Sahra Wagenknecht

„Im Mittelpunkt unserer Politik müssen soziale Themen stehen“

Sahra Wagenknecht im Interview mit der WELT, erschienen am 31.01.2021

31.01.2021

Migration, Corona, Klimaschutz: Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht sieht eine Verengung des Diskurses, für die sie auch das linke Lager verantwortlich macht. Den Begriff „Linksliberalismus“ hält sie wegen einer „ausgeprägten Intoleranz“ für irreführend.
 

WELT: Frau Wagenknecht, wie nehmen Sie derzeit den öffentlichen Diskurs in Deutschland wahr?

Sahra Wagenknecht: Emotional aufgeheizt. Es gibt eine zunehmende Intoleranz. Von beiden Seiten. Wer den anhaltenden Lockdown nicht für sinnvoll hält, dem wird gleich der ungeheuerliche Vorwurf gemacht, ihm seien Menschenleben egal. Wer gleichwohl anerkennt, dass Covid-19 eine gefährliche Krankheit ist, bekommt von der Gegenseite Panikmache vorgeworfen.

WELT: Sie sprachen gerade von „beiden Seiten“. Wie groß ist der Anteil des linken Spektrums an diesem Zustand?

Wagenknecht: Das Grundproblem ist die Haltung: Wer nicht für mich ist, ist kein Andersdenkender, sondern ein schlechter Mensch. Das ist ein typisches Herangehen des linksliberalen Milieus: Wer für eine Begrenzung von Zuwanderung ist, ist ein Rassist. Wer CO2-Steuern kritisiert, ein Klimaleugner. Und wer die Schließung von Schulen, Restaurants und Fitnessstudios nicht für richtig hält, ein „Covidiot“.

WELT: Zu viel Toleranz kann aber auch schädlich sein – und zu Gleichgültigkeit werden. Wo findet das Sagbare seine Grenzen?

Wagenknecht: Wo echter Rassismus im Spiel ist: Wenn gegen Menschen gehetzt wird, weil sie eine andere Hautfarbe oder Herkunft haben. Aber auszusprechen, dass Zuwanderer für Lohndumping missbraucht werden, dass es kaum möglich ist, eine Schulklasse zu unterrichten, in der über die Hälfte der Kinder kein Deutsch spricht, oder dass wir auch in Deutschland ein Problem mit dem radikalen Islamismus haben, hat mit Rassismus nichts zu tun. Wer die Debatte über solche Probleme verhindert, spielt Rechtsaußen die Bälle zu.

WELT: Die Debatte über Migration hat in Ihrer Partei zu massiven Zerwürfnissen geführt. Inzwischen hat sich die Stimmung in der Bevölkerung stark verändert. Würden die Auseinandersetzungen heute anders laufen?

Wagenknecht: Die Mehrheit der Bevölkerung hat zu diesem Thema vernünftige und nachvollziehbare Positionen. Aber der Trend der öffentlichen Debatte, mit moralischen Verurteilungen statt mit rationalen Argumenten zu operieren, ist immer noch da. Dieser Spin hat sich jetzt auf die Corona-Diskussion übertragen.

WELT: Wen haben Sie im Sinn?

Wagenknecht: Das, was heute Linksliberalismus genannt wird, sollte wegen seiner ausgeprägten Intoleranz eigentlich Linksilliberalismus heißen. Im vergangenen Jahr haben 153 international bekannte Intellektuelle, unter ihnen Noam Chomsky und Salman Rushdi, öffentlich davor gewarnt, dass dadurch das Meinungsspektrum immer weiter eingeengt wird. Dieser Linksilliberalismus ist aus der neuen akademischen Mittelschicht der Großstädte entstanden, ein relativ privilegiertes Milieu, das heute weitgehend abgeschottet lebt, eine Filterblase im realen Leben.

WELT: Sie sind mit dieser Kritik nicht alleine. Wie kann der Diskurs verändert werden?

Wagenknecht: Man muss aufhören, Debatten zu moralisieren oder bewusst darauf auszurichten, Leute niederzumachen. Alle – vom konservativem bis zum linken Spektrum –, die ein Interesse daran haben, dass unser Land nicht wie die USA endet, mit dieser extremen Spaltung, sollten die Fähigkeit zurückgewinnen, mit Anstand und Respekt zu diskutieren. Das Selbstverständliche muss klar sein: Wer bestimmte Meinungen nicht teilt, ist deshalb noch lange kein Nazi, der gecancelt werden muss.

WELT: Was ist der richtige Umgang mit Menschen, die an den Demonstrationen von „Querdenken“ teilnehmen, vor der inzwischen gewarnt wird?

Wagenknecht: Es gibt Millionen von Menschen, die völlig zu Recht das Missmanagement der Regierung kritisieren und sich von ihr im Sich gelassen fühlen. Für viele ist die Krise psychisch und finanziell eine Katastrophe. Da ist es legitim zu protestieren. Viele Teilnehmer bei den großen Demonstrationen waren keine Verschwörungsideologen oder Rechtsextremisten, sondern ganz normale Bürger, deren Anliegen Politiker ernst nehmen sollten.

WELT: 2021 ist ein Superwahljahr. Wie sollte Ihre Partei in den Wahlkampf ziehen?

Wagenknecht: Corona hat die soziale Ungleichheit vergrößert und viele Fehlentwicklungen der letzten Jahre aufgedeckt. Die Kommerzialisierung und Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegeheimen kostet jetzt Menschenleben, weil wegen des Personalnotstands notwendige Schutzmaßnahmen nicht umgesetzt werden können. Eine weitere gefährliche Folge der Krise: Der Mittelstand steht noch mehr unter Druck, Riesenkonzerne wie Amazon profitieren. Diesem Trend müsste die Politik entschieden entgegenwirken.

WELT: Auf welche Wählergruppe soll sich die Linke fokussieren: das städtische Grünen-Klientel oder den AfD-Wähler auf dem Land?

Wagenknecht: Mein Selbstverständnis ist, dass Linke in erster Linie für die da sein sollten, die um ihr bisschen Wohlstand immer härter kämpfen müssen oder trotz harter Arbeit gar keinen haben. Also vor allem für Menschen, die mit geringen und mittleren Einkommen oder niedrigen Renten klarkommen müssen. Mit den Grünen um die relativ wohlhabende Klientel zu konkurrieren, die sich die teuren Wohnungen in den urbanen Trendvierteln leisten kann, hielte ich weder für links noch für wahltaktisch klug. Natürlich gibt es auch gutverdienende Akademiker, die uns wählen, weil sie sozial engagiert sind. Aber Politik müssen wir in erster Linie für die machen, die sonst gar keine Lobby haben. Das heißt aber auch: im Mittelpunkt unserer Politik müssen soziale Themen stehen, nicht Sprachverrenkungen und Lifestyle-Fragen. Und Linke müssen die selbstgerechte Attitüde ablegen, die viele Wähler vertrieben hat.

WELT: Ihr Rückzug vom Fraktionsvorsitz, der ausbleibende Erfolg Ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen”, gesundheitliche Probleme, eine Schlammschlacht in der Partei – die letzten Jahre liefen objektiv betrachtet nicht gut für Sie. Warum treten Sie wieder für den Bundestag an? Sind Sie es nicht leid?

Wagenknecht: Ich habe darüber nachgedacht, nur noch als Publizistin zu arbeiten. Aber letztlich will ich ja nicht nur Vorschläge für Veränderungen machen, sondern sie irgendwann auch umsetzen. Zumal ich spüre, wie viel Unterstützung es gibt. Ich bekomme Unmengen E-Mails, meine YouTube-Videos werden hunderttausendfach angeschaut. Ich glaube, dass eine Linke mit der Ausrichtung, für die ich werbe, viel mehr bewegen könnte, als sie das derzeit tut.

WELT: Vor der Bundestagswahl stellt sich die Frage der Spitzenkandidatur und anschließend die des Fraktionsvorsitzes. Streben Sie eines davon oder beides an?

Wagenknecht: Nein. Wir haben zwei Fraktionsvorsitzende, die ihre Arbeit gut machen. Eine Spitzenkandidatur ergibt nur Sinn, wenn man dieses Amt anstrebt.

WELT: Innerhalb Ihrer Fraktion wird kritisiert, dass Sie im Bundestag selten anwesend seien und auch sonst zu wenig mitarbeiten.

Wagenknecht: Die Corona-Zeit war ein Sonderfall. Um vom Saarland nach Berlin zu kommen, sitzt man entweder 8 Stunden im Zug oder muss fliegen. Auch weil mein Mann zur Risikogruppe gehört, habe ich dieses Risiko in Zeiten mit hohen Infektionszahlen zu begrenzen versucht. Aber natürlich war ich trotzdem präsent, im Bundestag und in der Öffentlichkeit

WELT: Es gilt als sicher, dass Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler Ende Februar als neue Parteichefinnen gewählt werden – auch weil es keine ernst zu nehmenden Gegenkandidaten gibt. Bedauern Sie das?

Wagenknecht: Ich finde es schade, dass viele talentierte Linke-Politiker den Posten in dem gegebenen Umfeld so unattraktiv finden, dass sie nicht zur Verfügung stehen. Aber ich verstehe das. Ich will es ja auch nicht machen.

WELT: Wenn Sie auf die letzten drei bis vier Jahre zurückschauen – gibt es etwas, was Sie im Nachhinein anders machen würden?

Wagenknecht: Als Fraktionsvorsitzende habe ich wenig genetzwerkt. Ich habe selten vor Abstimmungen Leute angerufen und für meine Position geworben. Interne Widerstände habe ich oft unterschätzt. Ich weiß allerdings nicht, ob ich das sehr viel anders machen könnte. So bin ich einfach nicht gestrickt.