Sahra Wagenknecht

"Ich will mich nicht damit abfinden, dass Linke und SPD zusammen noch nicht mal mehr 25 Prozent der Wähler erreichen."

SAHRA WAGENKNECHT IM CICERO-INTERVIEW, erschienen am 23.04.2021

23.04.2021

 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

Frau Wagenknecht, wie definieren Sie „selbstgerecht“?

Selbstgerecht sind die Meinungsführer eines gutsituierten großstädtischen Milieus, die ihren privilegierten Lebensstil für eine persönliche Tugend halten. Selbstgerecht sind Linke, die meinen, selbst keinen Fehler gemacht zu haben, wenn rechte Parteien stärker werden, und die stattdessen die angeblich unverständigen Wähler verantwortlich machen. Selbstgerecht ist es, andere zu belehren, wie sie zu reden, zu denken und zu leben haben.

In Ihrem neuen Buch „Die Selbstgerechten“ rechnen Sie mit Parteigenossen ab, denen Sie vorwerfen, sie würden ihr Augenmerk auf „auf immer kleinere und skurrilere Minderheiten“ richten, die „ihre Identität in irgendeiner Marotte“ finden. Ist das nicht auch ziemlich selbstgerecht?         

Es geht nicht primär um Parteigenossen, es geht um eine bestimmte Haltung, die leider in der gesellschaftlichen Linken europaweit immer verbreiteter ist. Und die dazu beiträgt, dass die linken und sozialdemokratischen Parteien immer schwächer werden, weil sie diejenigen verlieren, deren Stimme und Interessenvertretung sie eigentlich sein sollten, nämlich Menschen, die um ihr bisschen Wohlstand immer mehr kämpfen müssen.

In Ihrer Partei kommt das Buch gar nicht gut an. Ihr Fraktionskollege Niema Movassat schäumt, es sei eine „Kriegserklärung an Hunderttausende junge Menschen, die uns wählen“. Man könnte auch von einer schallenden Ohrfeige sprechen. War nicht genau dieser Effekt beabsichtigt?

Also, eine Kriegserklärung ist es allenfalls an ein Verständnis linker Politik, das die Linke zu einer gesellschaftlich immer einflussloseren Kraft macht. Und ich bekomme aktuell auch sehr viel begeisterte Resonanz, übrigens auch von jungen Leuten und von Parteimitgliedern.

Was schreiben Ihnen die Befürworter?

Dass ich ihnen mit meiner Kritik aus dem Herzen spreche und sie froh sind, dass mit meinem Buch ein schlüssiges Gegenprogramm vorliegt, mit dem wir weit mehr Menschen erreichen könnten. Das Problem ist, dass ein Teil der Funktionsträger linker Parteien die Bodenhaftung verloren haben. Sie kommen aus relativ wohlhabenden Akademikerfamilien und haben die Menschen außerhalb ihres Milieus aus dem Blick verloren.

Das Buch ist am 14. April erschienen – vier Tage, nachdem die Linke in NRW Sie mit 61 Prozent der Stimmen zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl nominiert hat. Das Timing ist bestimmt kein Zufall. Oder hätten Sie auch noch eine Mehrheit bekommen, wenn Ihre bitterböse Abrechnung mit linker Identitätspolitik vorab erschienen wäre?

Na ja, das Buch war ja vorher schon erhältlich. Die angeblich schlimmsten Zitate wurden überall verbreitet, oft verfälschend aus dem Zusammenhang gerissen. So sollte der maximale Gruselfaktor erreicht werden. 

Sie meinen über das eingangs erwähnte Zitat von der „Marotte“?

 Ja, genau. Mir wurde die Meinung unterstellt, dass jeder, der einer Minderheit angehört, eine Marotte hätte. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wer das Kapitel gelesen hat, weiß, dass es hier um Leute geht, die sich als Opfer inszenieren, und nicht um solche, die reale Benachteiligungen erfahren. Das Buch wurde also schon vorher diskutiert...

.. mit der Absicht, Ihre Wiederwahl zu verhindern.

 Ja. Der Erscheinungstag stand übrigens lange fest. Ursprünglich sollte unsere Liste allerdings schon im März gewählt werden. Dass das dann so nahe aneinander gerückt ist, war kein perfider Plan, sondern Corona-bedingter Zufall.

Können Sie es denn nachvollziehen, wenn sich linke Parteifreunde beleidigt fühlen, weil Sie ihnen vorwerfen, als privilegiert aufgewachsene Lifestyle-Linke würden sie es sich anmaßen, für Menschen zu sprechen, die ganz andere Sorgen hätten als sich zum Beispiel Gedanken um ihre Hautfarbe zu machen?

Niemandem ist vorzuwerfen, dass er in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen ist. Man kann selbst privilegiert sein, das gilt ja für alle Bundestagsabgeordneten, und sich trotzdem für die einsetzen, die es schwer haben. Was mich nervt, ist, wenn Privilegierte ihren Lebensstil zum Maßstab „progressiven Lebens“ verklären. Man ernährt sich biologisch, fährt ein E-Auto oder lebt in der Innenstadt und nutzt das Fahrrad, um zum Job zu kommen. Das sind alles Dinge, die man sich leisten können muss.

Sie leben in einer Villa im Saarland, und die Doku „Wagenknecht“ zeigt eindrucksvoll, wie Sie in einer Luxuslimousine von Termin zu Termin chauffiert werden. Sie erscheinen nicht als Politikerin, sondern als Popstar. Woher wollen Sie eigentlich wissen, welche Probleme „die Aisches und Alis“ haben, wie Sie sie in dem Buch nennen?

Na ja, eine Villa ist noch ein bisschen was anderes, und das Auto gehört nicht mir, sondern der Fraktion. Vor Corona, als man noch Veranstaltungen organisieren konnte, habe ich bewusst Veranstaltungen in Vierteln gemacht, wo die Menschen wohnen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Zu mir kommen diese Menschen ja auch noch. Und ich bekomme jeden Tag mehr als 100 Emails, viele von Geringverdienern, Nichtakademikern, der klassischen Mittelschicht. Die Menschen schreiben mir von ihren Problemen und Ängsten.

Die „Aisches und Alis“ arbeiten aber heute gar nicht mehr alle nur als Putzkräfte oder in anderen „Bullshitjobs“, wie Sie in ihrem Buch suggerieren. Viele haben studiert und fordern ihre Rechte selbstbewusst ein.

Das ist ja wunderbar. Aber das sind nicht die, für die wir uns als Linke in erster Linie einsetzen müssen. Wir müssen uns für die einsetzen, die es schwer haben und denen gute Bildung oft vorenthalten wird.

             

Ihr Vater ist Iraner. Sie sind als Kind gemobbt worden, weil Sie anders aussahen als andere Kinder. Fühlen Sie sich nicht solidarisch mit Menschen mit Migrationshintergrund?

Als Kind ist es mir oft passiert, dass andere Kinder gesagt haben: „Iiih, wie sieht denn die aus!“ Das war in einer ländlichen Region in Thüringen, zu DDR-Zeiten. Da gab es so gut wie keine Kinder nicht-deutscher Eltern. Mich hat das natürlich verletzt. Und trotzdem hatte ich alles in allem eine glückliche Kindheit, ich bin kein Opfer. Kinder, die heute in armen Familien aufwachsen, erleben oft viel schlimmere Ausgrenzung und Entbehrungen, und zwar egal, ob sie Deutsche oder Migranten als Eltern haben. Mich interessiert nicht, welche Abstammung jemand hat.

Sie kritisieren, was vor Ihnen auch schon Wolfgang Thierse (SPD) kritisiert hat. Dass nämlich das Moralisieren das Argumentieren ersetzt habe und dass der gesellschaftliche Konsens bröckele, weil es nicht mehr „um das Ringen nach Gleichheit gehe, sondern um die Heiligsprechung von Ungleichheit“. Wo hat sie das zuletzt besonders geärgert?

Ein bekanntes Beispiel ist Armanda Gorman : Darf eine weiße Schriftstellerin die Gedichte einer schwarzen Schriftstellerin übersetzen? Auch wenn eine grüne Spitzenkandidatin dafür geächtet wird, dass sie ausplaudert, dass sie als Kind Indianerhäuptling werden wollte, greift sich doch die Mehrheit an den Kopf. Der Großteil der Gesellschaft hat jedenfalls andere Probleme.

Der Applaus der Mehrheitsgesellschaft ist Ihnen für solche Bemerkungen sicher. Ist er es wert, den Graben zwischen Ihnen und ihren Kritikern in der eigenen Partei noch weiter zu vertiefen?

Die Debatte ist leider notwendig. Die linken Parteien – und da schließe ich die SPD ausdrücklich ein – müssen sich überlegen, ob sie mehr und mehr in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen. Ich will mich nicht damit abfinden, dass Linke und SPD zusammen noch nicht mal mehr 25 Prozent der Wähler erreichen. Und das in einer Situation, wo die Union so am Boden liegt. Da muss man doch mal darüber nachdenken, was man falsch gemacht hat.

Auch die SPD ist nach links gerückt. Liegt das nur an der neuen Vorsitzenden Saskia Esken?

Die SPD vertritt in ihrem Wahlprogramm tatsächlich eine Reihe linker Positionen. Aber wer traut ausgerechnet Olaf Scholz tatsächlich zu, den Mindestlohn relevant zu erhöhen oder sich mit mächtigen Wirtschaftslobbys anzulegen? In der realen Politik hat sich bislang jedenfalls nicht viel nach links bewegt. Und für mich ist es definitiv nicht links, wenn man einen honorigen Mann wie Wolfgang Thierse verprügelt.

2016 haben Sie auf dem Parteitag eine Torte ins Gesicht geworfen bekommen, 2019 ist Ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gescheitert, und wegen Burnout haben Sie nach Angriffen ihren Fraktionsvorsitz niedergelegt. Sie könnten sich ein schönes Leben als Autorin und gefragter Talkshow-Gast machen. Was hält Sie eigentlich noch bei der Linken?

Ich will politisch was bewegen. Ich schreib die Bücher ja nicht, um mir selbst einen Gefallen zu tun. Das Thema dieses Buch treibt mich um. Wir brauchen wieder mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und weniger Ungleichheit. Ich halte es für gefährlich, wenn die Entwicklungen der letzteren Jahre sich fortsetzen.

Identitätspolitik ist ja nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus dem Wahlprogramm der Linken. Wenn man es sich anschaut, dann findet man darin schon noch viele Klassiker wie „Kinderarmut abschaffen“, „Gute Renten für alle“ oder „höhere Löhne statt steigender Rendite“. Kann es sein, dass Ihr gespanntes Verhältnis zur Partei gar nicht so sehr an unterschiedlichen programmatischen Vorstellungen liegt, sondern eher persönlicher Natur ist?

Weshalb sollte ich gegen die neue Parteispitze persönlich etwas haben? Ich bin, im Gegenteil, sehr froh, dass wir nach acht Jahren zwei neue, unverbrauchte Köpfe an der Spitze haben. Und natürlich gibt es in unserem Wahlprogramm viele Punkte, für die ich gern und leidenschaftlich Wahlkampf machen werde. Ich wäre ja nicht Kandidatin der Linken geworden, wenn das anders wäre.

Aber die neue Parteivorsitzende Janine Wissler hat schon angedeutet, dass Sie sich auf NRW konzentrieren sollen. In ihrem Bundestagswahlkampfteam will sie sie nicht dabei haben. Dabei sind Sie ja neben Gregor Gysi immer noch das bekannteste Gesicht der Linken. Ärgert Sie das nicht?

Ich habe schon jetzt mehr Einladungen aus dem ganzen Bundesgebiet, als ich im Wahlkampf wahrnehmen kann. Und natürlich werde ich mich auf das Bundesland konzentrieren, das mich zur Spitzenkandidatin gewählt hat, und das ist NRW.

 Janine Wissler und Susanne Henning-Wellsow wollen die Linke bei der Bundestagswahl wieder zurück in die Regierung führen. Kann das gelingen?

Das hängt nicht nur von uns ab. Unsere Aufgabe ist jetzt erst einmal, uns um ein möglichst gutes Wahlergebnis für unsere Partei zu bemühen. Dafür sollten alle an einem Strang ziehen, und wir sollten die richtigen Themen in den Mittelpunkt stellen.

Ihre Gegner behaupten, mit Ihrer Kritik an den Lifestyle-Linken würden Sie inzwischen näher bei der AfD stehen. Und tatsächlich macht die AfD in Sachsen-Anhalt Wahlkampf mit Ihrem Bild und dem Slogan „Sahra hat Recht – Zuwanderung begrenzen“.

Ich gehe juristisch dagegen vor, dass ich für die Wahlkampfkampagne der AfD vereinnahmt werde. Ansonsten ist es leider in heutigen Debatten üblich: Sobald man etwas sagt, was einigen nicht gefällt, wird man mit dem Hammer angeblicher AfD-Nähe erschlagen. Das ist niveaulos.

Na ja, Ihr Plädoyer für einen Nationalstaat und gegen eine überregulierte EU ist nicht so ganz weit vom AfD-Sprech entfernt.

Wenn die Sonne scheint und die AfD sagt, die Sonne scheint, werde ich nicht aus Prinzip behaupten, dass es regnet. Ich halte allerdings nicht für sinnvoll, dass Deutschland aus der EU austritt, ich will die EU verändern. Ich war ja fünf Jahre in Brüssel. Da schreiben Lobbyisten die Gesetze. Man kann nicht von einer Demokratie auf EU-Ebene sprechen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Linke sei Schuld am Aufstieg der AfD zur „Arbeiterpartei“, weil sie die Bedürfnisse dieser Klientel jahrelang vernachlässigt habe.

Dabei vertritt die AfD Positionen, die den kleinen Leuten garantiert nicht helfen würden. Sie ist zum Beispiel gegen eine Regulierung von Mieten, sie will auch nicht die Arbeitnehmerrechte stärken. Trotzdem muss man verstehen, warum viele Menschen diese Partei wählen. Das sind bei weitem nicht alles Rechte oder gar Nazis.

Sondern?

Die AfD ist ein Ventil für ihre Unzufriedenheit. Die Partei schafft es, ihnen das Gefühl zu geben: Wir sind für Euch da, wir verstehen euch. Sie spricht bestimmte Probleme wie die mit Zuwanderung oder der aktuellen Corona-Politik verbundenen an. Und da es diese Probleme gibt, ist es unklug von den Linken, dieses Feld der AfD zu überlassen.

Wie müsste denn eine linke Politik aussehen, die sowohl den großstädtische Veganer anspricht, der seine Kinder im E-Auto zur Schule fährt, als auch den AfD wählenden Bauarbeiter, der Angst davor hat, dass ihm Ausländer den Arbeitsplatz wegnehmen?

Ich glaube, es gibt auch eine Reihe großstädtischer Veganer, denen die soziale Frage am Herzen liegt. Sie muss das Thema der Linken sein. Wir dürfen nicht in erster Linie die Interessen derer vertreten, denen es gut geht. Und das heißt eben auch, dass wir die Ängste des Bauarbeiters ernst nehmen, statt ihn als „Rassisten“ zu diffamieren.