„Es gibt eine Mitverantwortung des Westens“

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen im Weserkurier am 01.10.2022

01.10.2022
Cornelie Barthelme

Es ist Freitagmorgen, Frau Wagenknecht - und Sie sind auf dem Weg zum Flughafen, weg aus Berlin. Sind Sie froh?

Na - froh? Ich mache hier Politik und ich mache sie gern. Aber ehrlich gesagt finde ich es zum Verzweifeln, wie konzeptionslos die Bundesregierung ist. Wie sie zuschaut, wie sich die Probleme zuspitzen. Millionen Menschen wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. In der Wirtschaft herrscht extreme - und nachvollziehbare - Angst. Ich würde gern dazu beitragen, dass sich die Politik verändert.

Mit diesem Versuch scheitern Sie seit 22 Jahren. Man könnte ja schon mal fragen, warum Sie sich das noch immer antun?

Die Linke war ja eine Zeitlang eine politische Kraft. Zu dieser Zeit hat Politik wirklich Freude gemacht. Als sie gegründet wurde, als sie zweistellige Ergebnisse erzielte, hat das schon Druck auf die Bundesregierung ausgeübt, sozialere Politik zu machen - den Mindestlohn beispielsweise. Ohne unseren Einfluss zu überschätzen: Dazu hat die Linke beigetragen.

Lassen Sie uns noch ein bisschen bei Ihnen persönlich bleiben. Wer „Wagenknecht“ googelt - landet ganz schnell bei „Wagenknecht Twitter“. Und da geht es dann ab: „Besserwisserisch“ und „unterirdisch“ sind noch Freundlichkeiten. Was macht das mit Ihnen?

Bei mir kommen ganz andere Rückmeldungen an, ob per Mail, auf Facebook oder Youtube. Da ist sehr viel Zustimmung. Natürlich gibt es diese Twitter-Blasen, in denen ich hingerichtet werde. Aber das lese ich nicht mehr. Was mich wirklich ärgert, ist die Irrationalität der Debatten. Wenn ich im Bundestag eine Rede halte, in der ich den Ukraine-Krieg ein Verbrechen nenne, aber gleichzeitig die Wirtschaftssanktionen gegen Russland kritisiere, weil sie uns mehr schaden als Putin - und dann wird berichtet, das sei eine pro-russische, kremlnahe Rede gewesen. Das ist verrückt!

Sie haben aber auch sehr pointiert von einem „beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten“ gesprochen - und das „bescheuert“ genannt und die Ampel „die wirklich dümmste Regierung in Europa“. Das sind Meinungen, die Sie äußern dürfen, auch im Bundestag, ohne zur Ordnung gerufen zu werden. Aber es ist dann schon eine Tatsachenbehauptung, dass die Bundesregierung einen Wirtschaftskrieg vom Zaun gebrochen habe…

…aber das wurde er doch! Ja, er ist eine Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine, den ich verurteile. Aber ob diese Reaktion sinnvoll war - darüber muss man doch diskutieren! Die EU hat sieben Sanktionspakete verabschiedet mit der Begründung: Wir wollen, dass Putin diesen Krieg beendet. Nach einem halben Jahr muss man prüfen, ob die Sanktionen ein Beitrag dazu sind. Oder sehen wir: Die russische Staatskasse ist voll, Gazprom macht Rekordgewinne - aber bei uns droht eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe.

Wie hätten Sie denn reagiert als Kanzlerin am 24. Februar?

Es hätte mehr Druck geben müssen, einen Kompromiss zu finden. Wahrscheinlich hätten der Verzicht der Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft und die Umsetzung des Minsker Abkommens den Krieg verhindern können. Wir hätten neutrale Länder um Vermittlung bitten können.

Wen hätten Sie als Vermittler gewählt? Den türkischen Präsidenten Erdogan?

Oder Israel. Südafrika. Der Präsident von Mexiko hat gerade einen Friedensplan vorgelegt.

Also mehr Druck auf Russland…

…ja, diplomatischen Druck! Druck zu Gesprächen mit der Ukraine. Inzwischen sollte man auch Druck auf den ukrainischen Präsidenten ausüben, der sagt, dass er nicht verhandeln will, ehe der letzte Russe von der Krim verschwunden ist.

Das können Sie nicht nachvollziehen?

Vom Standpunkt der Moral aus natürlich. Aber es ist politisch unverantwortlich, weil es unrealistisch ist und daher bedeutet, den Krieg auf endlose Zeit zu verlängern. Für den Präsidenten eine Landes sollte das oberste Ziel sein, das Sterben und die Zerstörung zu beenden. Und dann muss verhandelt werden, wie es weitergeht. Das wird natürlich mit jeder Eskalation schwieriger. Die Befürworter der Lieferung schwerer Waffen haben immer argumentiert, dass die Ukraine dadurch militärisch gewinnen kann. Wir sehen jetzt, dass die Ukraine zwar dank westlicher Waffen Gelände zurückgewinnt - aber Russland darauf mit militärischer Eskalation reagiert. Und dafür hat es leider noch sehr viel Potenzial. Putins letzte Karte wäre der Einsatz taktischer Atomwaffen. Man muss an den Gesprächstisch zurück.

Wladimir Putin scheint wenig geneigt zu Verhandlungen, deren Ergebnis nicht präjudiziert ist und lautet: Wir bekommen hundert Prozent unserer Forderungen…

…Russland ist gar nicht in der Position, hundert Prozent zu verlangen. Und ob sie wirklich nicht verhandeln wollen... Viele Europäer hielten auch Gespräche über Getreideausfuhren für sinnlos. Erdogan hat vermittelt, seither fahren wieder Getreideschiffe durchs Schwarze Meer.

Hat möglicherweise etwas damit zu tun, dass da zwei Männer ähnlicher Attitüde zusammenkamen.

Ich finde Erdogan ähnlich unsympathisch wie Putin. Aber es geht darum, diesen schrecklichen Krieg zu beenden - und da sollten die Europäer nicht Erdogan die Initiative überlassen, zumal der Leidensdruck in der Türkei viel geringer ist als hier. Denn die Türkei beteiligt sich nicht an den Sanktionen und freut sich wegen geringer Energiekosten über einen Boom an Direktinvestitionen. Ebenso wie übrigens die USA, die von der aktuellen Situation ebenfalls wirtschaftlich profitieren.

Bei Ihnen klingt das, als hätten die USA ein Interesse daran, dass der Krieg andauert…

…zumindest haben sie erkennbar wenig Interesse, ihn schnell zu beenden. Ich finde es wirklich eine Blamage, dass es keinen vernünftigen Friedensplan des Westens gibt.

Wie kriegen Sie Putin zu ernsthaften Verhandlungen - Betonung auf ernsthaft  - ohne Waffen und Sanktionen?

Man muss den Konflikt zunächst einmal einfrieren. Und dann muss man über Sicherheitsgarantien reden: Russland will keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und keine Raketen an seiner Grenze, die Moskau in fünf Minuten erreichen könnten. Die Ukraine braucht neutrale Garantiemächte, die ihr die Sicherheit geben, nicht erneut überfallen zu werden. Biden hat immer abgelehnt, mit Putin über die Nato-Frage zu reden.

Das hätte die Ukraine zum Objekt gemacht. Ihr die eigene Handlungsmacht entzogen.

Die Nato entscheidet, wer Mitglied wird. Außerdem haben die USA schon lange auf die Politik in der Ukraine Einfluss genommen.

Das hat Moskau auch.

Russland hat im direkten Umfeld immer imperiale Ambitionen verfolgt. Klar, in einer idealen Welt hat jedes Land die Freiheit, den Weg zu gehen, den es will. Aber die heutige Welt ist nicht so. Und Länder, die einen großen Nachbarn haben, stehen vor der Frage: Ist es hilfreich, einen massiven Konflikt heraufzubeschwören? Wenn Mexiko oder Venezuela über den Beitritt zu einem russisch oder chinesisch geführten Militärbündnis auch nur nachdenken würden, würden sie sofort einen Militärschlag der USA riskieren.

Sie finden also, die Ukraine habe den Konflikt heraufbeschworen?

Nein. Nichts rechtfertigt diesen verbrecherischen Krieg. Aber der Konflikt ist von verschiedenen Seiten verschärft worden - und es gibt eine Mitverantwortung des Westens. Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte.

Was Sie im Bundestag zum Krieg gesagt haben, fanden viele Linke typisch Wagenknecht: Macht ihr eigenes Ding - und pfeift auf die Partei.

Mehr als 11000 Parteimitglieder und Sympathisanten haben unterschrieben, dass sie meine Rede gut fanden. Der Brief gegen mich hatte 2800 Unterschriften.

Der Applaus kommt aber von Rechtsaußen - und von der AfD.

Der Applaus, den ich wahrnehme, kommt von der Mittelschicht, von Geringverdienern, von normalen Arbeitnehmern, Handwerkern, sogar dem industriellen Mittelstand. Überall grassiert derzeit die Angst. Die Menschen verstehen doch, dass die Energiepreisexplosion etwas mit den Russland-Sanktionen zu tun hat.

Sie wollen also den Herbst wirklich heiß machen?

Ich sehe nicht, wie wir ohne eine starke Protestbewegung die Ampel zur Veränderung ihrer Politik bringen.

Und die Linke zahlt den Preis, im Schulterschluss mit der AfD wahrgenommen zu werden?

Es gibt keinen Schulterschluss mit der AfD.

Aber die Partei wird so wahrgenommen. Und was Sie sagen, wird als national und sozial beschrieben.

Was ist das für eine dumme Diskussion. Natürlich sollte eine Regierung in erster Linie die Interessen ihrer Wähler vertreten. Das heißt doch nicht, dass wir damit Politik zu Lasten anderer Länder machen. Aber wir helfen der Ukraine nicht, indem wir unsere Industrie und den Wohlstand in Deutschland zerstören.

Wenn Sie so reden - dann kriegen Sie den Druck, von dem wir vorhin sprachen. Vor drei Jahren war er so stark, dass Sie eine Auszeit nehmen mussten. Sie waren erschöpft - physisch, psychisch, mental…

…ich hatte einen Burnout…

…danach sagten Sie, vor lauter Terminen und Konflikten hätten Sie Ihre große Vision geopfert. Wie ist das heute?

Ich hatte sie nicht geopfert - nur immer weniger Zeit und Kraft für die Dinge, die mir wirklich wichtig waren, weil ich mich in der Abwehr innerparteilicher Reibereien verschlissen habe. Das wollte ich nicht mehr. Seit ich nicht mehr Fraktionsvorsitzende bin, bin ich viel unabhängiger.

Und die Vision? In einem Satz?

Ich möchte ein sozial gerechtes Land mit einer soliden innovativen Wirtschaft, das mit seinen Nachbarn in Frieden lebt und in dem die Lebenschancen eines jeden von seiner eigenen Leistung und nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Davon sind wir leider weit entfernt.

Aber für den Moment fast da. Wenn Sie sich’s aussuchen dürften - Freitag früh, zehn vor neun am BER: Wo liegt der Ort, an dem Sie jetzt lieber wären?

Am liebsten bin ich natürlich zu Hause, mit meinem Mann. Aber ich wäre auch gern in Berlin, wenn ich hier etwas bewegen und verändern könnte. Ich hoffe, dass mir das noch gelingt.

Und an dem anderen Ort? Was sind Sie dort?

Köchin, Radfahrerin, glückliche Ehefrau… Aber ganz höre ich natürlich nie auf, Politikerin zu sein.

Zum Interview[1]

Links:

  1. https://www.weser-kurier.de/politik/inland/wagenknecht-es-gibt-twitter-blasen-in-denen-ich-hingerichtet-werde-doc7myskxsnlistuupqdal