Venezuela-Reise von Mitgliedern der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zu den Ländern der Anden-Gemeinschaft
08.-12. Februar 2005
Reiseteilnehmer/innen:
- Alain Lipietz (Frankreich), Grüne/Freie Europäische Allianz, Delegationsvorsitzender
- Fernando Fernández Martín (Spanien), PPE, stellv. Delegationsvorsitzender
- Arūnas Degutis (Litauen), ALDE
- Claudio Fava (Italien), PSE
- Manuel Medina Ortega (Spanien), PSE
- Lambert van Nistelrooij (Niederlande), PPE
- Oldřich Vlasák (Tschechien), PPE
- Sahra Wagenknecht (BR Deutschland), GUE/NGL
Gespräche
9. Februar
Bei
den Treffen mit José Vicente Rangel, Vizepräsident der Bolivarischen
Republik Venezuela und dem Mittagessen mit dem Außenminister, Dr.
Rodriguez Araque, konnte ich aufgrund meiner verspäteten Ankunft nicht
anwesend sein.
Blanca Eeckhout, Präsidentin Vive-TV
Frau
Eeckhout erläuterte uns die wachsende Rolle der lokalen unabhängigen
Medien in Venezuela, die vielfach direkt von den Menschen aus den
Barrios gestaltet würden und ihnen die Möglichkeit biete, unmittelbar
über ihre Probleme zu diskutieren. Die Regierung stelle Technik und
Geld zur Verfügung und biete Schulungen für die Sendegestaltung an,
enthalte sich aber jeder inhaltlichen Einflussnahme.
Orlando Chirino und Maria Maspero, Gewerkschaft UNETE
Herr
Chirino und Frau Maspero erläuterten die historische und aktuelle
Situation der Gewerkschaften in Venezuela. Diese seien lange nur
Repräsentanten einer kleinen privilegierten Schicht von Beschäftigten,
vorwiegend aus der Ölindustrie, gewesen, während die große Mehrheit der
Beschäftigten, insbesondere im informellen Sektor, unorganisiert
gewesen sei. Diese besondere Zusammensetzung der Gewerkschaften sei
eine der Ursachen dafür gewesen, dass die Spitze des alten
Gewerkschaftsverbands sowohl im Putsch 2002 als auch im späteren
"Ölstreik" gemeinsam mit dem Unternehmerverband Fedecamaras aktiv gegen
die Regierung Chávez gekämpft habe. Die Gründung der UNETE sei vor
diesem Hintergrund zu betrachten. UNETE repräsentiere gegenwärtig 21%
der Beschäftigten. Im Gespräch informierten uns die
Gewerkschaftsvertreter über die Veränderungen in Venezuela seit dem
Amtsantritt von Hugo Chávez: Es seien u.a. Mindestlohngesetze und
andere Sozialbestimmungen erlassen worden, die den gewerkschaftlichen
Kampf erheblich stärkten und erleichterten.
10. Februar
Dra. Alvis Muñóz, Präsidentin Arbeitgeberverband Fedecamaras und weitere Vorstandsmitglieder der Organisation
Frau
Muñóz führte aus, dass sich die politische und wirtschaftliche
Situation in Venezuela im zurückliegenden Jahr stabilisiert habe.
Aufgrund der von Chávez eingeführten Kapitalverkehrskontrollen habe die
Zentralbank jetzt hohe Devisenreserven, was eine Sicherheit für
ausländische Investoren darstelle. Dies habe zur Folge, dass dort nun
wieder Kapital zu fließen beginne. Frau Muñóz betonte, dass
Armutsbekämpfung und die Diversifizierung der Wirtschaft, also die
Überwindung der ausschließlichen Konzentration auf das Erdöl,
wesentliche Ziele ihrer Organisation seien. Auf die Frage, dass
Fedecamaras damit offenbar die gleichen Ziele wie die Regierung Chávez
verfolge und ob dies bedeute, dass die Organisation ihre in der
Vergangenheit auf den Sturz der Regierung gerichtete Politik - wie sie
in der führenden Rolle des Arbeitgeberverbands beim Putschversuch und
beim "Ölstreik" zum Ausdruck gekommen sei -, mittlerweile als Fehler
betrachte, antwortete Frau Muñóz ausweichend. Ein anderes anwesendes
Vorstandsmitglied wurde deutlicher und betonte, dass Fedecamaras jede
Regierung bekämpfen werde, "die die Eigentumsrechte und die
kapitalistische Wirtschaftsordnung in Frage stellt". Dies tue Chávez
auf verschiedenen Ebenen. Indirekt rechtfertigte er in dem Kontext auch
den Putschversuch von 2002, der in seinen Ausführungen als ein
legitimer Versuch erschien, die bestehende Ordnung zu erhalten. Frau
Muñóz relativierte die Einschätzung des Redners zwar in ihrer folgenden
Antwort, auch sie vermied jedoch eine klare Distanzierung vom
Putschversuch.
Anschließend wurde im Gespräch die
lateinamerikanische Wirtschaftsintegration thematisiert. Es wurde
deutlich, dass die venezolanischen Unternehmen kein Interesse an einem
Freihandelskommen wie ALCA haben, sondern stärker auf die
lateinamerikanische Eigenständigkeit setzen.
Carlos Carbacho, OAS
Carbacho
brachte seine Ablehnung der Regierung Chávez unverblümt und
unmissverständlich zum Ausdruck. So zweifelte er den Ausgang des
Referendums offen an, musste dann aber einräumen, dass er damit nicht
für die gesamte OAS spreche. Neben Attacken gegen die Landreform
wiederholte Carbacho alles, was von den Gegnern Chávez´ an
Anschuldigungen gegen die Regierung vorgebracht wird: Venezuela sei
eine Militärdiktatur, die Gegner brutal verfolge; die in den
Statistiken ausgewiesenen Opfer von Kriminalität seien in Wirklichkeit
Opfer von Willkür und politischer Verfolgung, es existiere keine
Pressefreiheit, auf Kritik an der Regierung ständen bis zu 15 Jahre
Gefängnis etc. Auf die Nachfrage aus unserer Delegation, dass letzteres
bedeuten müsse, dass der gesamte Journalistenstab z.B. von Globovision
im Gefängnis sitze, relativierte er die Aussage etwas. Insgesamt ging
er jedoch kaum auf Fragen ein, und wenn ja, dann nur in demagogischer
Weise.
Balsamino Belandria, Präsident FEGAVEN (Verband der Rinderzüchter Venezuelas) und weitere Mitglieder der Organisation
Thema
des Gesprächs war die Landreform, die die Regierung Chávez durchführt,
Ihr Ziel sei, die bisherigen Missstände zu beseitigen (eine sehr hohe
Landkonzentration in den Händen weniger Familien bzw. Firmen, eine hohe
Anzahl brach liegender Flächen fruchtbaren Landes, das bebaut werden
könne, um so die derzeitige große Abhängigkeit Venezuelas von
Nahrungsmittelimporten zu verringern). FEGAVEN berichtete über die von
staatlicher Seite gewährte Unterstützung an ehemalige Landlose, die
jetzt Land erhielten: So sei eine große Anzahl von Traktoren importiert
worden, um die bisherigen rückständigen Produktionstechniken zu
verbessern; außerdem gebe es nun günstige Mikrokredite über die
staatliche Entwicklungsbank etc.
Alfredo
Ruíz von der Menschenrechtsorganisation Red de Apoyo por la Justicia y
la Paz sowie ein Vertreter des Centro de Derechos Humanos de la
Universidad Católica Andres Bello
Unsere Gesprächspartner
berichteten von den großen Fortschritten in der Frage der sozialen
Menschenrechte seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez, so in der Frage
der Bildung und der Gesundheit. Die Programme Misión Robinson und
Misión Sucre seien Beispiele für das ernsthafte Bemühen der Regierung,
das Bildungsprivileg der reichen Bevölkerungsgruppen zu brechen und
Menschen aus ärmeren Schichten den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Im
Gesundheitssektor werde durch das Programm Barrio Adentro erstmalig
eine ärztliche Betreuung in den Armenvierteln gewährleistet. Hingegen
gebe es in der Frage der Polizei und der Situation in den Gefängnissen
noch zu wenig Fortschritte. Zwar gebe es keinerlei politische
Verfolgung, jedoch würden immer noch für kriminelle Kleindelikte wie
Diebstahl u.ä. mehrjährige Gefängnisstrafen verhängt, und die Zustände
in den Gefängnissen seien weiterhin schlimm. Hinzu komme das Problem
der Korruption, das immer noch nicht gelöst sei.
11. Februar
Vertreter der Oppositionsparteien
Die
Vertreter der Opposition präsentierten sich eingangs als "die
demokratischen Kräfte Venezuelas" und brachten ihre Ablehnung der
gegenwärtigen Verhältnisse in einer ausgesprochen undifferenzierten
Weise vor, die bei allen Mitgliedern unserer Delegation Kopfschütteln
auslöste. Die wiederholt von den Oppositionsvertretern erhobene
Behauptung, das Referendum sei gefälscht worden, führte dazu, dass
sogar die konservativen Mitglieder unserer Delegation darauf verwiesen,
es sei doch sinnvoller, in die Zukunft zu denken als ein als allgemein
als rechtmäßig bewertetes Referendum weiterhin in Frage zu stellen, was
weitere in recht aggressivem Tonfall geführte Meinungsäußerungen nach
sich zog. Einhelliges Urteil aller Delegationsmitglieder in der Folge
des Gesprächs war, dass die venezolanische Opposition sich in einem
desaströsen Zustand befinde.
Hugo Chávez Frías, Präsident Venezuelas
In
einem fast fünfstündigen Gespräch gab uns Chávez die Gelegenheit zu
einem ausgesprochen intensiven Meinungsaustausch. Nachdem er uns einen
Überblick über die Geschichte und Entwicklung Venezuelas (Ölvorkommen,
Bevölkerungsbewegung in der Folge der "Entdeckung" des Landes und die
Konzentration in wenigen Regionen, Situation an der
venezolanisch-kolumbianischen Grenze etc.) gegeben hatte, wurden
einzelne Themen intensiver erörtert, so auch die Frage, inwieweit die
EU Hilfe bei der Unwetterkatastrophe leisten könne, die das Land gerade
heimgesucht und bereits 100.000 Menschen obdachlos gemacht hatte. Des
Weiteren ging es um Fragen künftiger Kooperation, insbesondere
hinsichtlich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ausführlich wurde
über die lateinamerikanischen Integrationsprojekte als Alternative zu
ALCA sowie über die Gefahren gesprochen, die durch die US-Politik und
den von ihr geschürten Konflikt mit Kolumbien drohen. Das Gespräch mit
Chávez fand in einer sehr angenehmen und offenen Atmosphäre statt.
Chávez ging ausführlich auf alle Fragen der Anwesenden ein und
beeindruckte wohl sämtliche Mitglieder der Delegation mit seiner
offenen und charismatischen Art.