Mit Marx gegen Profitjäger - Die Linken-Europapolitikerin Sahra Wagenknecht kämpft für globale soziale Rechte

Artikel erschienen im Schwäbischen Tagblatt am 19.06.08

19.06.2008

„Dieser Kapitalismus muss weg": Daran lässt Sahra Wagenknecht keinen Zweifel. Die Europaabgeordnete der Partei Die Linke will „nicht nur Tagespolitik betreiben, sondern auch die Systemfrage stellen".

Tübingen. Die Iren haben ihre Sympathie. Als das Inselvolk den Vertrag von Lissabon niederstimmte, hat Sahra Wagenknecht „ein bisschen" gefeiert. Denn nicht das Thema Abtreibung, sondern die „Politik des Neoliberalismus und der militärischen Aufrüstung", sagte die 38-Jährige am Dienstag in der TAGBLATT-Redaktion, hätten den Ausschlag für das „No" gegeben. Aus Sicht der Politikerin ist nach diesem Referendum das Vertrags-Projekt endgültig gescheitert: „Es muss einen völlig neuen Ansatz geben, nicht nur Kosmetik."

Wie der neue Ansatz aussehen könnte, erläuterte sie nach dem Redaktionsbesuch auch im Tübinger Gemeindehaus „Lamm". Dorthin kamen am Abend rund 130 Interessierte, die – wie etwa auch Tübingens OB Boris Palmer – keineswegs alle zum Umfeld der Linken zählten. „Keine freie Bahn fürs Kapital" – in diese fünf Worte fasste Wagenknecht ihre Position. Ihr Traum? „Dass in der EU nicht an erster Stelle die Kapitalinteressen, sondern die sozialen Rechte stehen." Denn gerade die herrschende Politik gebe „den rechten Kräften Vorschub". So wie sich die Europäische Union darstelle, sagte die Parlamentarierin, „diskreditiert sie den europäischen Ansatz".

Aus ihren Sätzen ist herauszuhören, dass die in Jena geborene und in Ost-Berlin aufgewachsene ehemalige Studentin der Philosophie und Neueren Deutschen Literatur die Werke von Marx und Engels nicht nur im Regal stehen, sondern auch gelesen hat. Die routinierte Schnellrednerin sprach vom „Zerstörungsfeldzug gegen soziale Errungenschaften" und geißelte Sparzwang, Lohndumping und Privatisierungen als „neoliberale Lügen". Um die Kritik zu unterstreichen fuhr der linke Arm mit dem rot-schwarzen Pulswärmer aus Samt durch die Luft.

„Eine für alle und alle für eine": Dieses Plakat der Linken an der Wand neben der Rednerin hat Symbolkraft. Dem größten Teil des Publikums im „Lamm" imponierte, dass die Sprecherin der parteiinternen kommunistischen Plattform (mit rund 940 eingeschriebenen von etwa 70 000 Linke-Mitgliedern) eine radikale Linie fährt. In ihrer Partei ist sie umstrittener. Manche Kritiker nennen die Politikerin, die noch kurz vor dem Mauerfall in die SED eintrat („Ich wollte schon, dass die DDR nicht kaputt geht"), eine „Betonkommunistin". Vor dem Parteitag am 24. und 25. Mai in Cottbus musste Wagenknecht ihre Idee, für den Vize-Vorsitz der Partei zu kandidieren, aufgeben. Der Partei- und der Fraktionsvorsitzende legten ihr Veto ein. Bei den Vorstandswahlen bekam sie dann aber über 70 Prozent der Delegiertenstimmen.

Die Linke wird nicht nur in Baden-Württemberg vom Verfassungsschutz beobachtet – „um uns in zweifelhaftes Licht zu bringen". Aus Sicht von Wagenknecht ist der aus der Linkspartei/PDS und der WASG gebildete Zusammenschluss jedoch „die einzige verfassungstreue Partei, weil wir das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nehmen".

Deshalb kommt die Bundespolitik bei der Linken-Vorstandsfrau nicht besser weg als die europäische. „Was die große Koalition macht, ist genauso neoliberal." Deshalb nennt sie es „etwas heuchlerisch", alles auf Brüssel zu schieben: „Niemand dort zwingt deutsche Kommunen, bestimmte Leistungen zu privatisieren." Die Grundversorgung, so ihr Credo, dürfe nicht „privaten Profitjägern überlassen werden".

In der Bundespolitik kennt sich das Parteivorstands-Mitglied ebenso aus wie auf europäischer Ebene. Die 38-Jährige schließt für sich nicht aus, für den Bundestag zu kandidieren. Es gab schon Gespräche in Nordrhein-Westfalen. Ein Grund sind die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament: „Als Linke kriegt man dort inhaltlich fast nichts durch."

Die Tochter einer alleinerziehenden studierten Mutter, deren Eltern noch „der Arbeiterklasse angehörten", ist generell gegen Studiengebühren, „weil sie noch stärker als bisher die Herkunft als Chancengeber zementieren". Die Hegelspezialistin, die in Jena, Berlin und im holländischen Groningen studiert hat, schreibt ihre Dissertation in Volkswirtschaftslehre an der Universität Potsdam. Als literarische Lektüre liebt sie Klassiker: Tolstois „Anna Karenina" und – gerade wieder – „Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Goethe.

„Wir setzen die Themen, wir treiben die anderen vor uns her", sagt die Frau in der bestickten Samtjacke selbstbewusst und verweist auf zweistellige Wahlergebnisse. Eine rot-rote Koalition, zumindest auf Bundesebene, lehnt sie strikt ab. So lange die SPD „diese Politik für die oberen Zehntausend macht", werde sich daran nichts ändern. Zumindest von Wagenknecht wird SPD-Mitglied Gesine Schwan, die Bundespräsidentin werden möchte, keine Stimme bekommen: „Sie hat uns im ersten Akt politisch beschimpft und vertritt zu Krieg und Frieden und sozialen Fragen völlig andere Positionen."

Wofür steht ihre Partei? Bundeswehr raus aus Afghanistan, weg mit Hartz IV, Rücknahme der Rente mit 67, Mindestlohn. „Wir machen eine Politik für diejenigen, denen es dreckig geht", sagt die 38-Jährige. Doch bei allem Unmut in der Bevölkerung weiß sie auch, dass „sich der Kapitalismus nicht von allein auflösen wird". Dazu brauche es „eine Gegenbewegung". Und der versucht Wagenknecht, wie in Tübingen, Schwung zu geben. Wenn am 8. Juni Bundestagswahl gewesen wäre, hätten 14 Prozent der von Infratest Befragten Die Linke gewählt.