Sahra Wagenknecht

Ein paar bessere Regeln reichen nicht

Artikel von Sahra Wagenknecht zum Programmentwurf der Partei DIE LINKE, erschienen in "Neues Deutschland" am 04.10.2010

04.10.2010
Sahra Wagenknecht

Die Partei DIE LINKE will im Herbst 2011 ein Grundsatzprogramm beschließen. Über den Entwurf wird derzeit diskutiert, am 7. November dieses Jahres soll es einen bundesweiten Programmkonvent in Hannover geben. ND begleitet die Debatte mit einer Artikelserie. Heute: Sahra Wagenknecht sieht durch das Kartell der Wirtschaftsgiganten die Demokratie ausgehöhlt und plädiert für eine Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums. Der vorliegende Programmentwurf dürfe daher nicht verwässert werden, sagt die Bundestagsabgeordnete und Vize-Vorsitzende der LINKEN, die auch Mitglied der vierköpfigen Redaktionskommission für das Programm ist.

Kaum war der Entwurf für ein neues Parteiprogramm der LINKEN veröffentlicht, schäumte es im politischen Establishment. Besonders wütend fiel die Reaktion der SPD aus. Generalsekretärin Nahles machte im Entwurf »DDR-Nostalgie« und »kleinbürgerliche Allmachtsphantasien« aus. SPD-Vize Scholz spricht von einem »Programm voller wilder Worte und unerwachsener Verstaatlichungsforderungen«. Der wirtschaftspolitische Sprecher, Garrelt Duin, hält den Entwurf für »komplett gaga«. »Neokommunistische Grundzüge« wittert der Parlamentarische Geschäftsführer Oppermann und stellt fest: »Wenn das Programm so kommt, dann wird es auf sehr lange Sicht keine Zusammenarbeit der SPD mit der Linkspartei auf Bundesebene geben können«. Und SPD-Chef Gabriel macht klar, was er erwartet: »Die Reformer müssen endlich mal kämpfen um ihre Partei! Ob sie sich durchsetzen, werden wir erst wissen, wenn Die Linke endlich ihr Grundsatzprogramm beschließt.«

Soweit, so verständlich. Der vorliegende Programmentwurf hat ein klares Profil. Er ist antikapitalistisch und beharrt auf der Möglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung mit veränderten Eigentumsverhältnissen. Er sagt eindeutig und ohne Hintertürchen Nein zu jedweden Kriegseinsätzen. Er formuliert antineoliberale Reformschritte und Haltelinien linker Politik: Privatisierungen, Sozial- oder Personalabbau dürfen von einer LINKEN, die ihre Glaubwürdigkeit nicht verspielen will, nicht mitgetragen werden. Er besteht auf der Notwendigkeit außerparlamentarischer Gegenwehr, von Demonstrationen bis zum politischen Generalstreik.

Dass dieses Programm die Machthabenden erbost, verwundert nicht. Die oberen Zehntausend und ihre Medienkonzerne haben Angst vor einer politischen Kraft, die die Einkommensmillionäre und Vermögenden nicht länger mästen will und ein Wirtschaftssystem infrage stellt, welches Reiche reicher und die Mehrheit ärmer macht. Furcht vor einer starken LINKEN hat auch die SPD, die von Steinmeier über Heil bis zu Gabriel und Nahles von Leuten angeführt wird, die an der Umsetzung des brutalsten Sozialabrissprogramms der bundesdeutschen Geschichte persönlich beteiligt waren und die unverändert zum Kern der Agenda 2010 stehen: Hartz IV, Zerschlagung der gesetzlichen Rente, Billigjobs und natürlich Kriegseinsätze. Nichts empfindet die SPD so sehr als Bedrohung wie eine erstarkende LINKE, die sie mit konsequenten Positionen vor sich hertreibt. Ihr Wunsch, dass DIE LINKE sich schwächt, indem sie ihr Profil verwässert, ist daher verständlich. Allerdings wären wir außerordentlich schlecht beraten, wenn wir diesem Wunsch folgen würden.

Unterdessen hat der Programmentwurf auch aus den eigenen Reihen manch harsche Reaktion erfahren. Für Klaus Lederer entwirft er eine »Horrorwelt, die von einigen hundert Unternehmen und Individuen beherrscht wird und sich am Abgrund befindet.« Und für das Forum Demokratischer Sozialismus (fds) zeichnet der Entwurf »das Bild eines Kapitalismus, der nur destruktiv ist und keinerlei Reformfähigkeit besitzt«.

Tag für Tag sterben auf diesem Planeten ungefähr 100 000 Menschen an Hunger oder seinen Folgen. Etwa eine Milliarde Menschen sind chronisch unterernährt. Mindestens 100 Millionen wurden allein infolge der Finanzkrise zusätzlich in Armut gestürzt. Jean Ziegler beschreibt die Situation so: »Das Recht über Leben und Tod dieser Milliarden von Menschen üben die Herren des globalisierten Kapitals aus. Durch ihre Investitionsstrategien, ihre Währungsspekulationen, die politischen Bündnisse, die sie eingehen, entscheiden sie Tag für Tag darüber, wer das Recht hat, auf diesem Planeten zu leben, und wer dazu verurteilt ist, zu sterben.« Malt, wer das Grauen, die Armut, die Kriege, die milliardenfach zerstörten Lebensperspektiven beschreibt, eine »Horrorwelt«?

Auch in den Industrieländern ist der Traum vom »Wohlstand für alle« ausgeträumt. Der Lebensstandard von Mehrheiten sinkt, für manche dramatisch. In den USA liegen die realen Jahreseinkommen von etwa 90 Prozent der Bevölkerung kaum oberhalb des Niveaus der siebziger Jahre. Von jedem Dollar, um den das Realeinkommen zwischen 1976 und 2007 gewachsen ist, flossen 58 Cent in die Taschen des reichsten ein Prozent. Nicht viel besser in Deutschland. Die reale Lohn- und Gehaltssumme liegt trotz der gefeierten neuen Arbeitsplätze – mehrheitlich Mini- oder Billigjobs – auf dem Niveau von 1991. Konzerne fahren Forschungs- und Entwicklungsausgaben zurück, um die Dividende für die Shareholder hochzuhalten. Großbanken finanzieren lieber aberwitzigste Finanzwetten als innovative Kleinunternehmen.

Der Kapitalismus befindet sich in seiner tiefsten Krise seit den 30er Jahren, und die Ursache dieser Krise liegt nicht in ein paar fehlenden Regeln, sondern im Profitprinzip: Solange privatkapitalistisches Eigentum die Wirtschaft dominiert, entscheiden nicht gesellschaftliche Bedürfnisse, sondern allein die erwartete Rendite darüber, welche Investitionen stattfinden und welche unterbleiben, welche Arbeitsplätze vorläufig gesichert sind und wessen soziale Existenz vernichtet wird.

Die Financial Times Deutschland (FTD) rechtfertigte den Ölkonzern BP, der mit seiner missglückten Bohrung im Golf von Mexiko ein ökologisches Desaster angerichtet hat, folgendermaßen: »Selbst wenn er wollte, der Chef von BP könnte gar nicht einfach auf die umstrittenen Tiefwasserbohrungen verzichten. Er ist in seiner Funktion nicht der Gesellschaft verpflichtet, sondern seinen Arbeitgebern: den Eignern des Ölkonzerns. … Wenn ein Unternehmen eine moralische Entscheidung trifft, die Rendite kostet, wird es langfristig nicht wettbewerbsfähig sein und von skrupelloseren Rivalen aus dem Markt gedrängt.« Wahrscheinlicher noch ist, dass der Chef von den Anteilseignern vorher einfach ausgetauscht würde. Insofern ist es nicht nur eine billige Rechtfertigung, wenn der ehemalige Kapitalmarktchef der Dresdner Bank seine Spekulationsorgien so rechtfertigt: »Wissen Sie, was passiert wäre, wenn ich in den guten Zeiten gesagt hätte, diese Papiere sind gefährlich? Man hätte mich rausgeschmissen.«

Der – auch von der Systemkonkurrenz erzwungene – sozialstaatliche Kompromiss kam in die Krise, als die Profitraten zu sinken begannen, weil das extreme Wachstum der Nachkriegsjahre nicht fortgeschrieben werden konnte. Der Neoliberalismus hat die Profite durch Lohndrückerei, Steuerdumping, Privatisierung und Deregulierung wieder nach oben getrieben. Die aufgrund sinkender Masseneinkommen verlorene Kaufkraft wurde durch wachsende Verschuldung ersetzt. Heute sind private wie öffentliche Haushalte so hoch verschuldet, dass dieses Modell an seine Grenze gekommen ist. Hier liegt der tiefere Grund der aktuellen Krise.

Zugleich hat der globalisierte Kapitalismus zu einer extremen Konzentration ökonomischer Macht geführt. 500 Wirtschaftsgiganten kontrollieren etwa die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Daher setzt im heutigen Kapitalismus nicht mehr die Politik die Rahmenbedingungen für die Unternehmen, sondern die Konzerne schaffen sich das ihnen genehme und für sie profitable Umfeld und zwingen staatlichem Handeln den von ihnen gewünschten Rahmen auf. Sicher, diese Wirtschaftsmonster wurden von den Zauberlehrlingen der neoliberalen Politik aus der Flasche gelassen. Aber jetzt sind sie da. Jetzt blockieren sie mit ihrer Macht und ihrem Einfluss jede grundlegende Veränderung, die ihren Interessen widerspricht. Das bedeutet nicht, dass die Politik sich in den gesetzten Rahmen fügen muss. Es bedeutet lediglich, dass eine Veränderung der Entwicklungslogik nur möglich ist, wenn dem Kartell der Wirtschaftsgiganten die Grundlage seiner Macht entzogen wird: das Eigentum an den wirtschaftlichen Ressourcen und Kapazitäten dieser Welt.

Utopisch ist nicht das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus. Utopisch ist es, unter heutigen Bedingungen immer noch zu glauben, durch ein paar bessere Regeln ließe sich die Deutsche Bank zum Mittelstandsförderer und Eon zum Vorkämpfer einer solaren Energiewende machen. Das spricht nicht dagegen, für Regeln zu kämpfen, solange man für weitergehende Forderungen keine gesellschaftliche Machtbasis hat. Es ist ebenso sinnvoll, die Banken zu verpflichten, höheres Eigenkapital vorzuhalten, wie es hilfreich wäre, in Deutschland einen Mindestlohn, eine Erhöhung von Hartz IV oder eine Millionärssteuer durchzusetzen. Man darf sich nur nicht einreden, dass durch solche Maßnahmen dem Kapitalismus eine andere Logik der Entwicklung aufgezwungen wird. Jede neue Regel oder Steuer setzt in den Konzernzentralen ganze Stäbe in Aktion, die sich mit nichts anderem als den Umgehungsmöglichkeiten beschäftigen. Ein Großteil der »Finanzinnovationen« hat keinen anderen Zweck als regulatorische Vorschriften zu umgehen oder Steuern zu sparen. Das herrschende Ungleichgewicht zwischen Wirtschaft und Politik und die damit verbundene Aushöhlung der Demokratie ist nur durch eine Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums zu überwinden. Wer den Leuten einredet, es gäbe eine kleinere Lösung, macht ihnen etwas vor.

Der Programmentwurf fordert öffentliches Eigentum in der Daseinsvorsorge, der Infrastruktur, der Energiewirtschaft und dem Finanzsektor. Außerdem wird die Vergesellschaftung »weiterer strukturbestimmender Bereiche« durch kommunales, genossenschaftliches und Belegschaftseigentum verlangt. Tatsächlich sind diese Ziele kaum viel weitergehender als die vieler Landesverfassungen. So fordert etwa Artikel 52 der Saarländischen Landesverfassung: »Schlüsselunternehmungen der Wirtschaft (Kohlen-, Kali- und Erzbergbau, andere Bodenschätze, Energiewirtschaft, Verkehrs- und Transportwesen) dürfen wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Wirtschaft des Landes oder ihres Monopolcharakters nicht Gegenstand privaten Eigentums sein … Alle wirtschaftlichen Großunternehmen können durch Gesetz aus dem Privateigentum in das Gemeinschaftseigentum übergeführt werden, wenn sie in ihrer Wirtschaftspolitik, ihrer Wirtschaftsführung und ihren Wirtschaftsmethoden das Gemeinwohl gefährden.« Im Grunde wäre das ein Auftrag, mindestens alle Dax-Konzerne zu vergesellschaften, deren Renditefixierung seit Jahren deutlich »das Gemeinwohl gefährdet«.

Um öffentliches Eigentum zu diskreditieren, wird oft auf Beispiele öffentlicher Unternehmen verwiesen, die ebenso profitorientiert (Vattenfall) oder spekulationsfreudig (Landesbanken) agieren wie private. Aber niemand hat behauptet, dass öffentliches Eigentum per se ein Garant für vernünftiges Wirtschaften ist. Das ist es nur, wenn es zusätzlich vernünftigen Regeln und demokratischer Kontrolle unterworfen wird. Eine Überwindung kapitalistischen Eigentums ist keine Garantie, aber es ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt andere Prioritäten gesetzt werden können.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts emnid vom August 2010 wünschen sich 88 Prozent der Deutschen eine »neue Wirtschaftsordnung«. Der Kapitalismus sorge weder für »sozialen Ausgleich« noch für den »Schutz der Umwelt« oder »sorgfältigen Umgang mit Ressourcen«. Einen Teil der Menschen, die so denken, haben wir nach Gründung der LINKEN als Wähler unserer Partei gewonnen. Immer mehr allerdings wenden sich ab vom eingefahrenen Politbetrieb, den sie als korrupt und beliebig empfinden. Diese Menschen muss DIE LINKE erreichen, wenn sie – in Verbindung mit gesellschaftlichen Protestbewegungen – zu einem tatsächlichen Machtfaktor werden will. Aber gerade sie haben kein blindes Vertrauen mehr. Sie haben einfach zu oft erlebt, dass ihnen Oppositionsparteien das Blaue vom Himmel versprechen, nach der Wahl aber das Gegenteil tun. Wer annimmt, die LINKE sei eine Partei wie alle anderen, der erwartet von ihr auch das gleiche wie von allen anderen: also nicht viel.

DIE LINKE kann die wachsende Zahl der Nichtwähler nur erreichen, wenn sie eine Politik macht, die aus den üblichen Mustern herausfällt. Das schließt ein, zu den eigenen Grundsätzen zu stehen und sich nicht darum zu kümmern, ob sie SPD oder Grünen gefallen. Es schließt ein, die Verhältnisse nicht, wie alle anderen, schönzureden, sondern ihre Brutalität und Hässlichkeit beim Namen zu nennen. Das schließt ein, an der bedingungslosen Ablehnung von Krieg festzuhalten und die Entscheidung darüber auch nicht zu vertagen, wie das fds es sich wünscht. Und es schließt ein, immer wieder deutlich zu machen, dass der Kapitalismus nicht alternativlos ist. Die Grundausrichtung des Programmentwurfes sollte daher nicht verwässert werden.