen in der EU und weltweit, die unter den Folgen dieser verfehlten Politik zu leiden haben.