Sahra Wagenknecht

"Die Regierung hat keine Vision"

Sahra Wagenknecht im Interview mit Yahoo Nachrichten

11.09.2018

Vergangene Woche ist der offizielle Startschuss für die parteiübergreifende Bewegung “Aufstehen” gefallen. Der anfängliche Zuspruch war groß, ebenso die Kritik aus allen möglichen Richtungen, insbesondere des heimatlichen linken Spektrums. An wen sich “Aufstehen” richtet und was die Sammlungsbewegung erreichen will, erklärt Mitbegründerin Sahra Wagenknecht im ersten Teil ihres Exklusiv-Interviews mit Yahoo Nachrichten.

Frau Wagenknecht, können Sie sich noch erinnern, wie Ihnen die Idee für “Aufstehen” kam?

Sahra Wagenknecht: Das war direkt nach der Entscheidung, dass es wieder eine Große Koalition gibt. Ich dachte, das kann nicht wahr sein: Die großen Wahlverlierer machen einfach weiter. Damals hörte ich auf Bürgerveranstaltungen immer wieder: “Bei der nächsten Wahl geh ich nicht mehr hin”. Ich merkte, dass parlamentarische Oppositionsarbeit nicht mehr ausreicht, dass immer mehr Menschen sich von der Politik abwenden. Also musste etwas Neues entstehen.

Politik löst bei Jüngeren keine Begeisterungsstürme aus. Wie wollen Sie die begeistern?

Wagenknecht: Gerade die Jungen sind betroffen, es wird ja ihre Zukunft verspielt. Unser Land ist nicht nur sozial gespalten, sondern alle wichtigen Probleme werden verschleppt. Die Regierung hat keine Vision. Die digitale Revolution überlassen wir profitgetriebenen Internetgiganten aus den Vereinigten Staaten, das Bildungssystem in Deutschland ist chronisch unterfinanziert.

Okay, aber kommen wir zurück zur Begeisterungsfähigkeit…

Wagenknecht: “Aufstehen” hat keine starren Parteienstrukturen. Wir sind transparent und durchlässig. Mit Hilfe der Software Pol.is werden wir spannende Fragen diskutieren und jeder kann sich einbringen. In Parteien muss man sich erst über Jahre nach oben arbeiten, bis man endlich etwas mitentscheiden kann. Bei uns geht das sofort.

Wenn also “Aufstehen” begänne, Parteistrukturen aufzubauen – wäre das gleichzeitig das Todesurteil?

Wagenknecht: Dann würden sich wahrscheinlich viele wieder verabschieden. Wir hören zu und schaffen eine einfache Basis für Engagement. Auch für Aktionen vor Ort.

Zuhören ist nicht gleich Demokratie. Zuhören kann auch aus Gnade heraus geschehen.

Wagenknecht: Jedes Mitglied kann sich einbringen und vielleicht sogar zu einem Kopf der Bewegung werden – das ist eine durchlässige Struktur. Wer bei Pol.is einen kreativen Vorschlag macht, kann sehr viel Zustimmung gewinnen.

Und wer entscheidet, was eine intelligente Idee ist?

Wagenknecht: Die, die sich an der Debatte beteiligen. Die Software ist so programmiert, dass eingestellte Forderungen von den Teilnehmern abgestimmt werden. Also die Zustimmungen bringen etwas nach oben.

Da ist alles noch im virtuellen Raum. Wie wollen Sie auf die Straße?

Wagenknecht: Wir haben die erste Aktion gestartet und Abrisszettel mit politischen Forderungen an Pinnwände geheftet. Aber das war erst mal nur zum aufwärmen, kreativere Aktionsformen werden folgen.

Bei allen europäischen Bewegungen, die damit Erfolg hatten, wie Podemos in Spanien, En Marche in Frankreich, Labour in Großbritannien, gab es einen magischen Moment, eine Welle mit der Gewissheit: Das verebbt so schnell nicht. Wie soll das in Deutschland geschehen?

Wagenknecht: Wir haben binnen vier Wochen über hunderttausend Menschen gewonnen – das zeigt doch ein großes Potenzial. In Deutschland sind ganz viele nicht damit einverstanden, wie sich das Land entwickelt. Viele halten es für falsch, dass mit Krankenhäusern Profit gemacht wird, dass Investoren ganze Straßenzüge aufkaufen, sich alles nur noch rechnen muss. Wir brauchen noch andere Werte als die ökonomischen.

Aber all diese Bewegungen strebten Wahlen an. Das ist bei Ihnen anders.

Wagenknecht: Das deutsche Wahlsystem schreibt vor, dass nur Parteien bei Wahlen antreten können.

Würden Sie das gern ändern?

Wagenknecht: Wir versuchen erstmal, die Parteien zu verändern. Die bundesdeutsche Geschichte zeigt, dass Bewegungen ihre Ziele in den Parteien verankern können, wenn sie genug Druck entfalten. Es gab eine starke Friedensbewegung, eine starke Umweltbewegung – und deren Themen fanden Eingang in die Parteien. Meine Hoffnung ist, dass unsere Bewegung so stark wird, dass die Parteien gar nicht anders können, als unsere Forderung nach mehr sozialem Ausgleich aufzugreifen.

Überlegen Sie, die Partei der Linken zu verlassen und ganz von “Aufstehen” aus zu arbeiten?

Wagenknecht: Nein. Meine Arbeit als Fraktionschefin der Linken steht nicht im Widerspruch zu “Aufstehen”. Ich muss doch anerkennen: Allein wird es die Partei Die Linke nicht schaffen, einen Politikwechsel herbeizuführen. Ich habe mir schon lange gewünscht, dass eine Bewegung für höhere Löhne und mehr soziale Sicherheit entsteht, und mich gefragt, warum sich die Menschen so viel gefallen lassen. Ich muss auch nicht ewig einer der Köpfe von “Aufstehen” bleiben. Ich würde mich freuen, wenn das irgendwann andere fähige Leute übernehmen – wenn neue Talente entdeckt werden. Das Auswahlverfahren bei den Parteien ist offenkundig nicht optimal. Talentierte und kreative Köpfe schaffen es selten nach oben.

Das klingt bei einer Berufspolitikerin nach Selbstkritik.

Wagenknecht: Viele verbiegen sich, um in einer Partei Karriere zu machen. Das ist nicht, was wir brauchen.

Haben Sie sich auch verbogen?

Wagenknecht: Ich hatte das Glück, meine politische Arbeit in einem gesellschaftlichen Umbruch zu beginnen, kurz nach der Wende 1990, da waren die Strukturen relativ durchlässig. Später konnte ich mich auf meine öffentliche Resonanz stützen. Das hat meine mangelnde Fähigkeit zum Netzwerken ausgeglichen.

Netzwerken würden Sie nicht zu Ihren Fähigkeiten zählen?

Wagenknecht: Naja, es ist zumindest nicht meine Stärke.

Warum werden Sie von nicht wenigen Politikerkollegen und auch von Journalisten als wenig integrativ beschrieben? Spielen auch Klischees eine Rolle?

Wagenknecht: Das ist ein Klischee. Man kann keine Fraktion führen, wenn man sich nicht um Integration bemüht. Und auch “Aufstehen” habe ich ja nicht allein auf die Beine gestellt. Wir haben über 80 prominente Leute – Schriftsteller, Schauspieler, Gewerkschafter, Politiker aus drei Parteien, Wissenschaftler – davon überzeugt, dass das ein sinnvolles Projekt ist. Dafür sollte man schon ein bisschen integrativ sein.

Und was ist, wenn doch nicht so viele Leute unzufrieden wären? Davon gehen Sie ja aus.

Wagenknecht: Die Unzufriedenheit mit der Politik zeigen alle Umfragen. Viele wehren sich nur deshalb nicht, weil sie die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben haben. Schauen Sie sich die Daten der Wirtschaftsforschung an: Trotz jahrelangen Wirtschaftsaufschwungs hat fast die Hälfte der Bevölkerung heute nicht mehr, sondern eher weniger Geld in der Tasche als vor 20 Jahren. Sie nehmen nicht am Aufschwung teil.

Sind die Unterschiede im Vergleich zu vor 20 Jahren denn so groß? Gut verdient haben einige schon damals, vielleicht ist das Jammern auf hohem Niveau?

Wagenknecht: Es gibt in Deutschland einen großen Niedriglohnsektor – viele ackern den ganzen Monat und bringen am Ende weniger als 1200 Euro netto nachhause. Damit kann man keine Familie gründen, nicht die Mieten in den großen Städten bezahlen. Und hinzu kommen die vielen befristeten Jobs, das Leben ist sehr unsicher geworden, besonders für die Jungen. Viele engagieren sich übrigens nicht politisch, weil sie völlig ausgelastet damit sind, im Alltag zu bestehen und Monat für Monat ihre soziale Existenz zu sichern. Dabei könnten wir Arbeit ganz anders organisieren, entspannter leben.

Malen Sie die Situation im Land nicht zu schwarz?

Wagenknecht: Deutschland ist tief gespalten. Das Land ist reich, wir sind nicht Griechenland und erst recht nicht Bangladesch – hier ist viel verteilbar. Aber die Verteilung ist extrem ungerecht. Viele junge Leute erreichen nicht mehr den Lebensstandard ihrer Eltern, obwohl sie teilweise sogar härter arbeiten.

Der Staatshaushalt hat doch einen Riesenposten für Soziales, da wird viel verteilt.

Wagenknecht: Aber für viel Falsches. Zehn Milliarden Euro werden zum Beispiel jährlich gebraucht, um so genannte Hartz-IV-Aufstockerleistungen zu bezahlen. Das kriegen Menschen, die sehr wenig verdienen, vom Staat. Dabei wäre es doch besser, die Mindestlöhne zu erhöhen und die Unternehmen die Gehälter zahlen zu lassen, oder?

Das sind alles wichtige Punkte. Im Gründungsaufruf zu “Aufstehen” indes ist von “empfundener Ohnmacht” die Rede, und davon, dass der Sozialstaat keine Sicherheit mehr gebe: Wird dadurch nicht Unsicherheit auch geschürt, wird dadurch Angst fabriziert?

Wagenknecht: Man macht sich etwas vor, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass viele Leute Angst haben. Wenn jemand zum Beispiel einen guten Job hat, einen guten Lebensstandard – spätestens nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ist alles weg, egal wie lange man gearbeitet hat. Danach muss man sich nackt machen, um Hartz IV zu bekommen. Das ist unmöglich. Natürlich macht das Angst.

Finden Sie, dass das politische Klima immer aggressiver wird?

Sahra Wagenknecht: Das spürt man doch. Wachsende Ungleichheit und fehlende Sicherheit motivieren die Menschen dazu, ihre Ellenbogen einzusetzen und in dem Anderen einen Konkurrenten zu sehen. Vieles, was sich als Unmut gegen Flüchtlinge entlädt, ist in Wahrheit Unmut über die eigene Zurücksetzung und Angst vor Wohlstandsverlusten.

Wer auf Demos gegen Geflüchtete geht, ist doch nicht automatisch zurückgesetzt, arm oder benachteiligt. Diese Ablehnungshaltung wandert quer durch die Gesellschaft, da wüteten in Chemnitz zum Beispiel sicher auch Gutverdiener.

Wagenknecht: Nazis, die Menschen jagen und auf der Straße den Hitlergruß zeigen, sind ganz sicher nicht durch soziale Nöte motiviert. Aber über die rede ich hier nicht. Das ist zum Glück eine kleine Minderheit. Aber Realität ist doch: Flüchtlinge werden teilweise von Unternehmen für Lohndumping genutzt. Man gibt ihnen schlecht bezahlte Jobs, in denen vorher vielleicht jemand besser verdient hat.

Vielleicht oder tatsächlich?

Wagenknecht: Ich habe zum Beispiel vor kurzem mit einer Raumpflegerin gesprochen. Sie ist Mitte 50 und wurde vom Unternehmen entlassen, hatte dort Tariflohn erhalten, der ja schon gering genug ist. Sie erzählte mir über ihre Jobsuche, dass sie fast nur noch Angebote zum Mindestlohn erhält – weil viele Zuwanderer beschäftigt werden.

Das klingt nach konkreten Aufgaben für die Politik. Die kann doch durch eine Tarifpolitik dafür sorgen, dass Bürger und Geflohene nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Wagenknecht: Kann sie, tut sie aber nicht. Genau das ist ja das Problem. Die Probleme existieren, und wenn man sie wegredet, hilft das nur der AfD. Wir brauchen mehr Tarifbindung und deutlich höhere Mindestlöhne. Man tut aber nichts und wundert sich, wenn sich dann Wut nicht nur gegen die Politiker, sondern auch gegen die Flüchtlinge wendet.

Also braucht es eine sozialere Politik und nicht eine Begrenzung der Zuwanderung? Letzteres haben Sie seit 2015 öfters gesagt.

Wagenknecht: Wer vor Verfolgung flieht, braucht Schutz über das Asylrecht. Arbeitsmigration kann immer nur begrenzt sein, denn es gibt keinen unbegrenzten Arbeitsmarkt. Integration funktioniert aber nur, wenn Zuwanderer eine Arbeit finden und dabei nicht Einheimische verdrängen. Und natürlich brauchen Zuwanderer Wohnungen, ihre Kinder Kita-Plätze und Schulen. Wenn die Politik das nicht in ausreichender Zahl bereit stellt, gibt es Konkurrenz und Frust. Tatsächlich hätte die Regierung Merkel hier sehr viel mehr tun müssen. Aber ebenso klar ist: Selbst eine sozial verantwortungsvolle Regierung hätte keine unbegrenzten Ressourcen zur Verfügung.

Hat ja auch niemand gesagt.

Wagenknecht: Manche meinen: Jeder, der möchte, soll kommen und bleiben – das funktioniert nicht.

Nun sind seit 2015 vor allem Schutz Suchende gekommen. Die sind also alle zu Recht willkommen geheißen, nicht wahr?

Wagenknecht: Es sind viele gekommen, zum Beispiel aus dem syrischen Bürgerkrieg. Da muss man aber auch darüber reden, wieso Kriege entstehen. Da ist auf der einen Seite der syrische Präsident Assad, da ist aber auf der anderen Seite auch die USA, die mit ihren Kriegen einen entscheidenden Anteil daran hatte, den Nahen Osten zu destabilisieren. Ohne Irak-Krieg gäbe es die Terrorgruppe “Islamischer Staat” nicht. Europa soll dann die Konsequenzen ausbaden. Das kann man so nicht mehr hinnehmen.

Das alles hilft jetzt nicht einer syrischen Familie, die vor den Bomben flieht.

Wagenknecht: Natürlich braucht solch eine Familie Schutz. Aber die Gemeinschaft aller Länder muss diesen Schutz gewährleisten. Dass gerade die reichen Länder hier in einer Verpflichtung stehen, ist keine Frage.

Und warum haben Sie seit der Aufnahme von Geflohenen seit 2015 von Staatsversagen gesprochen?

Wagenknecht: Weil die Art und Weise, wie das damals abgelaufen ist, gezeigt hat, dass dem Staat die Kontrolle entgleitet. Damals wurde mit syrischen Pässen gehandelt, weil dies der Weg nach Deutschland war. Da wusste man teilweise ja gar nicht mehr, wer kommt. Und dann wurden nicht einmal jene Maßnahmen ergriffen, die für Integration nötig sind: Städte und Kommunen wurden allein gelassen, es wurde nicht in Bildung investiert und es gab auch kaum mehr Kita-Plätze. Das ist Staatsversagen.

Es war eine chaotische Situation, die eben chaotische Antworten verlangte. Was hätte eine Bundeskanzlerin Sahra Wagenknecht 2015 anders gemacht?

Wagenknecht: Wir haben schon im Frühjahr 2015 darauf hingewiesen, dass es diese Flüchtlingsbewegungen gen Europa gab. Wir haben Vorbereitungen eingefordert. Und die Bundesregierung warf uns Schwarzmalerei vor. Sie hätte nicht überrascht sein müssen. Daher war es eine falsche Politik, zuerst den Kopf in den Sand zu stecken und dann völlig planlos zu handeln.

Ist die Rede von Staatsversagen nicht zu kräftig? Es sind so viele Menschen zu uns gekommen, im Großen und Ganzen ist das doch sehr erfolgreich gemanagt worden. Das war eine Riesenleistung.

Wagenknecht: Diese Leistung wurde vor allem von tausenden Ehrenamtlichen erbracht – und von Kommunen und Städten.

Die sind auch der Staat.

Wagenknecht: Aber die Bundesregierung war verantwortlich. Sie hat Entscheidungen getroffen, mit deren Folgen dann andere klarkommen mussten. Das hat die Menschen über Monate verunsichert und führte dazu, dass die AfD nun im Bundestag sitzt.

Wie wollen Sie mit “Aufstehen” die AfD wieder aus dem Bundestag kriegen?

Wagenknecht: Der übergroße Teil der AfD-Stimmen ist rückholbar. Die meisten sind keine Nazis oder Rassisten – die haben früher NPD gewählt, das war nie zweistellig. Die guten Wahlergebnisse der AfD rühren vor allem von Leuten, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Es wäre ein grauenvolles Zeugnis für Deutschland, wenn wir von 16 Prozent Rassisten reden würden.

Man kann auch Rassist sein und nach wie vor Union, SPD, FDP, Grüne oder Linke wählen.

Wagenknecht: Ich weiß nicht, wie Sie Rassismus definieren. Für mich ist ein Rassist jemand, der Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens für minderwertig hält und im schlimmsten Fall sie sogar tätlich angreift. Diese Haltung gibt es, das ist schlimm genug. Aber es gibt sie bei weitem nicht in der Größe der AfD-Wählerschaft.

Meinen Sie nicht, dass es ein migrantenfeindliches Potenzial gibt, das weit größer ist als die Wählerschaft der AfD?

Wagenknecht: Wir haben über Rassismus gesprochen. Wer ein Problem darin sieht, dass zum Beispiel in einer Schule die Mehrheit der Erstklässler kein Deutsch spricht und die Schule viel zu schlecht ausgestattet ist, um mit diesem Problem klarzukommen, ist deshalb noch lange kein Rassist.

Warum ist dieser Ausbruch gegen Geflohene in Chemnitz passiert, und bisher nicht in einer westdeutschen Stadt?

Wagenknecht: Das hätte auch in einer westdeutschen Stadt geschehen können. In Chemnitz ist ein junger Mann ermordet worden. Einer, der alles gewollt hätte, aber nicht, dass jene politischen Kräfte seinen Tod instrumentalisieren, die das dann taten. Er war ja eher links orientiert. Dennoch gab es dieses Verbrechen, und darüber hat es natürlich bei vielen Menschen Entsetzen gegeben. Das ist allerdings dann von der Rechten instrumentalisiert worden. Es kam schließlich zu Exzessen von Rassisten und Neonazis. Wer durch die Stadt läuft und den Hitlergruß zeigt, ist ein Nazi. Da lässt sich nichts beschönigen.

Und es gab eine große Masse, die nichts dagegen unternahm. Das fand ich schlimmer.

Wagenknecht: Das Schlimmste ist, dass der Staat und die Polizei nichts unternahmen. Der Hitlergruß ist ein Straftatbestand. Und es ist erst recht ein Straftatbestand, wenn Jagd auf Menschen gemacht wird. Da ist es ein Staatsversagen, wenn die Polizei dem nicht schnell Einhalt gebietet.

Diese Exzesse in Chemnitz, die Jagden, das Klima – ich bin mir sicher, dass dies so nicht in einer westdeutschen Stadt geschehen würde.

Wagenknecht: Ihren Optimismus in Ehren, aber wenn die Politik so weitermacht und sich die Stimmung weiter aufheizt, wird Chemnitz wohl kein Einzelfall bleiben.

Gibt es in Deutschland, ob Ost oder West, eine Stimmung, die sagt: Die Ausländer wollen wir nicht mehr?

Wagenknecht: Nein. In dieser Pauschalität fordert das allenfalls kleine Minderheit. Was ich mehr erlebe: Dass Menschen sagen, Probleme seien nicht mehr im Griff. Dass Frauen in bestimmten Wohngebieten Angst haben, abends unterwegs zu sein oder sich verunsichert fühlen, wenn sie in der U-Bahn mit einer Gruppe junger Männer allein sind, deren Sprache sie nicht verstehen. Mit solchen Ängsten darf man nicht ignorant umgehen oder diese Menschen in die rechte Ecke stellen.

Würden Sie denn diese Angst für gerechtfertigt halten?

Wagenknecht: Nicht in jedem Einzelfall natürlich. Aber ich finde es arrogant, wenn Politiker oder andere Besserverdiener, die nachts selbst lieber mit dem Taxi fahren, dann weniger Wohlhabende, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, belehren, dass ihre Ängste unbegründet sind.

Dass man Angst kriegt, wenn andere in einer anderen Sprache sprechen?

Wagenknecht: Nein, wenn man als Frau allein mit jungen Männern in einem Abteil sitzt – das kann schon eine ungemütliche Situation sein. Und wenn diese Männer dann noch eine andere Sprache sprechen, kann man die Situation noch schwerer beurteilen. Wer sich da unsicher fühlt, ist deshalb noch lange kein Ausländerfeind.

In Ihrer Jugend haben Sie Persisch gelernt. Hätten Sie jemals gedacht, dass Sie Leuten Angst einjagen könnten, wenn Sie Farsi sprechen?

Wagenknecht: Ich habe über Gruppen junger Männer geredet. Wenn Frauen eine andere Sprache sprechen, entstehen vermutlich keine Ängste.

Wird bei diesen Ängsten nicht stark übertrieben?

Wagenknecht: Ich finde es arrogant, Leuten zu sagen, dass ihre Angst übertrieben ist. Vielleicht ist sie es, vielleicht auch nicht. Wenn wir einen Staat mit einer besser ausgestatteten Polizei hätten, wenn auf Bahnhöfen noch Personal wäre und die Menschen sich mehr geschützt fühlten, gäbe es auch viele Ängste nicht.