"Ein außerordentlich lesenswertes, faktenreiches Buch"

Sahra Wagenknecht über "Griechenland, die Krise und der Euro", das neue Buch von Andreas Wehr

05.10.2010
Buchrezension von Sahra Wagenknecht

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist nicht vorbei. Zwar sind die Auftragsbücher der deutschen Industrie wieder gut gefüllt, doch der Aufschwung beschränkt sich auf wenige Kernländer Europas. In der EU-Peripherie sieht es ganz anders aus. Ob in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal, Ungarn, Rumänien oder im Baltikum, überall klagen Privatpersonen, Unternehmen und Staatshaushalte über enorme Schuldenlasten. Drastische Haushaltskürzungen lassen die Wirtschaft nicht hochkommen und treiben die Arbeitslosigkeit auf immer neue Rekordhöhen. Wie ist eine solche ungleiche Entwicklung innerhalb eines Wirtschaftsraums zu erklären? Andreas Wehr zeigt, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ja mehr noch: Wie das eine das andere bedingt.

Seit Jahren konkurriert die Industrie des Exportweltmeisters Deutschland die der Peripheriestaaten gnadenlos nieder. Der freie Binnenmarkt der EU macht es möglich. So begann die Deindustrialisierung Griechenlands bereits mit seinem Beitritt zur EU 1981. Die aus den Exportüberschüssen erzielten Gewinne Kerneuropas wurden zu großen Teilen in der europäischen Peripherie angelegt und finanzierten dort den Kauf deutscher Güter. Diese Kreislaufwirtschaft ist jetzt, in der Krise, zusammengebrochen. Die Peripheriestaaten sitzen auf gigantischen Schuldenbergen, von denen sie nicht wissen, ob sie sie jemals abtragen können. Die Banken Kerneuropas halten Forderungen über Hunderte von Milliarden Euro in der Hand, von denen sie nicht wissen, was sie davon eintreiben können. Das ist das Szenario der europäischen Krise, wie es in den ersten beiden Kapiteln des Buches beschrieben wird.

Doch das Finanzkapital wäre nicht das Finanzkapital, würde es einem fairen Ausgleich der Interessen von Schuldnern und Gläubigern zustimmen. Es kennt nur ein Ziel – Rückzahlung aller Kredite bis auf den letzten Cent. Zu diesem Zweck üben Ackermann und seine europäischen Bankkollegen massiven Druck aus: Auf die Regierungen in Berlin, Paris und London, auf die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Wie die sich lange sträubende Bundesregierung von diesen wirklich Mächtigen am Ende doch noch breitgeklopft wurde, liest sich in dem Buch fast wie ein Krimi. Im April/Mai dieses Jahres war es dann so weit: Es kam zur »Bankenrettung – zweiter Teil«. Bei der Beschreibung dieses Coups lässt der Autor die großen Tageszeitungen selbst sprechen. Dort war nahezu täglich unverblümt zu lesen, in wessen Interesse das »Rettungspaket für Griechenland« geschnürt und der »Rettungsschirm« für die Eurozone aufgespannt wurden.

Am Beispiel Griechenlands wird von den Mächtigen demonstriert, was einem Land passiert, lassen es die Finanzmärkte fallen. Das von EU-Kommission und Internationalem Wirtschaftsfonds diktierte Kürzungsprogramm degradiert Griechenland zu einem »Protektorat«. Und was EU und IWF heute dort ausprobieren, wird morgen auch in Portugal, Spanien, Irland und anderswo Realität. Neben der ausführlichen Darstellung der Lage Griechenlands findet man in dem Buch Analysen der Krisenentwicklung in Island, Lettland und Spanien. Andere besonders betroffene Länder wie Irland, Portugal, Ungarn und Rumänien werden leider nur am Rande gestreift. Aber auch über sie hätte man gerne mehr erfahren.

Man bekommt die kalte Wut, liest man in dem Buch, wie deutsche Medien gegen Griechenland hetzen, nach seiner »Bestrafung« rufen und den Lohnabhängigen bei uns zugleich einzureden versuchen, sie würden mit ihren Steuergeldern für komfortabel versorgte griechische Rentner aufkommen, wo sie doch in Wahrheit für die Sicherung der Bankgewinne zahlen. Schon wieder werden Völker gegeneinander aufgehetzt!

Nach der Lektüre ist die Rolle der Bundesregierung als devoter Handlanger des Finanzkapitals nicht mehr zweifelhaft. Keinerlei Illusion kann man sich mehr über die Rolle der Europäischen Union machen. Zusammen mit dem IWF fungiert die EU heute gegenüber den Schuldnerländern als moderne Version des Kanonenboots der alten imperialistischen Staaten, das regelmäßig vor fremden Küsten erschien, wollte irgendein Land seine Schulden nicht begleichen. Und was die EU angeht, so kennt sich der Autor mit ihr bestens aus. Im Europäischen Parlament ist Andreas Wehr in der linken Fraktion GUE/NGL Koordinator für Wirtschaft und Währung.

Was die weitere Perspektive angeht, so ist er skeptisch, ob die Pläne des Finanzkapitals am Ende wirklich aufgehen. Die harten Kürzungen drücken das griechische Bruttoinlandsprodukt tief ins Minus. Der zähe Widerstand der dort von den Kürzungen am härtesten Betroffenen tut ein Übriges. Nach Meinung von Wehr wird deshalb kein Weg an einem »Haircut«, einem Forderungsverzicht der Banken, vorbeiführen.

Alles in allem: ein außerordentlich lesenswertes faktenreiches Buch.

Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. PapyRossa. 179 S., br., 12,90 €.