Ergebnis eines entfesselten Kapitalismus

Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Tageszeitung "Neues Deutschland" am 28.11.2008

28.11.2008

»Privat vor Staat« hat ausgedient. Die gleichen Profitlobbyisten, die uns seit Jahren das neoliberale Mantra freier Märkte vorgebetet haben, nehmen den Staat heute ohne auch nur ein Gefühl von Peinlichkeit in die Pflicht. Den Aufschlag machte der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der schon im März 2008 staatliche Interventionen ins Finanzsystem mit der Begründung einforderte, er glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Ganz im Trend propagiert seither auch das Handelsblatt, dass »der Kapitalismus ... zurzeit nur mit Hilfe des Staates überleben« kann.

Wenn die Konzernlobby pfeift, sind Merkel und Steinbrück natürlich zum Tanz bereit. Nach dem 500-Milliarden-Euro-Rettungsschirm zum Aufpäppeln maroder Banken steht jetzt die Autoindustrie auf der Matte. Besonders existenziell ist die Not beim Autobauer Opel, der von seiner nahezu insolventen Konzernmutter General Motors in den Untergang gerissen werden könnte. 27 000 Arbeitsplätze bei Opel und Zehntausende bei den Zulieferern stehen auf dem Spiel. Eine ideale Wahlkampfvorlage für Roland Koch, sich mit einem 500-Millionen-Rettungspaket als treusorgender Landesvater zu inszenieren.

Eine solche Sozialisierung von Verlusten abzulehnen, heißt nicht, staatlichen Handlungsbedarf zu leugnen. Die entscheidende Frage ist, welche öffentlichen Aktionen im Interesse der Mehrheit der Menschen angesagt sind und welche nur dazu dienen, genau jenes Entwicklungsmodell zu konservieren, das die Welt in die jetzt beginnende schwere Wirtschaftskrise erst hineingetrieben hat. Die tieferen Ursachen dieser Krise lassen sich am Beispiel der deutschen Autoindustrie nachvollziehen.

Krisenursache Nr. 1: Die Verteilung der Einkommen. Die banale Wahrheit, dass Autos keine Autos kaufen, gilt auch heute. Ein Mittelklassewagen-Hersteller wie Opel kann in einer Zeit, in der die Reallöhne selbst im Aufschwung sinken und die Mittelschicht schrumpft, nicht auf fette Umsätze hoffen. Beginnt dann noch eine Rezession, sieht es zappenduster aus. Selbst Luxusanbietern wie BMW, Mercedes und Porsche, deren Klientel in den letzten Jahren im Geld schwamm und die daher Spitzenergebnisse erzielten, brechen nun die Umsätze weg.

Krisenursache Nr 2: Einseitige Exportorientierung. Die infolge von Lohndumping, Sozialraub und Rentenklau ausgefallene Nachfrage im deutschen Binnenmarkt wurde lange Zeit durch wachsende Ausfuhren kompensiert. Insofern gehörten auch die deutschen Autobauer zu den Profiteuren des schuldenfinanzierten US-Konsumbooms. Letzterer aber ist jetzt definitiv am Ende und auch die Autoabsätze in Europa sind um 15 Prozent eingebrochen. Eine Wirtschaft, die extrem vom Export abhängt, fällt dadurch besonders tief.

Krisenursache Nr. 3: Ein deregulierter Finanzsektor. Statt ihrer Aufgabe nachzukommen, Ersparnisse in die Finanzierung volkswirtschaftlich sinnvoller Investitionen umzulenken, haben sich die großen Banken jahrelang auf das sogenannte Investmentbanking konzentriert: die globale Wertpapierspekulation, die Kreation von überflüssigen Derivaten und Schrottpapieren, das Umsorgen von Hedge-Fonds und das Mitverdienen am Unternehmensmonopoly. Bei diesen Geschäften haben sie weltweit etwa zwei Billionen Dollar in den Sand gesetzt und daher jetzt schon gar kein Geld mehr, um die Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern. Viele mittelständische Zulieferer werden dadurch in ihrer Existenz bedroht und selbst große Autokonzerne kämpfen mit steigenden Finanzierungskosten. So muss BMW auf seine jüngste Anleihe eine Verzinsung von 8,9 Prozent zahlen, fast das Doppelte der Zinsen von vor einem Jahr.

Krisenursache Nr. 4: Der Shareholder-Value-Irrsinn. Dass die US-Autobauer technologisch hoffnungslos zurückgeblieben sind, hat vor allem einen Grund: Schon in den 90er Jahren wurden steigende Börsenkurse zum zentralen Unternehmensziel der meisten US-Aktiengesellschaften, was die Mästung der Aktionäre durch hohe Dividenden und Aktienrückkäufe impliziert. So setzten US-Unternehmen in den letzten acht Jahren jeden zweiten geliehenen Dollar nicht für Investitionen oder Forschung ein, sondern dafür, an der Börse ihre eigenen Aktien zurückzukaufen. Der Nobelpreisträger Robert Solow hatte bereits am Beginn dieser Entwicklung den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der US-Industrie durch eine »exzessive und gefährliche Überschätzung der Kurzfrist-Profitabilität« vorausgesagt. Genau das ist eingetreten, was viele deutsche Konzerne nicht davon abhält, mittlerweile die gleiche Strategie zu verfolgen.

Zum Thema kurzfristiger Renditejagd gehört auch die generelle Priorität von Finanz- gegenüber Sachinvestitionen. General Motors etwa erzielt schon seit 2001 den Großteil seiner Profite nicht mit dem Verkauf von Autos, sondern mit seiner Finanztochter GMAC, die am US-Hypothekenmarkt sowie in diversen Spekulationsgeschäften engagiert ist. Mit Ausbruch der Finanzkrise ist aus dem einstigen Renditetreiber nun aber ein virulenter Kapitalverbrenner geworden, der den Konzern zusätzlich nach unten zieht.

All diese Krisenursachen gehören letztlich zusammen. Sie sind Ergebnis und Konsequenz jenes entfesselten Kapitalismus, der sich als Wirtschaftsmodell der Industriestaaten seit Beginn der achtziger Jahre durchgesetzt hat. Ein öffentliches Agieren, das die Krise ernsthaft bekämpfen soll, muss wirtschaftliche Alternativen zumindest eröffnen. Der Vorschlag des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger, Opel zu verstaatlichen, zielt durchaus in die richtige Richtung. Aber öffentliches Eigentum ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: Zur Ausrichtung der Wirtschaft am Gemeinwohl anstelle blinder Renditediktate, zur Durchsetzung demokratischer Kontrolle und umfassender Belegschaftsrechte.

Also gilt: Staatsgeld nur im Austausch gegen Eigentumsrechte, die dann auch genutzt werden müssen, um eine Veränderung der Prioritäten des Wirtschaftens zu erzwingen. Für deutliche Lohnsteigerungen statt weiterem Lohnverzicht. Für reguläre Beschäftigung statt Leiharbeit. Für Forschung und Investitionen in ökologisch vertretbare Modelle statt Verschleuderung der Mittel für hohe Dividenden und Aktienrückkäufe.

Sahra Wagenknecht, 1969 geboren, trat 1989 in die SED ein. Von 1990 bis 1996 studierte sie Philosophie und Neuere Deutsche Literatur in Jena, Berlin und Groningen. Wagenknecht ist im Vorstand der Linkspartei und Sprecherin der parteiinternen Kommunistischen Plattform. 2004 wurde sie in das Europäische Parlament gewählt. Soeben erschien von Sahra Wagenknecht »Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft« im Verlag Das Neue Berlin.