Sahra Wagenknecht

Der Mythos der Leistungsgesellschaft - Thomas Piketty: Kapital und Ideologie

Eine Rezension von Sahra Wagenknecht, erschienen in der WELT

31.03.2020

Als Thomas Piketty sein neues Buch „Kapital und Ideologie“ schrieb, konnte er nicht ahnen, dass kurz nach dessen Erscheinen eine Krise von einer Tiefe und Dramatik unsere Welt erschüttern würde, wie sie die entwickelten Länder seit 70 Jahren nicht mehr erlebt haben. Und dennoch passt das Buch gerade in diese Zeit, in der so viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten plötzlich infrage stehen und Millionen Menschen mit Problemen konfrontiert sind, deren Dimension alles in den Schatten stellt, was sie im normalen Leben kannten. Eine Zeit, in der die Politik unter extremem Zeitdruck Antworten suchen und neue Wege gehen muss, die weitab der Pfade der letzten Jahrzehnte und oft sogar konträr zu ihnen verlaufen sollten.

Denn auch diese Krise ist ein Zusammenspiel kurz- und langfristiger Faktoren. Was sich in ihr entladen könnte, auf den Finanzmärkten, im Bankensystem, selbst in den Flaggschiffen der deutschen Industrie und ihren Zulieferern, hat sich bereits aufgestaut, bevor das erste Corona-Virus auf einem Fischmarkt in Wuhan einem Menschen begegnete. Wir sollten nicht vergessen, dass das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland schon 2019 unter sinkenden Umsätzen litt, das europäische Finanzsystem seit zehn Jahren am Tropf der EZB hängt, und der Personalnotstand in deutschen Krankenhäusern seit längerem eine gute Gesundheitsversorgung erschwert.

In der Krise rächen sich die Fehlentwicklungen der jüngeren Vergangenheit: die Hyperglobalisierung, in der Kostensenkungen wichtiger waren als Versorgungssicherheit, die zunehmende Macht von Finanzinvestoren, die auf hohe Ausschüttungen mehr Wert legen als auf solide Investitionen, die Vorstellung, selbst Krankenhäuser und Pflegeheime ließen sich in kommerzialisierte Profitcenter verwandeln, ohne die Grundversorgung zu schädigen, und eben die enorm gewachsene Ungleichheit - Pikettys großes Lebensthema - die unsere Demokratie untergräbt und unsere Gesellschaft instabil macht. Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, nach neuen, großen Antworten zu suchen.

Ideen dazu liefert Piketty in „Kapital und Ideologie“, aber die wichtigste Qualität seines Buches liegt auf einer anderen Ebene: indem er in detaillierten Länderstudien den Wandel gesellschaftlicher Ordnungen und der sie jeweils legitimierenden Ideen über einen Zeitraum von Jahrhunderten nachzeichnet, macht er uns bewusst, dass Gesellschaften auf veränderlichen und veränderbaren, weil menschengemachten Regeln beruhen. Diese Regeln entscheiden darüber, wie groß der Kuchen wird und wer wie viel von ihm abbekommt, also wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern gehört, wobei letztere meistens in der Überzahl waren. Deshalb gab es zu jeder Zeit große Erzählungen, die begründeten, warum die existierende Verteilung dennoch für alle gut und überhaupt die einzig vernünftige ist, eine Botschaft, die natürlich vor allem von den Gewinnern mit Inbrunst in die Welt getragen wurde.

Beispielsweise erläutert Piketty, dass es den Markt oder das Eigentum gar nicht gibt. Wie Märkte im konkreten wirken, ob sie echten Qualitätswettbewerb fördern oder eher das, was der Ordoliberale Alexander Rüstow „Halsabschneiderwettbewerb“ nannte, hängt von dem gesetzlichen Rahmen ab, in den sie eingebettet sind. Heute etwa haben wir national wie global ganz andere Märkte als in den 50er bis 80er Jahren. Angesichts einer Globalisierung, zu deren Verlierern vor allem die untere Mittelschicht der entwickelten Länder gehört, sollten wir uns allerdings fragen, ob wir an dieser Form der Märkte festhalten wollen.

Piketty führt auch vor Augen, welchen Wandlungen der Eigentumsbegriff im Zeitverlauf unterliegt. Noch vor weniger als 200 Jahren waren – etwa in den amerikanischen Südstaaten – Menschen ein zulässiger Gegenstand privaten Eigentums, was die Sklavenhalter übrigens ganz modern mit Verweis auf die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Plantagen begründeten. Seit einiger Zeit wiederum sind Eigentumsrechte an DNA-Sequenzen oder an durch öffentliche Forschung erworbenem Wissen möglich, was kommende Generationen wohl ähnlich skurril finden werden.

Grundsätzlich verändert hat sich auch, was im Rahmen der Eigentumsgarantie als schützenswert gilt. Bei Abschaffung der Sklaverei in den europäischen Kolonien etwa sah es der Gesetzgeber als selbstverständlich an, die vormaligen Besitzer für den Verlust ihres Eigentums zu entschädigen, - eine Entschädigung der Sklaven für jahrelange Zwangsarbeit kam hingegen niemandem in den Sinn. Bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts verhinderte der Supreme Court der Vereinigten Staaten mit Verweis auf den verfassungsrechtlichen „Schutz des Eigentums“ die Einführung von Mindestlöhnen oder einer bundesweiten Einkommenssteuer. In der zweiten Jahrhunderthälfte galten in den USA dann Spitzensätze bei der Einkommens- und Erbschaftssteuer von 80 bis 90 Prozent. Wer das heute zu fordern wagte, würde wieder als linksradikaler Enteigner geteert und gefedert. Wobei Piketty zu bedenken gibt, dass das Wachstum in der egalitären Phase 1950 bis 1980 mit ihren straffen Regulierungen und stark progressiven Steuern höher war als in der folgenden, durch wachsende Ungleichheit geprägten Epoche.

Der französische Ökonom verweist auch auf bemerkenswerte Kontinuitäten bei der Rechtfertigung leistungsloser Einkommen, die in der Regel die Oberschicht bezieht. Der alte Feudaladel, zu dessen Privilegien es gehörte, staatliche Hoheitsrechte etwa in der Rechtsprechung wahrzunehmen, begründete seine üppigen Bezüge kurzerhand mit seiner unersetzlichen Rolle als Hüter von Stabilität und Sicherheit. Heute werden die Erben großer Kapitalvermögen, auch wenn sie nie ein Unternehmen von Innen gesehen haben, zu Garanten unserer Arbeitsplätze verklärt. „Alle menschlichen Gesellschaften sind darauf angewiesen, ihren Ungleichheiten einen Sinn zu verleihen, und die Rechtfertigungen der Vergangenheit sind zuweilen… auch nicht verrückter als die der Gegenwart“ kommentiert Piketty trocken.

Die extreme und fortschreitende Konzentration von Eigentum in den Händen Weniger ist für Piketty eines der Grundprobleme unserer Zeit. Denn die Ansammlung und Vererbung ökonomischer Macht steht nicht nur im Widerspruch zum Mythos einer Leistungsgesellschaft, in der nicht Herkunft, sondern Fleiß und Begabung über den individuellen Status entscheiden sollte. Die Eigentumskonzentration verleiht auch einer kleinen Gruppe weit mehr politischen Einfluss, als mit einem demokratischen Gemeinwesen vereinbar ist. Um eine ausgewogenere Verteilung zu erreichen, schlägt der Ökonom eine progressive Eigentumssteuer vor, durch die jedes Jahr ein Teil des Besitzes der Reichsten an die Allgemeinheit übertragen werden soll.

Generell ist eine progressive Vermögenssteuer, die die Mittelschicht unbehelligt lässt, aber die Eigentümer sehr großer Vermögen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzieht, natürlich eine gute Idee. Insbesondere wenn es in naher Zukunft darum gehen wird, wer die Kosten der Corona-Krise letztlich trägt, ist dieser Empfehlung politischer Erfolg zu wünschen. Auch das Anliegen, zu verhindern, dass sich milliardenschwere Besitztümer in den Händen eines modernen Geldadels verfestigen, ist vernünftig. Pikettys Vorschlag allerdings, diesen Effekt über eine Eigentumssteuer mit Sätzen von bis zu 60 Prozent zu erreichen, kann nicht überzeugen. Immerhin besteht der Löwenanteil dieses Eigentums nicht aus liquiden Mitteln, sondern aus Betriebsvermögen. Dieses müsste verkauft werden, um die Steuer zu bezahlen, und die zahlungsfreudigsten Käufer dürften Hedge Fonds und Finanzinvestoren sein.

Weit sinnvoller erscheint daher ein neues Eigentumsrecht, nennen wir es Leistungseigentum, das die Logik der Begrenzung von der Haftung für Verluste auch auf den Anspruch auf Gewinne überträgt. Dass die heute übliche begrenzte Haftung dem unbegrenzten, über Generationen vererbbaren Zugriff auf die Gewinne eines Unternehmens widerspricht, hat bereits der Freiburger Ökonom Walter Eucken kritisiert. Dieser Widerspruch ließe sich auflösen, wenn es gar keine Fremdeigentümer von Unternehmen mehr gäbe, sondern einfach Kapitalgeber mit unterschiedlichem Verlustrisiko, die entsprechend höhere oder niedrigere Zinsen erhalten. Am Ende würde dann jede Einlage behandelt wie ein Bankkredit: ist sie einschließlich Zinsen abbezahlt, gibt es keine Ansprüche mehr. Das Kapital gehört der Firma und die Firma gehört sich selbst, so wie das heute in vielen Stiftungsunternehmen der Fall ist. Solche Firmen und ihre Belegschaften müssten dann keine Heuschrecken mehr fürchten, die sie übernehmen und ausplündern könnten. Zerstrittene Erben können ihnen nichts mehr anhaben, und auch keine chinesischen Staatsfonds, die es auf Marke und Knowhow abgesehen haben.

Pflichtlektüre in den Vorständen aller sozialdemokratischen und linken Parteien sollten schließlich Pikettys Ausführungen über die „Brahmanische Linke“ sein. In bitteren Worten beschreibt er, wie diese Parteien sich zunächst zu Akademikerparteien und schließlich zu Parteien der Besserverdiener gewandelt haben. Ihre im Stich gelassene frühere Wählerschaft, vor allem Arbeiter und einfache Angestellte, bleibt seither den Wahlen entweder fern oder hat sich der politischen Rechten zugewandt, wofür sie sich regelmäßig auch noch als nationalistisch und rassistisch beschimpfen lassen muss. Überhaupt, moniert Piketty, kranke die öffentliche Debatte daran, dass die privilegierten Meinungsführer sich einem sachlichen Meinungsstreit kaum noch stellen. Der Populismus-Begriff etwa sei „zur unschlagbaren Waffe geworden, die es hochbegünstigten sozialen Gruppen erlaubt, jede Kritik ihrer politischen und programmatischen Entscheidungen im Voraus zu disqualifizieren.“

In „Kapital und Ideologie“ schreibt nicht nur ein nüchterner Ökonom, der gewaltige Datenmengen aufbereitet, sondern ein engagierter Wissenschaftler, der die beschriebenen Entwicklungen mit großer Sorge verfolgt und der Politik dringend empfiehlt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Dem Autor ist zu wünschen, dass die Mahnung beim Adressaten ankommt.