„Auf Menschen, die anders leben, wird herabgesehen“

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit dem Tagesspiegel, erschienen am 12.06.2021

12.06.2021

Das Interview führten Mathias Müller von Blumencron, Stephan Haselberger und Claudia von Salzen. Erschienen auf tagesspiegel.de[1]

 

Frau Wagenknecht, haben Linke und die SPD die Bundestagswahl schon verloren?

Nein. Aber wenn SPD und Linke weitermachen wie bisher, sieht es nicht gut aus. Dabei wünschen sich in Deutschland sehr viele Menschen eine Politik, die sich wieder für mehr Zusammenhalt und weniger Ungleichheit einsetzt. Das ist ja weder von Herrn Laschet noch von Frau Baerbock zu erwarten.

SPD und Linke kommen zusammen in den Umfragen nur auf rund 20 Prozent. Sind die Menschen nicht mehr an den klassischen linken Themen interessiert? Oder interessieren sich Linke und SPD für Themen, die viele Menschen nicht mehr berühren?

Das Label „Links“ steht heute für viele Menschen leider nicht mehr für das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, sondern für abgehobene akademische Debatten, die an ihrer Lebensrealität und ihren Problemen vorbeigehen. Das ist zwar eine teilweise ungerechte Wahrnehmung, weil etwa die Linke im Bundestag viele Anträge zu sozialen Themen einbringt – für einen höheren Mindestlohn, für bessere Renten, für eine Mitpreisbremse. Aber solange sich Teile der Partei an Diskussionen um Lebensstilfragen und Gendersprache beteiligen, also an Debatten, die viele Menschen als belehrend empfinden, werden sich Viele abwenden. Menschen mögen es verständlicherweise nicht, wenn man ihnen vorschreiben will, wie sie zu reden und zu leben haben.

Sie meinen, Debatten um das Gendersternchen seien für den Niedergang der linken Parteien verantwortlich? Im Ernst?

Das ist doch nur ein Beispiel dafür, wie Identitätspolitik betrieben wird. Problematisch ist auch ein Verständnis von Klimapolitik, bei dem es nicht darum geht, anders zu produzieren und unsere Wirtschaft durch innovative Technologien klimaneutral machen, sondern immer nur darum, normale Familien, die oft gar keine Alternative zum Auto oder zur Ölheizung haben, immer stärker zu belasten. Ein Teil der linken Parteien bewegt sich heute nur noch in einem großstädtischen akademischen Milieu und vertritt überwiegend dessen Interessen. Wenn man relativ wohlhabend ist und in der Innenstadt lebt, kann man höhere Spritpreise entspannt sehen. Man kann viele Wege mit dem Fahrrad erledigen und sich Bio-Produkte leisten. Diese Lebenskultur wird heute vor allem von den Grünen moralisch verklärt. Auf Menschen, die anders leben, wird herabgesehen.

Aber in Sachsen-Anhalt haben Ihre Parteifreunde im Wahlkampf klassische linke Themen in den Mittelpunkt gerückt – Mindestlohn, Rente, Ungleichheit von Ost und West. Trotzdem hat die Linke dort massiv verloren.

In Sachsen-Anhalt hatten wir eine sehr gute Spitzenkandidatin, und die Wahlkämpfer haben die richtigen Themen gesetzt. Wir sind damit aber nur bedingt wahrgenommen worden. Das Grundproblem war der negative Bundestrend. Das, was wir richtig machen, wird überlagert, wenn wir gleichzeitig das Image bedienen, dass die Linken die Menschen bevormunden und ihnen das Auto wegnehmen wollen. Dass sie eigentlich nur wertschätzen, was von der Mehrheitsgesellschaft abweicht. In Sachsen-Anhalt wurde die AfD stärkste Partei unter Arbeitern und unter denjenigen, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht. Diese Menschen haben früher uns gewählt. Es ist ein Fehler, mit den Grünen um die relativ privilegierte Wählerklientel der urbanen akademischen Mittelschicht zu kämpfen, die es im Osten übrigens auch kaum gibt. Wir sollten uns um die kümmern, die es schwerer haben und denen Aufstiegs- und Bildungschancen vorenthalten werden. Um die vielen, die wirklich unsere Vertretung brauchen, weil sich niemand sonst für ihre Interessen einsetzt.

Die Schärfe, fast schon Verachtung, mit der Sie oft über die Grünen sprechen, wirft die Frage auf, ob die Partei für Sie noch ein Bündnispartner sein könnte.

Natürlich wäre eine Koalition mit den Grünen denkbar. Aber wenn SPD, Grüne und Linke um die urbane Mittelschicht kämpfen, wird daraus nie eine Mehrheit. Auch sollte in einer Koalition der Anspruch sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit dominieren. Klimaschutz darf nicht auf Kosten derer gehen, die sowieso schon benachteiligt sind.

Droht Ihrer Partei im September das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde?

Nein.

Aber die Linke liegt im Bund in den Umfragen nur noch bei sechs Prozent.

Ja, und das ist völlig unzureichend. Noch 2009 hatten wir fast zwölf Prozent. Bei der Bundestagswahl 2017, die viel schwieriger war als die jetzige, weil es fast nur um Flüchtlingspolitik ging, haben wir mit 9,2 Prozent unser zweitbestes Ergebnis erreicht. Eine große Mehrheit in Deutschland will nicht, dass alles weitergeht wie unter Angela Merkel, sie wünscht sich mehr sozialen Ausgleich und ganz sicher keine Rente mit 68. Trotzdem stehen wir deutlich schlechter da als vor vier Jahren, weil wir viele unserer Stammwähler verloren haben. Einen ähnlichen Niedergang erleben viele linke Parteien in ganz Europa. Manche sind bereits in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

In Dänemark dagegen ist eine sozialdemokratische Regierungschefin erfolgreich, die eine sehr restriktive Einwanderungspolitik verfolgt. Viele Ihrer Parteifreunde würden sagen, darin unterscheidet sie sich kaum von der AfD.

Ich finde, dass die Dänen eine kluge Politik machen. Man kann das nicht auf die Einwanderungspolitik reduzieren. Die Dänen haben soziale Leistungen verbessert und machen eine vorbildliche Klimapolitik. Natürlich ist Zuwanderung immer nur begrenzt möglich, weil sonst die Probleme zu groß werden. Und Zuwanderung muss begleitet werden von Investitionen, zum Beispiel in den sozialen Wohnungsbau und mehr Lehrer. Genau das ist in Deutschland 2015 und 2016 nicht passiert. Dadurch haben sich die Probleme gerade in den ärmeren Wohnvierteln verschärft. Im Ergebnis sitzt jetzt die AfD im Bundestag.

In Sachsen-Anhalt gab es im Wahlkampf ein großes Plakat mit Ihrem Foto, auf dem zu lesen war: Sahra hat recht. Das Plakat kam von der AfD, die sich über Ihre Aussagen zur Begrenzung der Zuwanderung gefreut hat. Hat Sie das überrascht?

Ich gehe juristisch dagegen vor. Was ich von der AfD halte, habe ich bei meinen öffentlichen Auftritten, zuletzt bei „Anne Will“, immer wieder unmissverständlich klar gemacht.

Sie schreiben in Ihrem Buch, die Identitätspolitik richte ihr Augenmerk „auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein“. Heißt das, Minderheiten sollten lieber schweigen?

Unsinn. Reale Diskriminierungen müssen thematisiert und bekämpft werden. Etwas anderes sind Leute, die relativ privilegiert sind und sich trotzdem als Opfer inszenieren. Ich könnte jetzt behaupten, ich bin ein Opfer, weil ich einen iranischen Vater habe und als Kind in dem thüringischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gehänselt wurde, weil ich dunkler aussah als andere Kinder.

Wäre es denn verwerflich, wenn Sie sich deshalb als Opfer von Diskriminierung bezeichnen würden?

Ich bin kein Opfer. Ich konnte studieren, als Bundestagsabgeordnete habe ich ein weit überdurchschnittliches Einkommen. Der Postzusteller, der mir das Paket vor die Tür schleppt, hat vielleicht zwei deutsche Eltern, aber ist in ganz anderer Weise Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse. Leute, denen es gut geht, sollten nicht so tun als seien sie diskriminiert. Den Begriff „skurrile Minderheit“ hat man mir immer wieder vorgehalten. Aber es ist doch so, dass sehr kleine Gruppen in unserer Gesellschaft Diskurse vorantreiben, die die übergroße Mehrheit absurd findet. Etwa den, dass es keine biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gäbe, oder dass Menschen weißer Hautfarbe per se Rassisten sind. Wenn man den Niedriglohnsektor austrocknen und Hartz IV überwinden würde, hätte man sehr viel mehr für die Besserstellung von Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund getan, als solche skurrilen Debatten jemals bewirken werden.

Sie zeichnen auch in Ihrem Buch das Bild einer Linken, die sich nicht für soziale Gerechtigkeit einsetzt, sondern sich eher durch Selbstgerechtigkeit auszeichnet. Führen Sie damit nicht Wahlkampf gegen Ihre eigene Partei?

Im Gegenteil. Wenn wir unsere Fehler nicht korrigieren, werden wir im Wahlkampf nicht erfolgreich sein. Viele in meiner Partei kämpfen ehrlichen Herzens für höhere Löhne, bessere Renten, Abrüstung, einen Ausbau des Sozialstaats. Wegen ihnen bin ich Mitglied der Linken. Mein Buch ist kein Buch über meine Partei, sondern über die gesellschaftliche Linke in ganz Europa. Nicht die Mehrheit, aber öffentlich wahrnehmbare Funktionsträger beteiligen sich den Debatten, mit denen wir unsere Kernwählerschaft vertreiben. Es muss uns doch zu denken geben, dass wir seit 2019 mit Ausnahme von Thüringen nur Wahlniederlagen erlebt haben.

In Talkshows sind Sie präsent, im Bundestag dagegen weniger. Ihre letzte Rede dort liegt ein Jahr zurück, bei vielen namentlichen Abstimmungen im Parlament waren Sie nicht anwesend. Auch auf dem Linken-Parteitag war Ihre Stimme nicht zu vernehmen. Warum treten Sie bei der Wahl noch einmal an?

Weil sehr viele mich darum gebeten haben und weil ich denke, dass ich durch meine öffentlichen Auftritte die Linke stärke. Ehemalige Fraktionsvorsitzende reden in der Regel selten im Parlament, das gilt auch für andere Parteien. Was die namentlichen Abstimmungen angeht, bitte ich zu berücksichtigen, dass wir jetzt anderthalb Jahre Corona hinter uns haben. Mein Mann gehört wegen seines Alters zur Risikogruppe, solange er noch nicht geimpft war, habe ich meine Reisen nach Berlin minimiert, weil ich Angst hatte, das Virus aus dem Flieger oder von Berlin mit nach Hause zu bringen.

Tragen Sie nicht dazu bei, dass in der Öffentlichkeit ein Bild entsteht, das so häufig mit der Linken assoziiert wird: Streit und mangelnde Solidarität?

Ich habe nie persönlichen Streit gesucht und auch noch nie versucht, jemanden aus seiner Funktion zu mobben. Mir geht es darum, dass wir uns bis zur Wahl so aufstellen, dass wir ein Ergebnis deutlich oberhalb der jetzigen Umfragen erreichen. Dafür habe ich Vorschläge vorgelegt.

 

In Nordrhein-Westfalen, wo Sie als Spitzenkandidatin antreten, haben Linken-Mitglieder Ihren Ausschluss aus der Partei beantragt. Lässt Sie das kalt?

 

In meinem Buch „Die Selbstgerechten" kritisiere ich die Cancel Culture und die Intoleranz eines Teils des heutigen linken Spektrums. Die Antragsteller scheinen meine Thesen durch ihr Vorgehen unbedingt bestätigen zu wollen. Allerdings sind das Einzelne, sehr viel mehr Linke-Mitglieder und -Wähler bekunden mir gerade ihre Unterstützung und schütteln nur den Kopf über diesen Vorgang.

 

Ihr Mann Oskar Lafontaine hat dazu aufgerufen, die Linke im Saarland nicht zu wählen, weil er den dortigen Spitzenkandidaten ablehnt und Manipulationsvorwürfe gegen ihn erhebt. Unterstützen Sie diese Forderung?

Es geht nicht darum, ob mein Mann den Kandidaten sympathisch findet. Es geht um frisierte Mitgliederlisten und Stimmenkauf. Es läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Urkundenfälschung gegen den Kandidaten. Das alles schadet unserer Partei.

Werden Sie denn im Saarland, wo Sie leben, die Linke wählen?

Ich kandidiere in Nordrhein-Westfalen und mache Wahlkampf im ganzen Bundesgebiet. Natürlich werbe ich dafür, die Linke zu wählen.

Wenn die Linke bei den Wahlen im September massiv verliert, was machen Sie dann? Versuchen Sie noch einmal nach dem Vorsitz zu greifen - oder verlassen Sie die Partei?

Ich kämpfe für ein gutes Ergebnis. Die Linke ist die einzige Partei, die garantiert keiner Rente mit 68 zustimmen wird. Die einzige, die noch nie für Aufrüstung oder einen Krieg gestimmt hat und übrigens, anders als alle anderen, auch nicht von Rüstungskonzernen oder anderen Wirtschaftslobbys geschmiert wird. Deshalb ist es so wichtig, dass die Linke im Bundestag bleibt.

Sie haben sich vor einigen Jahren in einem Zustand der Erschöpfung aus der ersten Reihe der Linken zurückgezogen. Wer Sie jetzt reden hört, hat nicht das Gefühl, Sie würden eine Auseinandersetzung scheuen. Haben Sie wieder die Kraft für jedes politische Führungsamt bei der Linken?

Ich habe nicht vor, nach der Wahl für den Fraktionsvorsitz oder eine andere Führungsfunktion zu kandidieren. Aber ich möchte dazu beitragen, dass die linken Parteien wieder mehr Rückhalt gewinnen. Spätestens 2025 brauchen wir eine Regierung des sozialen Zusammenhalts. Ich möchte daran mitzuwirken, dass sich etwas verändert. Aber ich sehne mich jetzt nicht kurzfristig nach irgendwelchen Spitzenämtern.

Nicht kurzfristig?

Nicht unter den gegebenen Bedingungen.

Links:

  1. https://plus.tagesspiegel.de/politik/sahra-wagenknecht-im-interview-161568.html