Sahra Wagenknecht

"Es wird ernst. Lasst uns Schluss machen mit diesem Krieg"

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht im Interview mit dem SPIEGEL, 16. Februar 2023

17.02.2023
Susanne Beyer und Timo Lehmann

Sie warnen vor einem russischen Atomschlag: Hier sprechen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer erstmals gemeinsam über ihren Aufruf gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.

SPIEGEL: Frau Schwarzer, Frau Wagenknecht, Sie schreiben in Ihrem gemeinsamen Aufruf: »Es ist Zeit, uns zuzuhören!« Der Satz unterstellt, Ihnen würde nicht zugehört. Dabei waren Sie beide mit Ihrer ablehnenden Haltung zu Waffenlieferungen in den letzten Monaten ständig zu hören.

Schwarzer: Sahra Wagenknecht und ich wissen durchaus, dass wir eine Stimme haben. Und die nutzen wir ja gerade. Aber andere Menschen, die gegen Waffenlieferungen sind, und das ist die Hälfte der Bevölkerung, werden zu wenig gehört. Die politischen Entscheidungen bereiten diesem Teil der Bevölkerung Sorgen.

SPIEGEL: Sie beide werden angehört, weil sie für diesen Teil der Bevölkerung sprechen, auch jetzt. Die Annahme, die Medien berichteten einseitig, ist unter anderem durch dieses Gespräch hier widerlegt.

Schwarzer: Mal abwarten. Sie sehen an der überwältigenden Reaktion auf unser Manifest das enorme Bedürfnis in der Bevölkerung, jetzt für Verhandlungen und Frieden einzutreten. Zurzeit unterzeichnen über 100.000 Menschen täglich.

SPIEGEL: Nicht zuzuhören, das trifft doch auf Sie selbst zu. Jene, die sich für Waffenlieferungen einsetzen, sind nicht gegen Verhandlungen und Frieden, ganz im Gegenteil. Und in der Ukraine wünscht man sich Waffenlieferungen, um sich gegen den Aggressor Wladimir Putin zu wehren. Warum sind Sie für Argumente der Ukraine nicht erreichbar?

Schwarzer: Das stimmt doch einfach nicht. In der Hälfte unseres Manifestes geht es um die furchtbare Lage in der Ukraine, zu deren baldigem Ende wir beitragen wollen.

Wagenknecht: Also ich bekomme Mails von Ukrainerinnen, die zurzeit in Deutschland leben und Angst haben, was aus ihren Männern oder Söhnen wird. 12.000 junge Männer wurden nach ukrainischen Angaben an der Grenze festgesetzt, weil sie fliehen und nicht zum Militärdienst wollten. Das zeigt, dass die Stimmung in der Ukraine nicht so eindeutig ist, wie sie dargestellt wird. Die meisten Menschen haben vor allem das Bedürfnis zu leben. Deshalb muss es oberstes Ziel sein, diesen Krieg, die Zerstörung, das Leid und das Sterben schnellst möglich zu beenden.

SPIEGEL: Um ein Stimmungsbild aus der ukrainischen Gesellschaft zu erhalten, hat die Münchner Sicherheitskonferenz jetzt eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: 95 Prozent sind dafür, dass die Ukraine weiterkämpfen solle, wenn Russland die konventionelle Bombardierung ukrainischer Städte fortsetze. Eine deutliche Mehrheit würde nicht einmal nach einem russischen Atomschlag kapitulieren.

Schwarzer: Das kann ich nachvollziehen. Aber abgesehen davon, dass Umfragen in Kriegszeiten immer fragwürdig sind, müssen wir uns über die Ukraine hinaus fragen, was eigentlich das Ziel dieses Krieges ist.

SPIEGEL: Wenn Putin siegreich aus dem Krieg hervorgeht, wenn er die Ukraine zerschlägt und die Bevölkerung unterdrückt, dann hätte das tyrannische Prinzip gewonnen. Kann das im Interesse von Demokratien sein? Außerdem bestünde die Gefahr, dass er Anspruch auf andere ehemalige Sowjetrepubliken erhebt.

Wagenknecht: Auch die RAND Corporation, ein Think Tank, der die US-Streitkräfte berät, weist darauf hin, dass keine Seite diesen Krieg gewinnen kann. Sie fordert wegen der immensen Eskalationsgefahr bis hin zu einem Atomkrieg das Weiße Haus auf, nicht länger auf einen Abnutzungskrieg und Waffenlieferungen zu setzen, sondern den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Das bedeutet doch nicht, dass Putin diesen Krieg gewinnt. Er hat sich zweifellos einen anderen Verlauf gewünscht.

SPIEGEL: Weil der Westen die Ukraine mit Waffen beliefert hat. Im Übrigen: Die RAND Corporation rät von einer schnellen Kursänderung ab und spricht sich für eine Kombination aus militärischem und diplomatischem Vorgehen aus.

Wagenknecht: Die Ukraine war schon vor dem Krieg stark ausgerüstet. Es wäre besser gewesen, wenn im Frühjahr vergangenen Jahres ein Friedensschluss zustande gekommen wäre, statt die Kämpfe und das Sterben monatelang mit Waffen anzuheizen.

SPIEGEL: Aber wer ist schuld daran, dass Verhandlungen nicht möglich sind, wenn nicht Putin? Es spricht bisher alles dafür, dass beim Massaker von Butscha, das jetzt von Ermittlern für Kriegsverbrechen untersucht wird, Zivilisten von russischen Soldaten gefoltert und ermordet wurden. Putin will offenbar nicht verhandeln, solange er noch militärische Chancen für sich in der Ukraine sieht.

Wagenknecht: Nach übereinstimmender Aussage des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett und des türkischen Außenministers, die beide im Frühjahr versucht haben zu vermitteln, ist der Friedensschluss damals nicht an mangelnder Kompromissbereitschaft Putins und auch nicht an der Ukraine gescheitert, sondern an einer Intervention Großbritanniens und der Vereinigten Staaten. Wollen wir jetzt wirklich so lange Waffen liefern, bis die Krim von der Ukraine zurückerobert wird? Was bedeutet das? Schon Kennedy hat gewarnt, eine Atommacht nie in eine Situation zu bringen, in der sie nur noch die Wahl zwischen einer demütigenden Niederlage und dem Einsatz von Nuklearwaffen hat.

SPIEGEL: Das ist doch eine verzerrte Darstellung. Ein Waffenstillstand ist nicht am Westen gescheitert, sondern vor allem an den russischen Kriegsverbrechen in Butscha. Nicht die Ukraine hat Russland überfallen, sondern Russland die Ukraine. Waffenlieferungen dienen der Befreiung ukrainischen Territoriums. Sie tun so, als beabsichtige die ukrainische Armee auf Moskau vorzurücken. Hätte die Ukraine denn überhaupt eine Verhandlungsposition, wenn sie sich militärisch nicht gegen Russland wehren könnte?

Schwarzer: Die Ukraine kann einzelne Schlachten gewinnen. Aber nicht den Krieg. Ein kleines Land wie die Ukraine kann keine Atommacht in die Knie zwingen. Und ich möchte auch nicht, dass eine Atommacht in die Knie gezwungen wird, weil ich ahne, was eine Atommacht dann tut. Man wird ja gleich als Putinversteherin verspottet, wenn man in einem kriegerischen Konflikt überlegt, was die Motive des Gegners sind und was er tun könnte.

SPIEGEL: Putin hat in Tschetschenien und Georgien Krieg geführt. Er hat die Krim annektiert, er ist laut dem Urteil des Berliner Kammergerichts im Tiergartenprozess mitverantwortlich für einen Auftragsmord in Deutschland. Er steckt Andersdenkende in Lager. Internationale Ermittler kamen jetzt zu dem Schluss, dass er aktiv am Abschuss der Passagiermaschine MH17 beteiligt gewesen sei. Wie wollen Sie bei einem solchen Mann etwas mit Entgegenkommen erreichen?

Wagenknecht: Am Ende des Afghanistan-Kriegs haben die Amerikaner sogar mit den Taliban verhandelt. Wer den Krieg beenden will, muss mit Russland verhandeln, anders geht es doch nicht. Und völkerrechtswidrige Angriffskriege sind leider nicht nur von Putin ausgegangen. Die USA haben allein in den letzten 25 Jahren fünf Länder überfallen. Sie führen mit Drohnen exterritoriale Tötungen durch, zu deren Opfern oft genug Frauen und Kinder gehören. Natürlich ist alles, was Sie aufgezählt haben, ein Verbrechen. Aber das zu beklagen, bringt uns doch nicht weiter.

SPIEGEL: Das sind doch hanebüchene Vergleiche. Sehen Sie das auch so, Frau Schwarzer? Würden auch Sie sagen, der Kampf der USA gegen islamistischen Terror zum Beispiel in Afghanistan – der Kampf für freie Rechte, auch für Frauen – sei gleichzusetzen mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine?

Schwarzer: Es ist nicht gleichzusetzen. Das hat Sahra ja auch nicht gesagt. Aber ebenso zu verurteilen. Die Irakkriege, die die Amerikaner 1991 und 2003 geführt haben, waren völkerrechtswidrige Kriege und haben nur verbrannte Erde hinterlassen. Und was für ein Desaster der Einmarsch in Afghanistan im Namen der Frauenrechte ist, hätten wir schon früher wissen können. Für das Schicksal der Afghaninnen interessiert sich in Wahrheit heute niemand mehr. Als ich im September 2022 in Berlin eine Konferenz mit Afghaninnen gemacht habe, um ihnen eine Stimme zu geben, ist kein einziger Journalist gekommen. Kein einziger!

SPIEGEL: Vor einem Jahr, wenige Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, haben Sie, Frau Wagenknecht, in der ARD-Talkshow von Anne Will gesagt: Der russische Einmarsch werde von den USA »geradezu herbeigeredet«. Vielleicht sei da »der Wunsch der Vater des Gedankens«. Sie haben sich getäuscht. Warum sollte man Ihnen heute vertrauen?

Wagenknecht: Viele haben damals nicht für möglich gehalten, dass Putin in die Ukraine einmarschiert. Ich habe allerdings schon damals und übrigens auch in der Will-Sendung gewarnt, dass die Russen offenbar um jeden Preis verhindern wollen, dass die Ukraine ein militärischer Vorposten der Vereinigten Staaten wird. Und dass sie das im Zweifel auch mit militärischen Mitteln tun werden. Die Frage einer möglichen Nato-Mitgliedschaft war immer Kern des Konflikts. Immerhin waren damals bereits 4000 Nato-Soldaten in der Ukraine stationiert, es gab gemeinsame Manöver im Schwarzen Meer, auf dem Nato-Gipfel 2021 wurde die Beitrittsperspektive bekräftigt.

SPIEGEL: Die Ukraine stand aber nicht vor einer Nato-Mitgliedschaft. Vor dem Krieg haben Sie Putin also nicht zugetraut, dass er in die Ukraine einmarschiert. Jetzt sagen Sie, er sei so gefährlich, dass er kurz davor sei, die Atombombe zu werfen.

Schwarzer: Wir sind eben lernfähig. Es geht auch gar nicht darum, ob wir recht haben oder Unrecht. Es geht darum, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wir rücken täglich einem Atomkrieg immer näher. Der könnte inzwischen auch aus Versehen ausgelöst werden.

Wagenknecht: Es gab diesen Zwischenfall mit der ukrainischen Rakete, die versehentlich in Polen eingeschlagen ist und die man zunächst für eine russische hielt. Dann wäre der Bündnisfall der Nato eingetreten und wir wären im Dritten Weltkrieg. Selenskyj hat das damals gefordert, einige in Deutschland auch. Was ist, wenn tatsächlich einmal eine fehlgeleitete russische Rakete in Polen einschlägt? Ein großer Krieg muss nicht damit beginnen, dass Putin den Atomknopf drückt.

SPIEGEL: Wo liegt Ihr Dissens mit US-Präsident Joe Biden oder Kanzler Olaf Scholz? Glauben Sie, die beiden sehen keine Eskalationsgefahr? Scholz agiert vorsichtig, Lieferungen der Kampfjets etwa lehnen er und Biden ab.

Wagenknecht: Scholz hat nach einigem Zögern entschieden, Kampfpanzer zu liefern. Die aktuellen Argumente gegen die Kampfjets kommen mir alle bekannt vor. Was sind die in einem Monat noch wert? Es wurde doch in letzter Zeit eine rote Linie nach der nächsten überschritten. Um diese Entwicklung zu stoppen, brauchen wir eine starke Friedensbewegung. Deshalb rufen Alice Schwarzer, Erich Vad und ich für den 25. Februar, 14 Uhr, zu einer großen Friedenskundgebung am Brandenburger Tor auf.

Schwarzer: Wir sehen doch, dass die Politiker inzwischen nicht mal auf die Ratschläge ihrer höchsten Militärs hören. Das Pentagon etwa war gegen die Lieferung der Abrams-Panzer durch die USA, zu der sich Biden aber nun doch bereit erklärt hat.

SPIEGEL: Es gibt eine politische Dimension dabei. Die USA wollten, dass Deutschland die Kampfpanzer liefert. Deutschland wollte aber nicht allein liefern, sondern nur gemeinsam mit den westlichen Verbündeten. Deswegen zog Biden mit. Nur auf Militärs zu hören - so funktioniert Außenpolitik nicht.

Schwarzer: Politische Dimension ist gut. Aus meiner Sicht ist Deutschland bei den Kampfpanzern reingelegt worden. Denn wie sich nun zeigt, will Deutschland seine Zusagen erfüllen, doch bei den anderen tun sich plötzlich Probleme auf. Jetzt ist Deutschland in den Augen Moskaus der Bösewicht Nummer eins. Oder zwei. Gleich nach Amerika.

SPIEGEL: Sie sagen, es brauche eine neue deutsche Friedensbewegung. Kaum waren Sie damit raus, hat der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla Ihre Petition unterschrieben, das rechtsextreme Magazin »Compact« ruft zur Teilnahme an Ihrer Demo auf. Es muss Ihnen klar gewesen sein, dass das kommt. Warum nehmen Sie das in Kauf?

Schwarzer: Scherzen Sie? Es haben Hunderttausende Menschen diese Petition unterschrieben. Und Sie sprechen jetzt von einer Person. Entschuldigung, darf ich Sie fragen, warum Sie diese absurde Frage stellen?

SPIEGEL: Diese Unterstützung kommt von einer Seite, durch die Ihr Anliegen diskreditiert wird. Das kann Ihnen doch nicht recht sein.

Schwarzer: Unser Manifest kann jeder unterzeichnen. Wir können und wollen das nicht kontrollieren. Und mit wem wir gemeinsam Öffentlichkeit schaffen wollen, sieht man an unseren Erstunterzeichnern. Das sind glaubhafte Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Bereichen.

Wagenknecht: Dieser Versuch, unsere Initiative zu diskreditieren, in dem man eine Unterschrift von hunderttausenden hochspielt, nützt letztlich nur der AfD. Herr Chrupalla gehört aus gutem Grund nicht zu den Erstunterzeichnern und er hat inzwischen sogar klargestellt, dass er gar nicht zu unserer Kundgebung aufgerufen hat.

Schwarzer: Was ist mit den restlichen Hunderttausenden Unterzeichnern? Interessieren die Sie gar nicht? Gerade unterschreiben Menschen im 20-Sekunden-Takt unser Manifest. Was ist mit denen? Reden Sie doch mal mit denen!

SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Zehntausende Rechtsextremisten auf Ihrer Demo erscheinen, Fahnen wedeln? Es war klar, dass die AfD Ihre Position teilt.

Wagenknecht: Auf unserer Kundgebung ist jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und für Verhandlungen demonstrieren möchte. Rechtsextreme Flaggen oder Symbole dagegen haben auf ihr nichts zu suchen und werden nicht geduldet. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Viele Leute trauen sich gar nicht mehr, eine Kundgebung anzumelden ...

Schwarzer: Was Sie gerade versuchen, ist antidemokratisch …

Wagenknecht: … weil womöglich irgendein finsterer Geselle auf dem Platz auftauchen könnte. Mit dieser Debatte wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit untergraben.

Schwarzer: Ernsthaft: Sie wollen den Menschen offensichtlich Angst machen, zu unserer Kundgebung zu kommen.

SPIEGEL: Sie hätten die Debatte nicht gehabt, hätten Sie sich in ihrem Aufruf klar distanziert. Es gab schon Demonstrationen von extremen Rechten, bei denen laut nach »Sahra« gerufen wurde. Auch Sie, Frau Schwarzer, haben mit Ihren Thesen zum Islam Fans rechtsaußen. Sie beide nehmen diese Unterstützung in Kauf, weil diese Aufregung darum Ihnen ebenfalls Aufmerksamkeit bringt. Hätten Sie gesagt, der Aufruf richte sich ausschließlich an Demokraten, müssten Sie sich nun nicht um Ordner sorgen, die nach rechtsextremen Symbolen Ausschau halten.

Schwarzer: Distanziert sich der SPIEGEL, von Rechtsradikalen gelesen zu werden? Wenn eine AfD-Wählerin die Emma abonniert - den Fall gab es - dann ist die Freude groß bei den Medien. Ah, dann muss auch die Emma rechts sein. Wissen Sie, was mich freut? Wenn diese Frau uns liest und vielleicht nachdenklich wird.

SPIEGEL: Wir sehen da Einigkeit bei Ihnen. Wie kamen Sie beide überhaupt zusammen?

Schwarzer: Sahra Wagenknecht und ich haben uns zum ersten Mal vor wenigen Tagen in Köln getroffen. Das erste Mal hatte Sahra mir im April, glaube ich, geschrieben und da hast du gesagt, Sahra, dass du den offenen Brief an Scholz gut gefunden hast. Daraus ergab sich ein lockerer Kontakt. Jetzt Anfang Januar dachte ich, jetzt geht's aber rund. Jetzt kannst du nicht nur hier mit deinem Frauenladen weiterkommen. Und da habe ich überlegt, wer könnte an meiner Seite sein? Seit einem Jahr fällt mir nur immer wieder die Stimme von Sahra auf, die in aller Klarheit und mit großem Mut ihre Anti-Kriegs-Position vertritt.

SPIEGEL: Wie ging es weiter?

Schwarzer: Ich schrieb ihr am 14. Januar. Sie hat am 15. per Mail geantwortet: tolle Idee, sie sei dabei. Unser Miteinander signalisiert doch auch: Kinder, kommt aus eurem Lager heraus, wir müssen jetzt alle zusammenhalten! Es wird ernst. Lasst uns Schulter an Schulter wagen, ehrlich über den Krieg und seine furchtbaren Folgen zu reden. Und ich muss Ihnen sagen, dass mir die Arbeit mit Sahra viel Spaß gemacht hat.

SPIEGEL: Nicht alle, die Ihren offenen Brief vom April unterschrieben haben, sind jetzt wieder dabei. Warum haben Sie Leute verloren?

Schwarzer: Leute verloren? Wir haben Hunderttausende gewonnen! Die Menschen, die damals unterzeichnet haben, haben ganz schön was abbekommen in den Medien. Nicht jeder kann so viel Diffamation ertragen. Ich verstehe das.

SPIEGEL: Gab es Punkte, bei denen Sie beide sich uneinig waren?

Schwarzer: Wir haben beide den Ruf, nicht unkompliziert zu sein. Aber wir waren uns total einig. Innerhalb von drei Wochen haben wir das Ding durchgezogen.

Wagenknecht: Als Politikerin weiß ich, wie schwierig es sein kann, mit Anderen zusammen Texte zu formulieren. In unserem Fall klappte das wunderbar.

SPIEGEL: Sie sind beide seit jeher auch bei Linken umstritten. Sehen Sie sich beide jeweils noch als Teil der gesellschaftlichen Linken?

Wagenknecht: Selbstverständlich verstehe ich mich als Teil einer traditionellen Linken, die für soziale Gerechtigkeit und Frieden steht. Aber es sollte der gesellschaftlichen Linken zu denken geben, dass viele Menschen mit dem Begriff "links" heute eher abgehobene Debatten, Sprachreglements und Selbstgerechtigkeit verbinden.

Schwarzer: Es gibt Leute, die behaupten, sie seien links und dann sind sie im Handeln eher rechts. Die Frauenbewegung ist ja aus dem Konflikt mit der Linken entstanden. In den frühen Siebzigerjahren herrschte bei vielen Linken ein Machismo vor, da waren reichlich kleine und große Paschas unter den Genossen. Der bolivianische Bauer, der sollte befreit werden, aber die eigene Freundin oder Ehefrau, die sollte mal weiter tippen, Kaffee kochen und die Beine breitmachen. Unsere Gegner als fortschrittliche Frauen waren zunächst unsere eigenen Männer. Und das waren Linke.

SPIEGEL: Die »taz« schrieb, Sie, Frau Schwarzer, gefährdeten Ihr Lebenswerk durch Ihr neues Engagement. Tun Sie das?

Schwarzer: Ich weiß gar nicht, wie oft ich von der »taz« schon für tot erklärt wurde. Die »taz« steht für mich für die rechten Linken. Genau dieser Art von Linken habe ich in den vergangenen Jahrzehnten versucht, Einhalt zu gebieten: gegen die Verharmlosung von Kindesmissbrauch oder Prostitution zum Beispiel.

SPIEGEL: In der Linkspartei gab es eine MeToo-Debatte, nachdem einige männliche Parteimitglieder sich übergriffig gegenüber Frauen verhalten hatten. Sie, Frau Wagenknecht, sagten dazu: »Eine Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Einige empfinden es aber schon als sexuelles Mobbing, wenn ein männlicher Kollege eine Frau kritisiert.« Man könnte das als Verharmlosung sexueller Übergriffe am Arbeitsplatz sehen. Wie sehen Sie einen solchen Satz, Frau Schwarzer?

Schwarzer: Ich würde sagen: Da muss man genau hinsehen, wie immer. Sahra Wagenknecht ist für eine Feministin politisch ja keine Gegnerin, das ist doch klar, sondern höchstens ein Mensch, den wir noch für den Feminismus gewinnen wollen.

SPIEGEL: Würden Sie eine neue Partei von Frau Wagenknecht unterstützen?

Schwarzer: Ich beurteile Politiker und Parteien schon lange nicht nach ihrem Etikett, sondern danach, was sie konkret tun und was mir gerade besonders am Herzen liegt.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, Sie forderten immer wieder »den Finanzkriminellen« das Handwerk zu legen. Frau Schwarzer hat Steuern hinterzogen.

Wagenknecht: Das ist doch unterste Schublade, diesen Vergleich zu bringen. Ich habe großen Respekt vor dem Lebenswerk von Alice Schwarzer. Ich glaube auch, dass wir in der Frauenfrage so weit nicht auseinander liegen. Ich habe immer wieder kritisiert, dass vor allem Frauen in schlecht bezahlte Jobs abgedrängt werden, dass sie immer noch viel weniger verdienen als Männer, das ist auch mein Thema. Sie sollten nicht versuchen, hier künstliche Differenzen aufzumachen.

Schwarzer: Worauf wollen Sie raus? Haben Sie eigentlich keine anderen Sorgen als meine vielfach bedauerte Steuersünde von vor neun Jahren?

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, hat sich Ihr Blick auf Russland verändert im vergangenen Jahr?

Wagenknecht: Ich liebe Tolstoi, ich liebe Dostojewski, und ich höre gern russische Musik. Das hat aber nichts mit den politischen Verhältnissen in Russland zu tun. Für die habe ich keine Sympathie. Das ist ein korrupter Oligarchenkapitalismus mit extremer Ungleichheit und großer Armut. Das war schon vor dem Krieg keine Gesellschaft, der ich etwas abgewinnen konnte.