Sahra Wagenknecht

"Deutsche Soldaten haben nah der russischen Grenze nichts zu suchen"

Sahra Wagenknecht über die Stärke von Angela Merkel, die Schwäche von Martin Schulz und den Abzug der Bundeswehr aus Osteuropa

30.04.2017

Sahra Wagenknecht lässt sich während des Gesprächs in ihrem Bundestagsbüro keine halben Sätze oder Abschweifungen durchgehen. Ohne mimisches und gestisches Ornament ist die Oppositionsführerin von den Haar- bis in die Schuhspitzen auf Angriff gepolt.

Welt am Sonntag:Frau Wagenknecht, ist es nicht unverantwortlich , dass Jean-Luc Mélenchon keine Wahlempfehlung für Emmanuel Macron ausgesprochen hat?

Sahra Wagenknecht:Mélenchon hat dazu aufgerufen, Le Pen nicht zu wählen. Die Entscheidung zwischen den verbleibenden Alternativen - Wahl von Macron oder Nichtteilnahme - hat er der Abstimmung seiner Anhänger überlassen. Das finde ich demokratischer als paternalistische Aufrufe, die im Zweifel ohnehin nicht befolgt werden.

In Deutschland schwächelt die Linke. Im Saarland erreichte sie nicht ihre vorherigen Ergebnisse, nach den Umfragen in NRW wird sie es schwer haben, die Fünfprozenthürde zu überspringen, und im Bund stand sie auch schon besser da. Woran liegt das?

Ihre Zustandsbeschreibung ist falsch. Die meisten Umfragen auf Bundesebene sehen uns als drittstärkste Kraft und über dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl. In Nordrhein-Westfalen liegen wir bei fünf Prozent, in einer Umfrage sogar bei acht. Hannelore Kraft hat zwar im Wahlkampf mal wieder ihr soziales Herz entdeckt, aber ihre Regierungsbilanz ist kläglich. Kinderarmut und Langzeitarbeitslosigkeit sind höher als in anderen Bundesländern, wirtschaftlich geht nichts voran. Es braucht die Linke im Landtag auch deshalb, um die Regierung nach der Wahl an ihre Versprechen zu erinnern.

 

Seit der Nominierung von Martin Schulz scheinen die Wähler sich auf einen Zweikampf einzustellen. Seither jedenfalls sinken die Umfragen der kleineren Parteien. Leidet Ihre Partei auch unter diesem Umstand?

Martin Schulz hatte die Chance, Wähler für die SPD zurückzugewinnen. Anfangs hat er die Hoffnung geweckt, die SPD würde ihren Agenda-2010-Kurs korrigieren. Inzwischen ist leider klar geworden, dass Schulz für keine andere Politik steht als Sigmar Gabriel. Spätestens die Diskussion über eine Koalition mit der FDP als präferiertes Modell hat gezeigt, dass die ganze Gerechtigkeitsrhetorik nur leeres Gerede war. Denn dass man mit Herrn Lindner nichts gegen prekäre Jobs und für bessere Renten tun kann, versteht sich. Deshalb kommen jetzt viele Wähler von der SPD zu uns zurück.

 

Den Umfragen nach wird die große Koalition im Herbst ähnlich viele Stimmen erhalten wie vor vier Jahren. Was haben Sie als Oppositionsführerin falsch gemacht?

Viele Menschen gehen davon aus, dass die Linke allein keine Veränderungen durchsetzen kann. Alle anderen Parteien sind weitgehend verwechselbar geworden. Dass immer mehr Arbeitnehmer nicht mehr von ihrer Arbeit leben können und dass Konzerne wie Amazon und Apple weniger Steuern zahlen als jeder Kleinbetrieb, ist Ergebnis der gemeinsamen Politik von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen. Allerdings müssen wir noch deutlicher machen: Je mehr Stimmen die Linke bekommt, desto größer ist die Chance, dass die SPD ihren Kurs korrigiert und sich nicht noch einmal unter den Fittichen von Frau Merkel verkriecht.

Warum kommt Angela Merkel eigentlich so gut an?

Merkels Stärke ist die Schwäche ihrer Herausforderer. Wir haben ja gesehen, wie schnell ihr Rückhalt geschmolzen ist, als Schulz nach seiner Nominierung kurzzeitig die Hoffnung auf eine Neuorientierung der SPD geweckt hat. Als sich dann herausstellte, dass der relevanteste Unterschied zwischen Gabriel und Schulz der Bart ist, stabilisierte sich Merkel wieder.

Die SPD unter Schulz setzt auf mehr Gerechtigkeit. Muss die Linkspartei nun linker werden, um sich von Schulz abzuheben?

S o z i a l e G e r e c h t i g k e i t i s t u n s e r Kernthema, die Linke wurde gegründet, weil die SPD dazu übergegangen ist, gegen die arbeitende Mitte und die Ärmeren Politik zu machen. Gegen Rentner, deren Renten gekürzt wurden, gegen junge Leute, die jetzt oft nur noch befristete Jobs bekommen. Statt die gesetzliche Rente zu stärken, will Frau Nahles die Leute noch stärker dazu bringen, ihr Geld zweifelhaften Finanzfonds zu überlassen, bei denen sie dank dicker Provisionen und Nullzins einen Teil ihres Ersparten verlieren. Österreich zeigt, dass es anders geht. Dort wurde statt auf Privatisierung, auf eine Reform der Umlagerente gesetzt. Heute zahlen alle in einen gemeinsamen Rententopf ein, nicht nur Beschäftigte, auch Selbstständige und Beamte. Im Ergebnis bekommt ein durchschnittlicher Rentner in Österreich 800 Euro mehr im Monat als in Deutschland. Wir wären froh, wenn die SPD eine solche Rentenreform mit uns gemeinsam auch in Deutschland einführen würde.

Die Regierung hat immerhin die Sozialausgaben auf mehr als 50 Prozent des Bundeshaushalts erhöht, mehr als eine Million Flüchtlinge zuwandern lassen, den Mindestlohn eingeführt - war das nach dem Herzen der Linken?

Hohe Sozialausgaben sind kein Selbstzweck. Einen hohen Anteil an den Sozialausgabenhaben etwa die Aufstockerleistungen für Erwerbstätige mit Niedriglöhnen. Ich fände es wesentlich besser, den Mindestlohn zu erhöhen, sodass Menschen, die hart arbeiten, der demütigende Gang zum Jobcenter erspart bleibt. Auch ist im Umfeld von Hartz IV eine ganze Industrie entstanden, die teilweise unsinnige Maßnahmen anbietet und viel Geld damit verdient. Das bringt oft keine sinnvolle Qualifikation, aber belastet das Sozialbudget. Zudem sind die Sozialausgaben natürlich auch durch die Aufnahme der Flüchtlinge gestiegen. Integration kann aber nur gelingen, wenn diese Menschen Arbeit finden.

Sind die 400.000 deutschen Stimmen für Erdogans Verfassungsreform ein Warnsignal?

Ja, das ist Ausweis gescheiterter Integration. Wir müssen uns fragen, warum Menschen, die überwiegend in Deutschland geboren sind, sich hier offenbar derart fremd fühlen, dass sie einem islamistischen Despoten zujubeln. Das ist nur mit sich verfestigenden Parallelwelten zu erklären. Und dafür hat die deutsche Politik eine Mitverantwortung. Perspektivlose Hartz-IV-Armut ist in Familien mit Migrationshintergrund noch verbreiteter als im Durchschnitt der Bevölkerung. Der deutsche Staat schaut zu, wie Erdogan seine Hassprediger an die deutschen Moscheen schickt, und finanziert das teilweise mit. Reaktionäre islamistische Organisationen bieten Kindern Hausaufgabenhilfe an, während es immer weniger staatliche Angebote gibt. Es hat nichts mit Respekt vor der Religionsfreiheit zu tun, vor solchen Entwicklungen die Augen zu verschließen. Der aufgeklärte Islam, der Islam von Córdoba, gehört zur europäischen Kultur. Aber nicht der reaktionäre politische Islam, wie er von Saudi- Arabien und anderen Kopf-ab-Diktaturen finanziert und gefördert wird.

Was fordern Sie denn nun aber konkret? Wie sähe Ihre Integrationspolitik aus?

Imame, die in Deutschland predigen, sollten auch hier ausgebildet werden. Hassprediger dürfen kein Podium bekommen. Noch wichtiger ist die soziale Frage: Langzeitarbeitslosigkeit und Armut dürfen nicht länger von der Politik mit Gleichgültigkeit hingenommen werden. Wir brauchen mindestens ein verpflichtendes Vorschuljahr, in dem alle Kinder vor der Einschulung Deutsch lernen. Personell gut ausgestattete Ganztagsschulen müssen für Chancengleichheit unabhängig vom Elternhaus sorgen. Das alles ist generell wichtig, aber es würde auch die Integrationsprobleme entschärfen.

 

Welche linken Forderungen könnten Sie mit der SPD und den Grünen ab dem Herbst Ihrer Meinung nach umsetzen?

Das hängt davon ab, wie stark die Linke wird. Wir werden uns nur an einer Regierung beteiligen, die den Sozialstaat wiederherstellt und auf Aufrüstung und Interventionskriege verzichtet. Ich kann mich erinnern, dass die Grünen einmal aus der Friedensbewegung entstanden sind. Willy Brandt stand für die Position, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Noch in ihrem Berliner Programm von 1989 hat die SPD gefordert, die Nato durch eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zu ersetzen. Wenn sich diese Parteien einmal wieder auf ihre Traditionen besinnen, haben wir Gemeinsamkeiten.

Sollte es zu einer rot-rot-grünen Koalition kommen, muss Deutschland dann seine Beteiligung an der Nato-Mission in Afghanistan aufgeben?

Der Afghanistankrieg war doch ein einziger Fehlschlag. Auch wenn wir noch die nächsten 20 Jahre dort bleiben, bringen wir diesem Land keinen Frieden und den Frauen keine Gleichberechtigung. All die vermeintlichen Anti-Terror- Kriege haben den islamistischen Terrorismus am Ende nur stärker gemacht. Deutsche Soldaten haben in diesen Ländern ebenso wenig zu suchen wie in Osteuropa nahe der russischen Grenze.