Sahra Wagenknecht

Estland: Prozess beenden – rechtsstaatliche Standards durchsetzen!

Presseerklärung vom 31.01.2008

31.01.2008

Nach ihrer Rückkehr aus Estland, wo sie den dort stattfindenden Prozess gegen die vier als Initiatoren der Ausschreitungen in Tallinn vom vergangenen April Angeklagten beobachtet und Gespräche mit den Angeklagten sowie verschiedenen Organisationen geführt hat, erklärt Sahra Wagenknecht, Mitglied des Europäischen Parlaments und des Parteivorstands der LINKEN:

Nach allem, was ich in Estland erfahren und gesehen habe, ist der Prozess von gravierenden Mängeln geprägt. So wurde vor dem Prozess seitens der estnischen Behörden versucht, massiv auf Zeugen Einfluss zu nehmen. Die gegen die Angeklagten vorgebrachten Anschuldigungen erscheinen nicht nur ausgesprochen konstruiert und vage, sondern beruhen zudem weitestgehend auf E-mails und SMS-Nachrichten, die auf rechtlich fragwürdige Weise abgehört wurden. Vollständig unhaltbar erscheinen mir die Vorwürfe, dass die Angeklagten monatelang die Ereignisse vom April generalstabsmäßig geplant haben sollen. Nach vielfältigen Zeugenaussagen sind die Kundgebungen im April des vergangenen Jahres weitgehend spontan entstanden, nachdem bekannt wurde, dass das Denkmal abtransportiert werden solle. Außerdem hatten sie einen durchgehend friedlichen Charakter. Die Eskalation der Ereignisse sei durch die unmäßige und brutale Vorgehensweise der Polizei und weiterer estnischer Sicherheitsorgane, vor allem der Geheimpolizei, provoziert worden. Dies wurde mir auch von einem unmittelbar Betroffenen, dem in Estland lebenden Deutschen Klaus Dornemann bestätigt, der willkürlich festgenommen, eine Nacht in Haft gehalten und brutal misshandelt wurde.

Der gegen die Angeklagten Dmitri Linter, Mark Siryk, Maxim Reva und Dmitri Klensky geführte Prozess hat einen klar politischen Charakter. Hierzu passt es auch, dass sich der estnische Ministerpräsident zu Beginn des Prozesses für die Höchststrafe von fünf Jahren ausgesprochen hat. An den Angeklagten soll ein Exempel statuiert werden, um so Kritik an der estnischen Politik zu verhindern – einer hochproblematischen Politik, die auf die Spaltung der Gesellschaft setzt und alles dafür tut, die russischsprachige Bevölkerung, die immerhin ein Drittel der Bevölkerung in Estland ausmacht, zu entrechten und marginalisieren. Es ist kein Zufall, dass sich die Ereignisse des vergangenen Aprils gerade am provokativen behördlichen Abtransport eines antifaschistischen Denkmals entflammten.

Es ist ein Skandal, dass sich die Europäische Union im Fall von Estland bislang auf die Position zurückzieht, es handele sich um innere Angelegenheiten des Landes. Die eklatanten Verstöße Estlands gegen grundlegende Normen, u.a. was den Schutz und die Rechte von Minderheiten betrifft, die rechsstaatlichen Mängel, die im Prozess gegen die vier Angeklagten zum Ausdruck kommen, der offene Einfluss der Politik auf die Justiz – all dies widerspricht elementaren Prinzipien der Europäischen Union, zumindest soweit sie in den Europäischen Verträgen verankert sind. Es ist höchste Zeit, von Estland das einzufordern, wozu es sich beim Beitritt zur EU verpflichtet hat: die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards!

Sahra Wagenknecht, MdEP
Brüssel, den 31.01.2008