Sahra Wagenknecht

"Wir wollen die EU neu gründen"

Interview mit Sahra Wagenknecht in der Tagesschau vom 28.02.2009

02.03.2009

tagesschau.de: Frau Wagenknecht, ist die Linkspartei europafeindlich?

Sahra Wagenknecht: Das wird immer wieder behauptet und ist eine Unverschämtheit. Was heißt Europa? Ich bin nicht dafür, dass wir zurückgehen auf die nationalstaatliche Ebene. Aber ich finde, dass die heutige EU hauptsächlich im Interesse von Konzernen und Renditen agiert. Diese EU muss von uns grundlegend kritisiert und angegriffen werden.

tagesschau.de: Aktuell und konkret greifen Sie den Lissabon-Vertrag an.

Wagenknecht: Ja. Er setzt hauptsächlich darauf, die offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, also ungehemmten Kapitalismus zu verankern - und er setzt auf Aufrüstung. Das ist keine Europäische Union im Interesse der Mehrheit. Wir wollen die EU neu gründen. Eine EU, die vielmehr auf soziale Belange, soziale Sicherheit und auf Armutsbekämpfung setzt. Das fordern wir in unserem Programm zur Europawahl.

tageschau.de: Für die Sie nicht mehr kandidieren. Stattdessen wollen Sie in den Bundestag. Warum?

Wagenknecht: Ich habe meine Arbeit in Brüssel gerne gemacht. Es gibt aber Entscheidungskompetenzen, die nicht bei der EU liegen, gerade in meinem Bereich, der Wirtschaftspolitik. Die Eigentumsordnung, die sozialen Sicherungssysteme, Steuerpolitik – das findet in den nationalen Parlamenten statt. Und auch die Anti-Krisen-Politik wird in der Bundesrepublik entschieden. Die grundlegenden Weichenstellungen sind eine Frage des Bundestages. Deswegen denke ich, dass ich mich dort besser einbringen kann.

tageschau.de: Der Realo André Brie steht nicht mehr auf der Kandidatenliste des Bundesausschusses für die Europawahl. Weil er der Parteiführung zu europafreundlich ist?

Wagenknecht: Das würde ja heißen, dass sich der Bundesausschuss der Parteiführung unterordnet. Er ist aber ein demokratisches Gremium. Offensichtlich war man dort der Meinung, dass Brie etwa mit seinen Positionen zum Bundeswehreinsatz im Afghanistan-Krieg eine andere Meinung vertritt als die Mehrheit der Linken.

tagesschau.de: Brie fordert als Afghanistan-Berichterstatter Ihrer Partei nicht den sofortigen Abzug.

Wagenknecht: Genau. Er hat sich unter anderem damit als Kandidat nicht durchgesetzt. Von oben kann man in dieser Partei nichts steuern. Ich kenne das aus meiner eigenen Biografie. Wenn von oben alles steuerbar wäre, hätte ich viele Funktionen auch nicht gehabt. Aber Brie wird hier ja wieder kandidieren.

tageschau.de: Sie wollten sich im vergangenen Jahr als stellvertretende Vorsitzende zur Wahl stellen - und haben das Vorhaben nach Kritik aus den eigenen Reihen schnell wieder fallen lassen.

Wagenknecht: Das war aber meine eigene Entscheidung. Ich wollte der gerade vereinigten Linkspartei auf ihrem ersten Parteitag eine solche Debatte nicht aufzwingen. Aber auch ohne Nominierung durch den Bundesausschuss kann man ja auf dem Parteitag kandidieren, wie Brie es tut, oder Tobias Pflüger, von dem ich sehr hoffe, dass er sich hier durchsetzt.

tageschau.de: Anders als bei André Brie?

Wagenknecht: Ich gehe nicht davon aus, dass er unentbehrliche Arbeit im Europäischen Parlament leistet. Aber sollte er gewählt werden, werde ich natürlich die Entscheidung meiner Partei akzeptieren.

tageschau.de: Ist der Fall Brie dann vielmehr ein Beweis für die Grabenkämpfe zwischen Realos und Fundis in Ihrer Partei?

Wagenknecht: Unsere Grundpositionen sind unstrittig: Für die Krise sollen die zahlen, die sie verursacht haben. Genauso klar als Parteilinie ist die Forderung von Umverteilung von Einkommen und Vermögen und, dass wir den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung ablehnen. Aber natürlich gibt es Differenzen. Zum Beispiel in der Frage, wie man sich zu Regierungsbeteiligungen positioniert. Aber da gibt es inzwischen eine ganz klare Mehrheit: Regieren kommt nur in Frage, wenn wir unsere politischen Inhalte durchsetzen. Deswegen ist unser Platz gegenwärtig in der Opposition, weil die SPD zu einer neoliberalen Partei geworden ist. Inhalte sind wichtiger, als sich nach den Fleischtöpfen der Macht zu recken.

tagesschau.de: Warum dringen Sie mit Ihren Ideen nicht noch stärker durch? In Prognosen verharrt die Linkspartei in der Region um 10 Prozent.

Wagenknecht: Von Werten wie den aktuellen hätten wir vor fünf Jahren noch geträumt. Aber natürlich wollen wir bei der Bundestagswahl mehr erreichen. Ich glaube auch, dass wir das schaffen können. Natürlich warten viele Leute jetzt erstmal, ob die Programme der Regierung auch ziehen. Das kann ich verstehen. Ich gehe aber davon aus, dass das Konjunkturprogramm diese Krise nicht abmildern wird – was ich bedauere. Es ist zu klein und falsch strukturiert. Ich finde es auch empörend, wie zig Milliarden in maroden Banken versenkt werden und keinem anderen Zweck dienen, als die Zocker freizukaufen. Diese Programme tragen nicht dazu bei, dass das Finanzsystem seine Aufgabe erfüllt: realwirtschaftliche Investitionen zu ermöglichen. Spätestens im Sommer wird klar sein, dass es so nicht funktioniert. So bekämpft man eine Krise nicht.

Das Interview führte Nicole Diekmann, tagesschau.de