Widersprüchlich, aber erfolgreich - Zehn Jahre bolivarische Revolution

Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in "Disput", Januar 2009

31.01.2009

Mit dem Amtsantritt von Hugo Chávez am 2. Februar 1999 begann der Prozess der bolivarischen Revolution. Mit ihm wurde nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen. »Es entstand die Idee eines politischen Modells und einer Demokratie, mehr als nur repräsentativ, partizipativ, wo das Volk wirklich teilnimmt und sich nicht nur über den Wahlvorgang eine Regierung auswählt, sondern ständig teilnimmt an der Diskussion, am Treffen von Entscheidungen, die sein tägliches Leben betreffen«, so Chávez auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre 2003. Seitdem wurden die Ziele und Strategien der bolivarischen Revolution weiter präzisiert: Bis zum Jahr 2014 sollen die Grundlagen für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts gelegt werden. Durch die Stärkung von Kooperativen, die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, die Ausweitung von Arbeitnehmerrechten und die Förderung von »Unternehmen sozialer Produktion« sollen produktive Potenziale entfaltet und die Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Lebensbedingungen selbst zu gestalten. Die soziale Grundlage hierfür hat sich in den letzten Jahren herausgebildet. So ist inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung in mehr als 30.000 kommunalen Räten (Consejos Comunales) organisiert, in denen öffentliche Politik diskutiert, formuliert und umgesetzt wird.

Neubeginn mit einer neuen Verfassung

Wie Chávez in einem Interview im Jahr 2003 ausführte, steht die Existenz einer reichen Minderheit und einer verarmten Mehrheit den Grundprinzipien der Demokratie entgegen, wobei es zur Lösung des Problems zwei Möglichkeiten gibt: »entweder man reduziert die Armut oder die Demokratie. Wir haben uns dafür entschieden, die Armut zu reduzieren und die Demokratie auszubauen.« Beides ist Chávez gelungen. Kurz nach seiner Machtübernahme schlug Chávez eine neue Verfassung vor, die gemeinsam mit sozialen Bewegungen, Aktivisten aus den Armenvierteln und aus der indigenen Bevölkerung erarbeitet und in einem Referendum im Dezember 1999 mit 86 Prozent Ja-Stimmen verabschiedet wurde. Mit der neuen Verfassung wurden zahlreiche Elemente der direkten Demokratie in Venezuela eingeführt, wobei vor allem die Partizipationsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene deutlich erweitert wurden.

Landreform und Wiederaneignung der Bodenschätze

Um die verbreitete Armut besser bekämpfen zu können, nahm Chávez Ende 2001 zwei zentrale Projekte in Angriff: Durch eine Landreform sollte die Macht der Großgrundbesitzer gebrochen und die Armensiedlungen der Großstädte legalisiert werden. Ferner wollte man die Kontrolle über die Ölgesellschaft PdVSA zurückgewinnen, um aus den Einnahmen soziale Initiativen und den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur finanzieren zu können. Wie zu erwarten war, stießen beide Vorhaben auf den erbitterten Widerstand der alten Oligarchie: Im April 2002 organisierte die venezolanische Opposition einen Militärputsch, im Dezember 2003 wurden die Produktionsanlagen des staatlichen Erdölunternehmens PdVSA bestreikt. In beiden Fällen gelang es jedoch, die reaktionären Angriffe abzuwehren – einmal durch Massenproteste der Basisbewegungen, die sich in der Hauptstadt Caracas versammelten und die Putschisten zur Aufgabe zwangen, das andere Mal durch loyale Arbeiter des Erdölunternehmens, denen es nach einigen Wochen gelang, die Produktion wieder in Gang zu setzen. Die bolivarische Bewegung ging aus beiden Kämpfen gestärkt hervor. Nicht nur, dass die arme Bevölkerungsmehrheit durch die Ereignisse nachhaltig geprägt und mobilisiert wurde. Es gelang auch, zentrale Institutionen wie die PdVSA unter die Kontrolle der Regierung zu bringen, so dass nun erstmals auch die Armen von dem Geschäft mit dem »schwarzen Gold« profitieren können.

Gesundheit und Bildung für alle

Im Jahr 2003 wurde die Gesundheitsmission Barrio Adentro ins Leben gerufen, um die die medizinische Versorgung der Menschen in den Armenvierteln und ländlichen Gebieten zu verbessern. Da sich die venezolanische Ärzteschaft seit jeher weigert, in den ärmeren Vierteln tätig zu sein, einigte man sich mit Kuba auf eine für beide Seiten vorteilhafte Kooperation: Über zehntausend kubanische Ärzte halfen Venezuela bei dem Aufbau einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung, im Gegenzug erhielt Kuba Erdöl günstig aus Venezuela. Auch bei der Bildungskampagne Misión Robinson orientierte man sich an kubanischen Vorbildern. Innerhalb von wenigen Jahren brachte man mehr als 1,5 Millionen Menschen das Lesen und Schreiben bei, die Analphabetenrate wurde von über 11 Prozent auf nahezu null reduziert. Durch den Aufbau eigener »bolivarischer« Universitäten erhielten auch Ärmere Zugang zu höherer Bildung, ferner wurden umfangreiche Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme aufgelegt, um den Menschen zu einem Berufsabschluss zu verhelfen und sie auf die selbstständige Arbeit im Rahmen von Kooperativen vorzubereiten.

Für die Mehrheit der Menschen in Venezuela hat sich der bolivarische Prozess jetzt schon ausgezahlt: So konnten in den vergangenen zehn Jahren mehr als zwei Millionen reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, vor allem die Einkommen der informell Beschäftigten haben sich deutlich erhöht, der Anteil der in Armut lebenden Haushalte sank von über 50 Prozent im Jahr 1998 auf 26 Prozent im Jahr 2008. Doch so eindrucksvoll die Zahlen sein mögen, sie spiegeln nur einen kleinen Teil des Erfolgs wieder. Er bestand hauptsächlich darin, die kulturelle Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile zu überwinden und allen Menschen die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu eröffnen.

Ausblick

Der bolivarische Prozess ist widersprüchlich und verlief nicht ohne Rückschläge. Im Dezember 2007 scheiterte die Regierung Chávez bei dem Versuch, die venezolanische Verfassung zu reformieren, mit der die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaftsordnung gelegt und die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten aufgehoben worden wäre. Auch der von Chávez angestoßene Aufbau einer neuen sozialistischen Partei verläuft nicht ohne Konflikte, hinzu kommen neue Herausforderungen wie die weltweite Finanzkrise und der sinkende Ölpreis, der es künftig schwieriger machen wird, den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur sowie höhere Löhne und Renten zu finanzieren.

Doch auch wenn die Schwierigkeiten wachsen und die Opposition nach wie vor mächtig ist – das Rad der Geschichte wird sie schwerlich wieder zurückdrehen können. Wie die Regionalwahlen Ende November 2008 gezeigt haben, wird die Politik der Regierung Chávez von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung gestützt: In 17 von 23 Regionen konnten sich die Anhänger von Chávez gegen die oppositionellen Kräfte durchsetzen. Während die Opposition (im Vergleich zum Referendum vom 2. Dezember 2007) etwa 300.000 Stimmen einbüßte, gewann die von Chávez geführte Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) etwa eine Million Stimmen hinzu und ist nun die mit Abstand stärkste politische Kraft. Derzeit spricht also vieles dafür, dass das anstehende Referendum, welches eine Wiederwahl von Chávez ermöglichen würde, Erfolg haben wird. Doch selbst wenn es scheitern sollte, wäre dies keine Katastrophe. Schließlich ist die bolivarische Revolution nicht allein das Produkt eines charismatischen Präsidenten, sondern Ergebnis der massenhaften Mobilisierung und Organisation von Menschen, die für eine Fortsetzung des bolivarischen Prozesses kämpfen werden.

Hinzu kommt, dass sich die Machtverhältnisse in ganz Lateinamerika gewandelt haben. In vielen Ländern Lateinamerikas sind inzwischen Linksregierungen an der Macht, die eine Abkehr vom Neoliberalismus anstreben und die Integration Lateinamerikas vorantreiben wollen. Venezuela ist also längst nicht mehr isoliert – dies beweist das Wachstum der Bolivarischen Alternative für die Völker unseres Amerikas (ALBA), die als »Gegenprojekt« zur amerikanischen Freihandelszone ALCA ins Leben gerufen wurde und der inzwischen Venezuela, Kuba, Bolivien, Nicaragua, Dominica und Honduras angehören. Dies zeigt sich an der im Dezember 2007 gegründeten Bank des Südens, der sich bislang Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay und Uruguay angeschlossen haben, sowie an Projekten wie »Telesur«, »Petrosur« oder »Petrocaribe«, die auf eine engere Kooperation im Telekommunikations- und Energiesektor abzielen. Zwar werden die USA und die EU weiterhin versuchen, die Hegemonie über die Länder Lateinamerikas zurückzugewinnen. Doch für die Menschen in Lateinamerika dürfte die Festigung lateinamerikanischer Bündnisse, die auf Gleichberechtigung und Solidarität basieren, in jedem Fall attraktiver sein als die Fortsetzung alter Ausbeutungsbeziehungen, von denen nur große Konzerne und korrupte Eliten profitiert haben.

Sahra Wagenknecht ist Mitglied im Parteivorstand und Europaabgeordnete.