Sahra Wagenknecht

"Wie Sie den Leuten heile Welt vorspielen, das erinnert sehr an die DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera"

Rede von Sahra Wagenknecht in der Bundestagsdebatte vom 20.01.2011 zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung

20.01.2011
Sahra Wagenknecht, DIE LINKE: Heile Welt von Schwarz-Gelb à la DDR-Nachrichten Aktuelle Kamera

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, nach so viel Selbstbeweihräucherung sollte man mal wieder auf die Realität zu sprechen kommen.

Auch wenn Sie sich noch so sehr in die Tasche lügen: Dieser Wirtschaftsaufschwung, für den sich diese Regierung hier seit inzwischen zwei Stunden selbst feiert, findet für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land schlicht nicht statt. Er findet genauso wenig statt wie der letzte Wirtschaftsaufschwung 2005 bis 2007. Damals hatte noch eine andere Regierung die Verantwortung getragen; aber über Kontinuität ist hier ja schon mehrfach gesprochen worden.

Was wir jetzt haben, ist ein Aufschwung für die Ackermänner, die wieder nach Herzenslust zocken können.

Das ist ein Aufschwung für die Konzerne, die sich schon wieder dumm und dämlich verdienen und trotzdem nicht investieren, und es ist natürlich ein Aufschwung für die Multimillionäre, deren Vermögen in den letzten zwei Jahren explodiert ist, vor allen Dingen auch im Krisenjahr 2009.

Dass wir immer wieder Aufschwünge dieser Art bekommen, hat natürlich auch damit zu tun, dass dieses Land seit Jahren mit Regierungen gestraft ist, die von den Ackermännern, von den Konzernen, von den Multimillionären gekauft sind. Das ist das zentrale Problem. Das fing bei Rot-Grün an und hat sich bis heute nicht verändert.

Es gab in grauen bundesdeutschen Vorzeiten mal einen Kanzler, der tatsächlich Wohlstand für alle schaffen wollte. Wie fremd Ihnen auch nur dieser Anspruch geworden ist, merkt man daran, mit welcher Selbstgefälligkeit Sie hier eine Situation in den Himmel loben, in der der Wohlstand der großen Mehrheit der Menschen nicht steigt, sondern sinkt. Und das feiern Sie hier auch noch!

Wenn in den letzten zwei Jahren in Deutschland 366 000 Industriearbeitsplätze abgebaut werden ‑ davon allein im Jahr 2010 136 000 ‑, ist das für diese Regierung ein Jobwunder. Wenn die Maschinenbaubranche in Deutschland derzeit 17 Prozent weniger produziert als vor der Krise und die realen Nettolöhne pro Arbeitnehmer sich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 bewegen, dann feiern Sie das als den größten Wirtschaftsaufschwung der bundesdeutschen Geschichte. Das ist doch absurdes Theater, was Sie hier vorspielen ‑ schlechtes absurdes Theater.

Die Gefahr ist natürlich groß, dass es noch erheblich schlimmer kommt; das ist schon angesprochen worden. Ab Mai dieses Jahres gibt es in Europa die Arbeitnehmerfreizügigkeit. In eine solche Situation mit einem deregulierten Arbeitsmarkt wie dem deutschen zu gehen ‑ ohne Mindestlohn und mit einem boomenden Leiharbeitssektor, der mit seinen perspektivlosen Hungerlohnjobs schon jetzt immer mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängt ‑, ist doch ein Himmelfahrtskommando!

Oder es ist eine bewusst kalkulierte neue Runde brutalen Lohndumpings. Wenn es Ihnen darum geht, erzählen Sie uns aber bitte nicht mehr, wie es im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie erwarten, dass der Konsum in diesem Jahr wahnsinnig zulegen wird.

Da fragt man sich schon: Wo soll denn dieser plötzliche Konsumrausch eigentlich herkommen? Von den Beschäftigten, die Anfang des Jahres schon wieder weniger Netto vom Brutto haben? Von den Rentnerinnen und Rentnern, deren Kaufkraft seit Jahren sinkt, weil ihre Renten, wenn sie überhaupt steigen, in geringerem Umfang als die Inflation steigen? Von den lächerlichen 5 Euro pro Monat mehr für Hartz-IV-Empfänger, die Sie ihnen längst schon wieder zehnfach aus der Tasche gezogen haben? Das ist doch das, was läuft! Oder von den Kleinunternehmern, die froh sein können, wenn sie vom Kreditgeiz der Banken noch nicht in die Pleite getrieben wurden? ‑ Da soll Ihr Konsumrausch herkommen? Das ist doch absurd!

Die Konjunktur des letzten Jahres wurde nahezu ausschließlich vom Export und von den Staatsausgaben getragen.

Beides wird sich nicht fortsetzen. Die Bestellungen aus dem Euro-Raum sind bereits eingebrochen; schon Ende letzten Jahres sind sie eingebrochen, und das ist auch kein Wunder. Und von einer Ausweitung öffentlicher Ausgaben kann angesichts überschuldeter Kommunen und angesichts von Spardiktaten in Bund und Ländern sowieso keine Rede sein. Wenn Export und Binnennachfrage in so einer Situation die, wie Sie im Jahreswirtschaftsbericht schreiben, stabilen Säulen bzw. stabilen Standbeine dieses Aufschwungs sein sollen, dann heißt das nichts anderes, als dass der Aufschwung auf verdammt tönernen Füßen steht.

Wenn Sie wirklich wollen, dass sich der Binnenmarkt erholt, dann müssen Sie einen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde einführen.

Erzählen Sie nicht immer wieder diesen elenden Quatsch, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden. Durch Einführung eines Mindestlohns wurden weder in Frankreich noch in Großbritannien noch sonst wo Arbeitsplätze vernichtet, sondern Arbeitsplätze geschaffen. Verbieten Sie das Lohndumping via Leiharbeit, und erhöhen Sie den Hartz-IV-Satz auf 500 Euro.

Das ist das Mindeste, was ein Mensch zum Leben braucht. Sie alle könnten davon wahrscheinlich gar nicht leben.

Sorgen Sie vor allem dafür, in Deutschland und in Europa, dass die explodierenden Staatsschulden denen in Rechnung gestellt werden, die sie verursacht haben, und nicht der Bevölkerung. Dafür sollten Sie sich einsetzen, statt immer mehr Länder in die Depression zu treiben und zugleich immer größere Risiken beim deutschen Steuerzahler abzuladen. Das ist verantwortungslos.

Abschließend möchte ich Ihnen sagen: So wie ich Sie, Herr Brüderle, bei Ihrer Regierungserklärung und die Vertreter der Regierungsparteien hier erlebt habe, hatte ich das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis. Die Art und Weise, wie Sie die wirtschaftliche Realität wegreden, wie Sie Instabilität und Krisenanfälligkeit wegreden und den Leuten heile Welt vorspielen, und die Selbstgefälligkeit, die Sie zur Schau tragen, erinnert mich ‑ das muss ich sagen ‑ wirklich sehr an die letzten Ausgaben der DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera. Das ist das Niveau, auf dem Sie inzwischen angekommen sind.

Man kann sich nur wünschen, dass die Menschen Ihnen dafür bei den anstehenden Wahlen eine angemessene Quittung verpassen werden. Danke schön.