Sahra Wagenknecht

"Ich säge an niemandes Stuhl"

Sahra Wagenknecht im Interview mit der Welt am Sonntag, erschienen am 09.12.2018

09.12.2018

Die Fraktionschefin der Linkspartei Sahra Wagenknecht über den Machtkampf in der Linken und Frankreichs Gelbe Westen. Dringend notwendig sei eine Wende in der Russlandpolitik, sagt sie.

Wams: Frau Wagenknecht, braucht Ihre Sammlungsbewegung gelbe Westen?

Sahra Wagenknecht: Es wäre gut, wenn sich die Menschen auch in Deutschland stärker gegen eine Politik wehren würden, die in erster Linie die Interessen großer Unternehmen und der Finanzwirtschaft bedient, nicht die normaler Bürger. Es gibt auch hier genug Gründe, empört sein. Und es ist falsch, die Gelben Westen auf die gewaltsamen Ausschreitungen zu reduzieren. Die Forderungen der Bewegung nach gerechten Steuern oder höheren Löhnen und Renten sind absolut berechtigt und werden von der großen Mehrheit der französischen Bevölkerung unterstützt.

Im Vergleich zu der in Frankreich fehlt Ihrer Bewegung „Aufstehen" aber die Dynamik. Woran liegt das?

Wagenknecht: Seit August haben sich 167.000 Menschen bei uns als Mitstreiter eingetragen. Eine so große Resonanz hatten wir nicht für möglich gehalten. Natürlich ist es in Deutschland viel schwerer, Menschen zu motivieren, auf die Straße zu gehen. Gerade die, denen es nicht gut geht, haben oft das Gefühl, ohnmächtig zu sein. Außerdem befinden wir uns in einer Art Übergangsphase. Die Mehrheit hat die Große Koalition satt, aber wahrscheinlich wird es sie ohnehin nicht mehr lange geben. Die Bundeskanzlerin amtiert auf Abruf. Damit fehlt ein richtiger Adressat.

Warum fürchten Teile Ihrer Partei „Aufstehen"?  

Wagenknecht: Viele Mitglieder der Linken engagieren sich bei Aufstehen. Alle sollten ein Interesse haben, dass es stärkeren Druck gibt, zu einer Politik des sozialen Ausgleichs zurückzukehren. „Aufstehen“ erreicht Milieus, in denen die Linke kaum noch präsent ist: Arbeiter, Geringverdiener. Und Frankreich zeigt, was eine breite Protestbewegung erreichen kann. Die Regierung hat die Spritpreiserhöhungen ausgesetzt, der Mindestlohn wird voraussichtlich steigen.           

Man hört aus Ihrer Partei immer wieder, mit der Gründung von „Aufstehen" wären die Grenzen des Unerträglichen überschritten. Was erwidern Sie?    

Wagenknecht: Ich bedaure, dass die Parteiführung nicht die Chancen erkennt, die mit Aufstehen verbunden sind, um aus der Stagnation herauszukommen. In „Aufstehen“ arbeiten Sozialdemokraten, Linke, Grüne und vor allem viele Parteilose zusammen, die ein gemeinsames Anliegen haben: dass das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft wieder eingelöst wird. Der Goldman-Sachs-Kapitalismus macht wenige reich und bedroht die Mittelschicht. Er ist nicht alternativlos.

Schließen Sie aus, dass „Aufstehen" sich irgendwann zur Wahl stellt?    

Wagenknecht: Dafür ist „Aufstehen" nicht gegründet worden. Wir wollen Menschen zum politischen Engagement ermutigen und die Parteien verändern. Ich gebe ja zu, dass es zur Zeit nicht danach aussieht, dass die SPD noch einmal zur Besinnung kommt. Wenn ein couragiertes SPD-Mitglied wie Susi Neumann...

Sie meinen die Putzfrau, die in Diskussion unter anderem mit Siegmar Gabriel bekannt wurde...

Wagenknecht: Ja, wenn eine Kämpferin wie sie die SPD verlässt, weil sie den Kampf für eine sozialdemokratische SPD aufgegeben hat, sagt das viel. Aber das ist doch eine Tragödie.

Mit Ihrem Kurs können Sie ja nicht einmal Ihre eigene Partei überzeugen.             

Wagenknecht: Ich erfahre in allen Veranstaltungen großen Rückhalt von unseren Mitgliedern.     

Das erklärt noch nicht den Machtkampf zwischen Ihnen und Parteichefin Katja Kipping.        

Wagenknecht: Ich führe keinen Machtkampf und säge an niemandes Stuhl. Das sollten alle so halten. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, worin linke Politik besteht und wen sie vor allem ansprechen und erreichen muss. Für mich ist der Kern linker Politik der Kampf gegen wachsende Ungleichheit.          

Manche in Ihrer Partei wünschen sich, dass Sie auf den Fraktionsvorsitz verzichten. 

Wagenknecht: Wer das möchte und der Fraktion angehört, kann einen Abwahlantrag stellen.

 Wie sähe eine mögliche Befriedung der Partei aus?

Wagenknecht: Wir müssen die Differenzen sachlich diskutieren und uns vor allem darum kümmern, Politik für unsere Wähler zu machen.

Parteifreunde werfen Ihnen vor, Sie hielten sich für einen deutschen Jeremy Corbyn. Wie finden Sie den Labour-Chef?

Wagenknecht: Das habe ich ja noch nie gehört. Das Modell Corbyn wäre ja eher eine Hoffnung für die SPD. Corbyn ist der lebende Beweis dafür, dass sich die Sozialdemokratie aus dem Sumpf einer Lobbypartei für die wirtschaftlichen Eliten, die auch Labour unter Tony Blair geworden war, wieder befreien kann.           

Warum profitieren von der schwachen SPD nur die Grünen und nicht die Linkspartei?         

Wagenknecht: Zum einen schaden uns unsere öffentlichen Streitereien. Zum anderen sind wir in den letzten Jahren viel zu wenig auf die klassisch sozialdemokratischen Milieus zugegangen. Viele, die in ihrem Leben keine Zeit für Proseminare in politisch korrektem Sprechen hatten, fühlen sich durch uns eher belehrt als verstanden. Sie haben oft nicht das Gefühl, dass ihre Sorgen bei uns im Mittelpunkt stehen.           

Vielleicht sind die Grünen ja so erfolgreich, weil sie auf eine Zuwanderungssteuerung weitgehend verzichten möchten. Ähnlich wie Frau Kipping. Könnte die Linke ohne ihre realpolitischen Interventionen bei 20 Prozent stehen?

Wagenknecht: Die Grünen sind schlauer als Sie sie darstellen. Sie haben auf ihrem Parteitag beschlossen: Jeder hat das Recht auf ein faires Asylverfahren. Aber nicht jeder darf bleiben. Das ist vage genug, um verschiedene Erwartungen zu bedienen. Die Grünen erreichen hauptsächlich gut ausgebildete, großstädtische Wähler mit im Durchschnitt höheren Einkommen als selbst die Wähler der FDP.

 An das Milieu kommt Ihre Partei nicht heran.        

Wagenknecht: Eine Linke kann nicht die Partei der Besserverdiener sein. Natürlich freuen wir uns über jeden Wähler, dem es persönlich gut geht, der die wachsende soziale Spaltung aber trotzdem unerträglich findet. Aber eine Linke braucht vor allem den Rückhalt der Menschen, denen es weniger gut geht. Diese Menschen erreichen die Grünen nicht. Das ist auch der Grund, warum sie in Ostdeutschland schwach sind. Das werden die Wahlen im nächsten Jahr auch wieder zeigen.          

Stimmt. Dort wird vor allem die AfD erfolgreich sein.

Wagenknecht: Und das ist auch unser Versagen. Früher war die Linke im Osten eine breit verankerte Volkspartei, in den letzten Jahren haben wir viele Wähler verloren, ins Nichtwählerlager, aber auch an die AfD. Es ist unsere Aufgabe, diese Menschen zurückzugewinnen.

Die Politik, legale Migration weiter auszubauen, wird von CSU bis zur Linkspartei und von den Gewerkschaften bis zu den Unternehmensverbänden gestützt. Wie erklären Sie sich diese ganz große Koalition?            

Wagenknecht: Die Wirtschaft hat ein Interesse an billigen Arbeitskräften. Und natürlich helfen wir den armen Ländern nicht, indem wir ihre besser qualifizierte Mittelschicht abwerben. Linker Internationalismus bestand immer darin, sich gegen koloniale und neokoloniale Ausbeutung zu wenden und die Lebensverhältnisse vor Ort zu verbessern.

Ist das Paradigma, Migration sei insgesamt eine Quelle des Wohlstandes, wie es auch über dem UN-Pakt steht, ein Irrtum?

Wagenknecht: Migration ist in der Regel die Folge von sehr viel Leid. Menschen fühlen sich in ihrer Heimat wohler als in der Fremde. Nur wenn zuhause Kriege wüten oder es keine Chancen gibt, suchen sie woanders nach einem besseren Leben. Und es sind natürlich auch nicht die Ärmsten, die nach Europa kommen, der Hungernde hat keine Mittel zur Flucht. Wenn wir ihnen helfen wollen, muss die EU aufhören, afrikanische Bauern niederzukonkurrieren und Kriege mit Waffen zu munitionieren. Und wir sollten Ärzte für Afrika ausbilden, statt jährlich über 20 000 medizinische Fachkräfte von dort in die reichen Länder zu holen. Deutschland sollte in der Lage sein, seine Fachkräfte selbst auszubilden. Wenn wir uns schlechte Schulen leisten und das Lohnniveau in einigen Berufen so gering ist, dass sich zu wenige für diese Branchen entscheiden, dann müssen wir das ändern.    

Lassen Sie uns zum Abschluss noch kurz auf den Russland-Ukraine-Konflikt kommen. Sollte man nach den jüngsten russischen Völkerrechtsvergehen im Asowschen Meer Nordstream 2 noch stoppen?

Wagenknecht: Da würden Trump und die US-Gaskonzerne sich freuen, weil sie uns gern ihr teures Frackinggas verkaufen möchten. Nein, das ist wirklich eine ausgesprochen dumme Forderung. Deutschland braucht Nordstream 2 mehr als Putin. Wer aus Atomstrom und Kohle rauswill, benötigt eine verlässliche Gasversorgung. Denn nur mit Solar- und Windkraft gingen beim heutigen Stand der Technik schnell die Lichter aus.

Ihrer Ansicht nach sollten wir also gar nicht reagieren?     

 Wagenknecht: Ich setze auf Diplomatie. Es ist falsch, Russland als den Alleinschuldigen hinzustellen. Auch Poroschenko hat an der Eskalation erkennbares Interesse.

Jetzt geht es aber konkret um den Vorfall im Asowschen Meer.

Wagenknecht: Ja, aber der ist doch nicht isoliert zu bewerten. Hier gibt es einen seit Jahren schwelenden Krieg. Auch die Ukraine hat das Minsker Abkommen nicht eingehalten. Es geht nicht darum, Putins Politik gut zu finden, sondern russische Interessen endlich wieder ernst zu nehmen. Die Nato hat sich bis an die russische Grenze vorgeschoben, es gibt US-Raketenbasen in Osteuropa und eine immense Aufrüstung auf westlicher Seite. Wenn die USA den INF-Vertrag tatsächlich kündigen, droht sogar eine neue atomare Rüstungsspirale. Das alles gefährdet Frieden und Sicherheit in Europa. Deshalb brauchen wir eine neue Entspannungspolitik.

Das hilft der Ukraine bei der Blockade ihrer Häfen nicht.

Wagenknecht: Die Blockade ist teilweise wieder aufgehoben. Aber der Konflikt kann nur gelöst werden, wenn Russland sich von der NATO nicht immer weiter in die Enge getrieben fühlt. Putin hat bisher ziemlich rational gehandelt. Wenn die Situation sich weiter zuspitzt, könnte unser Gegenüber irgendwann nicht mehr Putin, sondern ein aggressiver russischer Nationalist wie Nawalny sein. Dann wird es sehr gefährlich.