Sahra Wagenknecht

Klartext im Bundestag: Was die Union macht ist nicht christlich, das ist schäbig

Rede von Sahra Wagenknecht im Deutschen Bundestag

29.06.2020
Klartext im Bundestag: Was die Union macht ist nicht christlich, das ist schäbig

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Krise, wie wir sie heute erleben, ist es die erste und wichtigste Aufgabe einer Regierung, Sicherheit zu geben, selbst zu investieren und da zu helfen, wo Hilfe nötig ist, Kaufkraft zu stärken. Dafür braucht es ein großes Konjunkturpaket. Aber es braucht eins, das zielgenau und klug das Geld dahin leitet, wo es wirklich gebraucht wird, wo Zukunftstechnologie, wo Lebensqualität in unserem Land davon abhängen, und das leistet Ihr Paket leider kaum.

Ja, Hilfen für Städte und Gemeinden und Steuererleichterungen für betroffene Firmen - das ist richtig. Auch der Kinderbonus kommt Familien zugute, die es brauchen. Das unterstützen wir. Aber das sind leider alles ziemlich kleine Posten.
Der teuerste Teil ist die Absenkung der Mehrwertsteuer für sechs Monate, und wenig spricht dafür, dass dieses viele Geld wirklich bei den Verbrauchern ankommt. Es gibt ja Untersuchungen, es gibt EU-weite Studien über die Wirkung von Mehrwertsteuersenkungen. Das Ergebnis dieser Studien ist, dass gerade mal im Schnitt 15 Prozent über sinkende Preise weitergegeben werden. Das heißt, von 20 Milliarden Euro Steuergeld kämen dann gerade mal 3 Milliarden bei den Verbrauchern, bei den Konsumenten an.
Den Rest kassieren Unternehmen, überwiegend solche mit großer Marktmacht, beispielsweise das schon angesprochene Amazon, ein Krisengewinnler, dessen Chef sein Vermögen gerade um unglaubliche 35 Milliarden Dollar gesteigert hat, ein Unternehmen, das in Deutschland nahezu keine Steuern zahlt und das seine Beschäftigten miserabel behandelt. Und denen wollen Sie jetzt auch noch einen zusätzlichen Steuerscheck überreichen! Das können Sie doch niemandem erklären, und das kann man auch nicht rechtfertigen.

Ja, auch wer im nächsten halben Jahr größere Anschaffungen tätigt, wird etwas von der Senkung haben. Aber wer ist das denn? Leute wie wir hier im Bundestag, die relativ wohlhabend sind, die ein sicheres Einkommen haben. Aber glauben Sie im Ernst, dass irgendjemand, der gerade um seinen Arbeitsplatz oder seine soziale Existenz fürchtet, im Moment keine anderen Sorgen hat, als sich ein Auto oder eine neue Küche zu kaufen?

Von dem Betrag, den die Senkung der Mehrwertsteuer kostet, hätte man 20 Millionen Familien mit niedrigem Einkommen oder mit krisenbedingten Verlusten, also jedem zweiten Haushalt in Deutschland, einen Konsumscheck über 1 000 Euro schicken können, der im stationären Handel, in Restaurants, in Cafés, in Hotels im Inland eingesetzt werden kann. Damit hätten Sie vielen Menschen jetzt in der Krise eine echte Freude gemacht, und Sie hätten gezielt Einzelhändlern und Gastwirten geholfen.

Ihre Unfähigkeit, Geld dahin zu lenken, wo es wirklich gebraucht wird, ist schon auffallend, finde ich. Da bekommen Unternehmen Staatshilfen, denen es immerhin so gut geht, dass sie mitten in der Krise Milliarden an Dividenden ausschütten können; aber Freiberufler und Soloselbstständige, denen das Einkommen weggebrochen ist, werden von Ihnen kühl auf Hartz IV verwiesen. Wir finden das unglaublich.

Allein von den 770 Millionen Euro Dividende, mit denen BMW gerade die Milliardäre Quandt und Klatten beglückt hat - 770 Millionen, jetzt in der Krise! -, hätte dieses Unternehmen die Gehälter seiner Kurzarbeiter ohne Probleme selbst weiterbezahlen können.

Und natürlich ist Kurzarbeitergeld auch eine Staatshilfe; denn es wird in diesem Jahr überwiegend aus Steuergeld bezahlt.
Genauso erschütternd ist, wie schnell Sie all diejenigen wieder vergessen haben, die Sie noch vor Kurzem mit Beifall und warmen Worten überschüttet haben, all die vielen, die tagtäglich in den Krankenhäusern und Pflegeheimen schuften, in den Supermärkten oder als Postzusteller. Nichts hat sich geändert an der miserablen Bezahlung in einem der größten Niedriglohnsektoren Europas, den Sie geschaffen haben, nichts hat sich geändert an Tarifflucht und irregulärer Beschäftigung.
Stattdessen holt Herr Altmaier jetzt die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten aus der Mottenkiste, als ob die Uhrzeit und nicht Zukunftsängste und Unsicherheit der Grund sind, der vielen Menschen die Shoppinglaune verdorben hat. Und gut bezahlte Politiker der Union denken offen und öffentlich darüber nach, ob man die nächste Erhöhung des Mindestlohnes nicht mal eben aussetzen könnte, und das bei derart gestiegenen Lebensmittelpreisen! Das ist doch alles empörend, das ist nicht christlich. Das ist schäbig, was Sie hier machen!

So eine Politik spaltet unser Land und verspielt unsere Zukunft. Denn die schwere Krise, die wir gerade erleben, ist eben nicht nur Folge der Pandemie. Dem wichtigsten Bereich für unseren Wohlstand, der Industrie, sind doch schon im letzten Jahr die Aufträge weggebrochen. Seit Jahren fallen wir technologisch zurück. Das ist nicht nur, aber auch Ergebnis Ihrer Politik, die eben lieber Fleischbarone wie Tönnies darin unterstützt, mit Billiglöhnen und brutaler Ausbeutung den gesamten Fleischmarkt in Europa aufzurollen, als hier Hochtechnologie zu fördern; die lieber glaubt, mit Wirecard und solchen Schummelunternehmen international auf den Finanzmärkten was zu reißen, als wirklich hier zu investieren und zu sichern, dass unsere industrielle Wertschöpfung erhalten bleibt.

Deswegen sage ich: Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Machen Sie endlich mal Politik für die Mehrheit, statt abzuwarten, bis unsere Demokratie an sozialer Polarisierung und Verteilungskämpfen um einen kleiner werdenden Kuchen zerbricht.