Sahra Wagenknecht

Auch ein Fußlahmer wie Scholz kann gewinnen, wenn die anderen vor dem Ziel kollabieren

Weitergedacht - Die Wagenknecht Kolumne bei Focus

01.10.2021

Erleben wir gerade ein Comeback der Sozialdemokratie? Oder droht mit einem Kanzler Scholz eher eine Agenda 2030? Und hatten die Bürger eigentlich nur die Wahl zwischen schlecht, schlechter und am Schlechtesten? Eine etwas andere Interpretation der Wahlergebnisse vom letzten Sonntag.

Er scheint der strahlende Sieger dieser Bundestagswahl zu sein: Olaf Scholz. Der Kanzlerkandidat der SPD, noch vor wenigen Monaten von den meisten eher mitleidig belächelt und von einer Partei aufgestellt, die sich unsicher war, ob man angesichts katastrophaler Umfragewerte nicht statt eines Kanzler- nur einen einfachen Spitzenkandidaten hätte ins Rennen schicken sollen, ist am Wahltag als erster durchs Ziel gelaufen. Auch wenn das nicht automatisch ein Ticket ins Kanzleramt ist, spricht aktuell viel dafür, dass Deutschland nach 16 Jahren Angela Merkel wieder einen Kanzler mit SPD-Parteibuch bekommt. Entsprechend groß ist der Jubel bei den Sozialdemokraten. „Die SPD ist wieder da“ titeln die Agenturen, vom großen Comeback ist die Rede, Hubertus Heil schwärmt von einem „historischen Erfolg“.

Die Union dagegen wirkt desolat und tief gedemütigt. Nicht nur Intimfeind Söder, auch viele CDU-Granden zeigen wenig Wohlwollen für Armin Laschets verzweifelten Versuch, trotz des Wahldesasters eine – rechnerisch immerhin mögliche – Jamaika-Koalition auf die Beine zu stellen. Hat die SPD also nach Jahren des Elends diesmal alles richtig gemacht? Der richtige Kandidat, ein klares Profil, ein überzeugender Wahlkampf? Oder ist vielleicht alles ganz anders?

CDU verkümmerte in 16 Jahren Merkel zu einer hohlen Machterhaltungstruppe

Wer die Vorgeschichte nicht kennt, müsste sich eigentlich verwundert die Augen reiben, wenn er die Schlagzeilen der letzten Tage mit den tatsächlichen Wahlergebnissen vergleicht. Zwischen dem „historischen Erfolg“ der einen ehemaligen Volkspartei und der katastrophalen Niederlage der anderen liegen gerade mal 1,6 Prozentpunkte. In absoluten Zahlen geht es um den Unterschied zwischen 11,9 und 11,2 Millionen Wählern – bei gut 61 Millionen Wahlberechtigten. Klar, was beide Ergebnisse unterscheidet, ist der Umstand, dass die Union sich auf diesen bescheidenen Wert von oben zubewegt hat, während die SPD von tief unten kam. Von einem „historischen Ergebnis“ für die Sozialdemokraten kann allerdings nur jemand sprechen, für den die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Ära Merkel begonnen hat. Und selbst in diesem Zeitraum erreichte vor acht Jahren Kanzlerkandidat Steinbrück exakt das gleiche Ergebnis, das damals allerdings noch als Wahlschlappe gewertet wurde. Gemessen am letzten Wahlergebnis haben sogar die Grünen noch etwas mehr zugelegt als die SPD, auch wenn sie nach den peinlichen Aussetzern ihrer Kanzlerkandidatin von ihrem Höhenflug in den Umfragen auf mäßige 14,8 Prozent abgesackt sind.

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