"Beenden Sie Ihr Konjunkturprogramm für Politikverdruss"

Rede von Sahra Wagenknecht in der Debatte des Bundestages am 28.06.2018 über die Regierungserklärung zum Europäischen Rat und zum NATO-Gipfel

28.06.2018
Sahra Wagenknecht, DIE LINKE: Beenden Sie Ihr Konjunkturprogramm für Politikverdrossenheit!

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin! Wenn selbst der ehemalige Vizekanzler - immerhin Mitglied einer der Koalitionsparteien - sich inzwischen fragt, ob die handelnden Akteure in dieser Regierung „völlig wahnsinnig geworden“ sind, dann kann man eine solche Kritik als Opposition eigentlich nicht mehr toppen. Deswegen schließen wir uns hier ausdrücklich dieser Frage von Herrn Gabriel an.

(Beifall bei der LINKEN)

Was Sie hier abliefern, ist eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, und es ist blamabel gegenüber unseren europäischen Partnern.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir würden es ja noch mit Sympathie verfolgen, wenn die Koalition darüber streiten würde, was man gegen die unverändert ansteigende Altersarmut tun kann oder gegen die unverändert dramatische Situation in vielen Krankenhäusern und Pflegeheimen oder gegen den ungebremsten Mietwucher, der nach wie vor Familien aus den Innenstädten verdrängt. Wenn Sie darüber streiten würden, dann hätte man doch wenigstens noch das Gefühl, dass Sie sich mit den realen Nöten der Bevölkerung beschäftigen würden.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber zu all diesen Themen fällt Ihnen leider seit langem schon nichts mehr ein.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Zu Ihnen fällt mir nichts ein!)

Ja, auch Asyl und Zuwanderung gehören zu den Problemen, die die Menschen bewegen. Aber auch da geht es Ihnen doch nicht darum, irgendetwas zum Besseren zu verändern. Es geht doch um nichts anderes als um die Torschlusspanik der CSU vor der bayerischen Landtagswahl und um Symbolpolitik. Das ist doch alles, worum es geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Was würde sich denn konkret verändern? Was würde denn die Zurückweisung registrierter Asylbewerber an der deutschen Grenze tatsächlich verändern? Wenn Deutschland im Alleingang beschließt, zurückzuweisen, dann werden andere Länder eben im Alleingang beschließen, nicht mehr zu registrieren. Was haben Sie dadurch gewonnen, außer dass Sie neuen Sprengstoff für die innereuropäischen Beziehungen gelegt haben?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herrn Seehofer kann ich ja leider nicht fragen; aber ich finde, man muss die CSU schon fragen: Nehmen Sie überhaupt noch wahr, dass es noch eine Welt außerhalb von Bayern gibt?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nehmen Sie noch wahr, dass in dieser Welt gerade ein von den USA angezettelter Handelskrieg gefährlich eskaliert, mit Zöllen und mit immer neuen Sanktionsdrohungen, und dass es elementar für unseren Wohlstand sein wird, ob Europa darauf eine gemeinsame Antwort findet oder nicht? Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass in dieser außerbayerischen Welt gerade der nächste Krieg vorbereitet wird, nämlich der Krieg gegen den Iran, und dass die Vereinigten Staaten den Nahen Osten ungeniert weiter destabilisieren mit allen schlimmen Folgen, die dann nicht zuletzt Europa tragen muss?

(Beifall bei der LINKEN)

Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, sollten Sie nicht ganz vergessen, dass es auf dieser Welt noch ein paar Probleme gibt, die größer sind als der Bayerische Landtag.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Da kommt ihr niemals rein!)

Ja, wenn Sie die Flüchtlingszahlen wirklich reduzieren wollen, dann folgen Sie doch endlich den Vorschlägen, die wir hier immer vorgetragen haben,

(Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ihre Vorschläge oder die von Frau Kipping? Welche gelten denn jetzt?)

dann hören Sie auf, völkerrechtswidrige Interventionskriege zu unterstützen, die ein Land nach dem nächsten in einen Failed State verwandeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann hören Sie auf, sich von Rüstungslobbyisten schmieren zu lassen und immer neue Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Das sind doch die eigentlichen Ursachen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber bei dieser falschen Politik

(Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Reden Sie von Frau Kipping?)

ist sich diese desolate Koalition ja leider erschreckend einig;

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Das unterscheidet uns ja von den Linken!)

das ist das Kernproblem. Dass Sie inzwischen noch nicht einmal davor zurückschrecken, mit islamistischen Warlords in Libyen, die Menschenrechte mit Füßen treten, die foltern und vergewaltigen, zusammenzuarbeiten,

(Beifall bei der LINKEN)

ist, finde ich, wirklich das Allerletzte.

So erfreulich es ist, dass Sie, Frau Merkel, neuerdings Wert auf europäische Regelungen, auf europäische Lösungen und Abstimmungen mit unseren europäischen Partnern legen, so klar ist auch: Der Scherbenhaufen, vor dem Sie in Europa stehen, ist doch der Scherbenhaufen Ihrer Politik. Sie haben doch das Porzellan zerschlagen und unsere europäischen Partner immer wieder gegen sich aufgebracht - mit Ihren Alleingängen, mit Ihren erratischen Entscheidungen, mit deutscher Selbstgefälligkeit und Rechthaberei. Denken Sie, das haben die anderen vergessen?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Denken Sie, die Mittelmeeranrainer haben vergessen, wie lange sie im Rahmen des Dublin-Systems mit den Flüchtlingen alleingelassen wurden und dass Deutschland damals kein bisschen solidarischer war als heute Ungarn oder Polen?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meinen Sie, unsere Partner wissen nicht mehr, wie selbstherrlich sich die deutsche Regierung während der Euro-Krise aufgeführt hat? Ich darf an den Spruch von Herrn Kauder, in Europa werde wieder deutsch gesprochen, erinnern. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, wie das damals in Rom und Paris angekommen sein muss.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auch die Griechen dürften noch gut in Erinnerung haben, wie Sie und Herr Schäuble ihnen drastische Kürzungsprogramme aufgezwungen haben, die ein ganzes Land in die Armut gestürzt haben, als Preis für Rettungsmilliarden, die vor allem an deutsche und französische Banken geflossen sind. Und glauben Sie, die Franzosen und Italiener wissen nicht, dass das deutsche Lohndumping unseren Exportkonzernen unlautere Wettbewerbsvorteile verschafft und in ihren Ländern zu Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit führt? Dass heute in vielen europäischen Ländern Wahlen mit Kritik an Deutschland gewonnen werden können, ist doch das Ergebnis Ihrer Politik, Frau Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der LINKEN)

Helmut Kohl hatte schon 2011 in einem Interview davor gewarnt, dass Sie "keinen Kompass" und auch "keinen Führungs- und Gestaltungswillen" haben und dass Deutschland im Ergebnis Ihrer Politik irgendwann isoliert dastehen wird. Er hat leider recht behalten. Wenn Sie das ernsthaft korrigieren wollen, dann müssten Sie weit mehr tun, als für europäische Lösungen in der Flüchtlingsfrage zu werben. Dann wäre zum Beispiel ein Mindestlohn von wenigstens 12 Euro statt der mickrigen Steigerung, die gerade wieder beschlossen wurde,

(Beifall bei der LINKEN)

oder ein Verbot der Lohndrückerei mit Leiharbeit und Werkverträgen nicht nur ein Segen für Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, sondern auch ein echter Beitrag zum Zusammenhalt der Euro-Zone.

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre letztlich auch wirkungsvoller als Ihr mit Herrn Macron ausgehandeltes Euro-Budget, das der Ökonom Thomas Piketty zu Recht einen vagen, ambitionslosen Kompromiss genannt hat. Piketty schlägt übrigens wie wir zur Finanzierung öffentlicher Investitionen eine Steuer auf die großen Vermögen in der Euro-Zone vor. Und da fragt man sich schon: Weshalb kommen solche Vorschläge eigentlich nie von der SPD?

(Beifall bei der LINKEN)

Weshalb überlassen Sie seit Monaten der Union die Hoheit, die Themen zu setzen, statt auch nur einmal mit einer substanziellen sozialen Forderung den Konflikt zu suchen?

(Beifall bei der LINKEN)

Mit der Union auf Konflikt zu gehen, wäre doch im Übrigen auch außenpolitisch längst überfällig. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hat doch recht, wenn er in einem aktuellen „FAZ“-Artikel empfiehlt - ich zitiere -:

Wenn Amerika aber seine Alleingänge in unserer Nachbarschaft fortsetzen will, dann muss Europa die Nato in ihrer heutigen Form politisch in Frage stellen und seine eigenen, unabhängigen außen- und verteidigungspolitischen Entscheidungen treffen.

(Beifall bei der LINKEN)

So weit das Zitat von Klaus von Dohnanyi. Für diese Forderung wurden wir von Ihnen regelmäßig als regierungsunfähig beschimpft.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Seid ihr ja auch!)

Aber sie ist doch richtig. Setzen Sie sich doch lieber für solche Forderungen ein, als bedingungslos eine Kanzlerin zu stützen, die im Unterschied zu ihren Amtsvorgängern der US-Politik immer nur kritiklos hinterhergelaufen ist,

(Beifall bei der LINKEN)

die bis heute die Russland-Sanktionen verteidigt und die auf dem NATO-Gipfel den irren Aufrüstungsforderungen nachkommen will, die für Deutschland Mehrausgaben von über 30 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Das ist übrigens genau der Betrag, der zusätzlich für eine gute Bildung in unserem Land investiert werden müsste, wenn wir diesbezüglich wenigstens den Durchschnitt der OECD-Länder erreichen wollten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Aber Sturmgewehre und bewaffnungsfähige Drohnen sind Ihnen offenbar wichtiger als zusätzliche Lehrer und gut ausgestattete Schulen. Ich finde, das sagt alles über diese Regierung.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): So ein Unsinn!)

Deswegen brauchen wir endlich einen politischen Neuanfang.

(Beifall bei der LINKEN)

Beenden Sie dieses Konjunkturprogramm für Politikverdruss, das nur dazu führt, dass sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden. Wir wollen das nicht, und deswegen wollen wir eine andere Politik in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Da liefern linke Parteitage auch ihren Beitrag!)