Sahra Wagenknecht

"Viele Linke betreiben mit Sprache schöne Alibipolitik"

Sahra Wagenknecht im Interview mit der österreichischen Tageszeitung Der Standard

08.05.2021

STANDARD: "Die Selbstgerechten" heißt Ihr kritisches Buch über Die Linke. Sind Sie noch gern in dieser Partei?

Wagenknecht: Ja, natürlich. Ich beschreibe ja nicht nur ein Problem der deutschen Linken, sondern das vieler linken und sozialdemokratischen Parteien in Europa. Außerdem habe ich sehr viel Zuspruch auch aus den eigenen Reihen bekommen. Es gibt viele Mitglieder, die sich darüber ärgern, dass die Linke oft auf die falschen Themen setzt und Diskussionen führt, die viele Menschen als abgehoben und belehrend wahrnehmen. Das führt dazu, dass der Einfluss linker Parteien sinkt.

STANDARD: Sie tadeln "Lifestyle-Linke", denen theoretische Debatten lieber sind als konkrete Hilfe für Benachteiligte. Was läuft falsch?

Wagenknecht: Ich nenne im Buch das Beispiel der Zigeuner-Soße von Knorr. Da gab es eine ungeheure Debatte über den "Rassismus" dieses Namens und zig Initiativen, damit das Wort "Zigeuner" getilgt wird. Neuerdings steht auf der Packung "Paprikasoße ungarische Art". Was für ein Sieg! Und gleichzeitig wurde den Knorr-Beschäftigten ein schlechterer Tarifvertrag mit niedrigeren Löhnen und Samstagsarbeit diktiert. Aber dazu gibt es nur Schweigen in der linksliberalen Twitter-Gemeinde!

STANDARD: Man kann sich ja für beides starkmachen.

Wagenknecht: Klar, man kann die Soße umbenennen. Aber viel wichtiger als solche Symbolpolitik ist doch der Kampf gegen reale Benachteiligungen. Wir haben echte Diskriminierung, etwa wenn Menschen mit ausländisch klingenden Namen keine Wohnung finden. Wenn stattdessen die Berliner Grünen den Begriff "Indianerhäuptling" aus einem Video ihrer Spitzenkandidatin löschen, weil man das auch nicht mehr sagen darf, versteht sowas allenfalls das hippe urbane Akademikermilieu. Einfachen Leuten mit echten Problemen dürfte da jedes Verständnis fehlen.

STANDARD: Auch Sprache sensibilisiert.

Wagenknecht: Viele Linke betreiben aber mit Sprache eine schöne Alibipolitik. Da kann man sich edel und antirassistisch fühlen. Aber in Wirklichkeit ändert sich nichts. Wer tatsächlich im Niedriglohnsektor etwas ändern möchte, der müsste sich mit wichtigen Teilen der Wirtschaft anlegen. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass mancher Debatten über Sprachverbote und Lifestyle-Fragen auch deshalb bevorzugt, weil man da nie Gefahr läuft, einer mächtigen wirtschaftlichen Interessengruppe auf die Füße zu treten?

STANDARD: Wen spricht Die Linke denn stattdessen Ihrer Meinung nach an?

Wagenknecht: Resonanz dafür gibt es im akademischen Milieu der Groß- und Universitätsstädte, wo man großen Wert darauf legt, sich biologisch korrekt zu ernähren und mit dem E-Auto oder dem Fahrrad zu fahren.

STANDARD: Was ja grundsätzlich nichts Schlechtes ist.

Wagenknecht: Nein. Aber mich stört, wenn Privilegierte auf jene herabschauen, die ihr Grillfleisch beim Diskounter kaufen, weil sie eben mehr rechnen müssen. Gutverdiener in topsanierten Altbauwohnungen haben natürlich auch viel weniger Probleme, wenn Heizöl und Sprit teurer werden. Weniger Begünstige in Kleinstädten, die auf ihren Dieselwagen angewiesen sind, sehen das anders.

STANDARD: Beschreiben Sie nicht eigentlich Grünen-Wählerinnen und -Wähler?

Wagenknecht: Das geschilderte Milieu wählt überwiegend grün, das stimmt. Aber seit einiger Zeit versuchen SPD und wir als Linke immer stärker, mit den Grünen um deren Wählerschaft zu kämpfen. Das sind aber nicht die Benachteiligten. Sie haben deshalb auf viele Themen einen anderen Blick. Junge Leute aus der akademischen Mittelschicht haben etwa von der EU viele Vorteile, weil sie Erasmus-Stipendien nutzen und im Ausland Praktika machen, weil die Eltern das bezahlen können. Für viele Menschen ist das völlig unerreichbar. Für sie heißen die EU-Regeln: mehr Lohndruck und weniger Rente.

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