Sahra Wagenknecht

Mein persönlichstes Bild

Sahra Wagenknecht im Interview mit der WELT

01.01.2019

 Sahra Wagenknecht im Kunstinterview mit Frédéric Schwilden

"Die Natur ist ein faszinierender Künstler. Im Frühjahr sind wir eigentlich immer am Mont Ventoux, einem Berg in der Provence. Die Kirschen blühen weiß und hellrosa und im Hintergrund ist dieser majestätische Berg, auf dessen Gipfel noch Schnee liegt. Niemand malt am Ende so reproduzierbar schön wie die Natur.

Es gibt viele Bilder, die mich zum Staunen bringen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich auf unserer Abiturreise nach St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, drei Tage in der Eremitage verbrachte. Ich weiß noch, wie ich später, nach dem Fall der Mauer, endlich die Bilder der Renaissance im Original sehen konnte, die Goethe in seiner „Italienreise“ beschrieb. Und vor zwei Jahren habe ich zum ersten Mal die Seerosen von Monet im Musée de l'Orangerie in Paris gesehen. Da war eine betagte Dame. Sie sah aus, als ginge es ihr körperlich überhaupt nicht mehr gut. Aber in ihrem Gesicht sah ich Faszination und Glück. Sie blieb noch länger als ich und schaute und schaute auf die Seerosen. Es war so, als würde sie in ihnen aufgehen.

Bei zeitgenössischer Kunst fällt mir das häufiger schwer. Es sind doch überwiegend Klassiker und Impressionisten, die mich beeindrucken. Weil sie klarer zu mir sprechen. Eine Ausnahme sind die Bilder von Anselm Kiefer, Gottfried Helnwein und Michael Triegel. Triegels Bilder haben den Anspruch altmeisterlicher Kunst in unsere heutige Zeit übertragen. Das sind keine Kopien der Alten und gleichzeitig kein billiger Modernismus. Und natürlich Till Neu, dessen Bild „Mont Ventoux“ in meinem Büro hängt.

Ich bin den Mont Ventoux schon einige Male mit dem Fahrrad hochgefahren. Das ist jedes Mal eine Selbstüberwindung. Gerade die eine Auffahrt von Bédoin hinauf ist extrem schwer. Das ist ein Ringen mit sich und dem Berg. Aber wenn man oben ist, entschädigt das alles. Der wunderbare Blick ist alle Mühen wert.            

In diesem Bild geht es für mich aber nicht um diese Härte, der ich mich auch selbst aussetze, sondern um die sonnige Schönheit der Provence, deren Sinnbild der Mont Ventoux für mich ist. Es ist vielleicht das einzige Bild, zu dem ich einen ganz direkten Zugang habe. Wenn ich an einem hektischen und anstrengenden Tag müde und ausgebrannt in meinem Büro sitze, dann muss ich es nur ansehen, und schon geht es mir besser. „Mont Ventoux“ ist mein persönlichstes Bild."