Sahra Wagenknecht

Streitgespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Frauke Petry

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 02.10.2016

04.10.2016

"Wer sein Gastrecht missbraucht, hat es verwirkt.“ Dieser Satz stammt von Ihnen, Frau Wagenknecht, und ist eine glasklare AfD-Position.

Wagenknecht: Diesen Satz habe ich nicht mehr benutzt, weil er missverstanden wurde. Wichtig ist etwas anderes: Wenn so viele Menschen nach Deutschland kommen wie infolge von Merkels Politik im vorigen Herbst, dann muss man auch dafür sorgen, dass Integration gelingt und die notwendigen Wohnungen oder Arbeitsplätze vorhanden sind. Entscheidend ist daher, Menschen in Not dort zu helfen, wo sich die meisten Notleidenden ohnehin befinden: in den Herkunftsländern und in den angrenzenden Regionen.

Petry: Damit haben Sie gerade AfD-Positionen referiert, Frau Wagenknecht. Niemand bestreitet, dass wir eine humanitäre Verpflichtung haben, zu helfen. Wenn aber die Rechtsbeugung von Regierungsseite oder die Ausnutzung des Asylrechts durch Armutsmigranten dazu führt, dass wir in Deutschland letztlich einen Konkurrenzkampf unter den sozial Schwachen haben, dann ist das Asylrecht ad absurdum geführt. Das kann weder im Interesse einer linken Partei sein noch in dem einer Rechtsstaatspartei wie der AfD. Deshalb gibt es so starke Überschneidungen zwischen uns.

Wagenknecht: Es gibt keine Überschneidungen, Frau Petry. Sie hätten im Gegensatz zu mir jeder Verschärfung des Asylrechts zugestimmt. Laut Programm will die AfD, dass Deutschland sich in der Einwanderungspolitik an Kanada und an den Vereinigten Staaten von Amerika orientiert. Sie wollen also gezielt Hochqualifizierte aus ärmeren Ländern abwerben. Das ist das genaue Gegenteil von Hilfe. Dass Sie den Menschen in ihren Herkunftsländern helfen wollen, habe ich bislang auch nicht als AfD-Position wahrgenommen. Ebenso wenig, dass Sie die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern wollen. Stattdessen lese ich, dass Ihr Parteifreund Alexander Gauland die "menschliche Überflutung“ bei uns eindämmen will. Solche Worte finde ich menschenverachtend.

Petry: Offenbar kommen unsere Positionen in der Öffentlichkeit nicht an. Die AfD setzt sich für Flüchtlingszentren ein, die von den Vereinten Nationen menschenwürdig geführt werden. Das entspricht aber nicht dem Klischee und wird selten transportiert. Natürlich verursachen Aus- und Einwanderung soziale Folgen und Probleme im Heimatland und im Zielland, aber die Alternative zur geregelten Einwanderung kann doch nicht illegale und ungeregelte Einwanderung sein. Es hat in Deutschland viele Belege erfolgreicher Einwanderung gegeben, und zwar dann, wenn sie nicht durch falsche Anreize des Sozialstaats verzerrt wird und wenn die Regeln klar waren. In diesem Sinne sind wir explizit für Einwanderung.

Wagenknecht: Wir haben heute einen großen Niedriglohnsektor mit Leiharbeit, Dauerbefristungen, Minijobs. Viele Flüchtlinge werden gerade in diesem Sektor Arbeit suchen und verstärken damit den Druck auf die Löhne. Ähnlich ist es bei den Wohnungen. Da suchen die Flüchtlinge vor allem in jenen Stadtvierteln, in denen die ohnehin schon Ärmeren leben. Wenn dann Mieten steigen, schürt das Stimmung gegen Flüchtlinge. In Wahrheit ist das Folge einer Politik, die den Arbeitsmarkt dereguliert und den sozialen Wohnungsbau weitgehend eingestellt hat.

Petry: Jahrzehnte wachsender Regulierung und Umverteilung haben die Spaltung in der Gesellschaft, auch die Verarmung der Mittelschicht, nicht verhindern können. Anstatt auf mehr Umverteilung setzen wir daher auf mehr Bildung und die Befähigung des Bürgers, den Staat zu kontrollieren und zu kritisieren. Natürlich muss den wirklich Schwachen geholfen werden, deshalb setzen wir uns für ein aktivierendes Grundeinkommen ein. Aber ich halte es für eine Utopie, dass mehr staatliche Umverteilung den Schwächsten wirklich hilft.

Wagenknecht: Höhere Löhne wären tatsächlich besser als die staatliche Subventionierung von Niedriglöhnen durch Hartz-IV-Aufstockerleistungen. Auch andere Subventionen für große Unternehmen kann man sich sparen. Aber wenn Sie, Frau Petry, sich in Ihrem Programm auf die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft berufen, dann sollten Sie wissen: Diese Ökonomen wollten einen starken Staat, der unserer Wirtschaft Regeln setzt und soziale Sicherheit garantiert. Sie dagegen wollen einen schwachen Staat und mehr Privatisierung, im Ergebnis wachsende Marktmacht, Ausbeutung und Ungleichheit. Setzt man Ihr Programm um, Frau Petry, dann würde die gesellschaftliche Mitte weiter geschwächt und würden die Ärmeren noch ärmer.

Warum sind dann bei den jüngsten Wahlen so viele Arbeiter und Arbeitslose von der Linken zur AfD übergelaufen?

Wagenknecht: Die AfD wird ja nicht wegen ihres Programms gewählt, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien, aus Wut darüber, dass in diesem Land seit Jahren gegen die Interessen der Mehrheit regiert wird. Und wir Linken haben den Fehler gemacht, den falschen Eindruck zuzulassen, wir stünden hinter Frau Merkels Chaospolitik.

"Grenzen offen für alle“, heißt es in Ihrem Programm.

Wagenknecht: Das ist eine gute Forderung für eine Welt der Zukunft, in der die Menschen überall in Wohlstand leben. Niemand will heute die Grenze zu Frankreich oder Österreich schließen. Aber offene Grenzen haben Voraussetzungen.

Petry: Unkontrollierte Binnengrenzen funktionieren nur, wenn es eine kontrollierte europäische Außengrenze gibt. Es ist schön, dass Sie persönlich Voraussetzungen an offene Grenzen knüpfen, Ihre Partei vertritt Ihre differenzierte Position nicht und fordert offene Grenzen für alle. So kann ein Sozialstaat und auch die Hilfe für sozial Schwache nicht funktionieren, im Übrigen auch nicht mit dem irrsinnig teuren Euro-Experiment.

Wagenknecht: Ich bin verblüfft. In Ihrem Programm, und das ist kein Zufall, kommt der Begriff Sozialstaat nicht ein einziges Mal vor. Ungleichheit, Armut, Niedrigrenten sind kein Thema. Petry: Sehen Sie: Wir sollten mehr miteinander reden.

Wagenknecht: Auch ich halte den Euro für eine Fehlkonstruktion. Aber für die Agenda 2010, für Niedriglöhne und Sozialabbau in Deutschland ist er nun wirklich nicht verantwortlich.

Petry: Ich kann mit dem Dissens leben, aber es ist unbestritten, dass die Euro-Einführung in Deutschland zu massivem Kapitalabfluss führte. Daher konnte die jahrzehntelang erfolgreiche Strategie, hoch investiv und innovativ zu produzieren, nicht mehr aufrechterhalten werden. Stattdessen musste billiger produziert werden, die Folge war unter anderem die Agenda 2010.

Wagenknecht: Gerade diese Strategie des Lohndumpings, die Ihre Partei unterstützt, spaltet Europa. Lohnsenkungen müssen Sie machen, wenn die Währung zu hart ist. Für Deutschland ist der Euro aber zu weich. Der Druck, über den Sie reden, trifft die Südeuropäer.

Trotzdem bleibt es dabei: Sie beide halten den Euro für eine Fehlkonstruktion?

Wagenknecht: Ein gemeinsamer Wahrungsraum setzt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik voraus - und Löhne, die sich ähnlich entwickeln. Stattdessen ging es im Euroraum immer weiter auseinander. Deutschland hatte noch nie so hohe Exportüberschüsse, die Südländer noch nie so hohe Defizite mit Jugendarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung. Der Euro wirkt antieuropäisch, weil er Europa spaltet. Da bin ich einer Meinung mit den Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Paul Krugman - oder dem späten Helmut Schmidt.

Aber Sie wollen nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa voran, sondern zurück zum Nationalstaat. Warum?

Wagenknecht: Ich will mehr Demokratie. Die Demokratie funktioniert aber nur unter bestimmten Bedingungen. Es muss eine gemeinsame Öffentlichkeit geben und Parteien mit einer bestimmten Ausrichtung. All das fehlt auf EU-Ebene. Es ist kein Zufall, dass sich an der Wahl des EU-Parlaments kaum ein Drittel der Bürger beteiligt. Die EU-Kommission steht außerhalb jeder demokratischen Kontrolle. Die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Staaten ist eine Frage der Demokratie - nicht Ausdruck eines muffigen Nationalismus, der ein biologistisch definiertes Volk gegen andere Kulturen abschotten will.

Petry: Diese Kritik an der EU und das Bekenntnis zum Nationalstaat teilen wir. Demokratie und Transparenz funktionieren in kleinen Verbünden besser als in großen, weil nur dann der Bürger weiß, warum welche Entscheidung getroffen wird, weil es in seiner Lebenswelt passiert. Außerdem hat die EU die Prinzipien von Freiheit und Wettbewerb und Solidarität für die Harmonisierung eingetauscht und zerstört damit die Vielfalt Europas.

Bei Ihnen, Frau Petry, hört sich das Lob des Nationalstaats immer einen Tick nationalistischer und völkischer an als bei Frau Wagenknecht. Ist das ein Rezeptionsproblem?

Petry: Unser gesamtes Parteiensystem ist seit Jahrzehnten immer weiter nach links gerückt. Hinzu kommt, dass in Deutschland das Thema von Nation und Volk verständlicherweise nach der Nazi-Zeit ein schwieriges geworden ist. Ein gesundes Verhältnis zum eigenen Staat ist patriotisch und dezidiert zu trennen vom Nationalismus, den wir nicht befürworten. Von links hören wir dennoch: Hier kommen die neuen Nazis. Aber solange sich alle Politiker gern als Vertreter von Volksparteien sehen, wird man den Begriff Volk in den Mund nehmen dürfen.

Wenn Sie von Patriotismus reden, meinen Sie aber mehr als Verfassungspatriotismus. Was ist das für Sie?

Petry: Das genaue Gegenteil der immer wieder zur Schau gestellten nationalen Selbstbezichtigung. Denken Sie an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, wo zahlreiche Politiker beim ersten Fähnchen schon wieder vor einem neuen Nationalismus gewarnt haben. Oder die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth, die hinter "Deutschland ist Scheiße“-Plakaten herläuft. Warum darf man unser Land nicht gut finden und stolz darauf sein?

Wagenknecht: Es ist doch ein Witz, dass unser Parteiensystem nach links gerückt ist. Das Problem ist im Gegenteil, dass SPD und Grüne inzwischen ebenso für Sozialabbau stehen wie CDU und FDP. Niemand sollte ein Problem damit haben, dass Menschen sich freuen, wenn Deutschland im Fußball gewinnt. Aber es gibt viele Äußerungen aus Ihrer Partei mit einer klaren nationalistischen Note, die mehr als unangenehm ist. Ihr Abgeordneter im Europaparlament ist in der gleichen Fraktion wie der Front National, Ihr niedersächsischer Kollege warnt davor, dass die Deutschen in einem "europäischen Brei“ aufgehen.

Petry: Sagen Sie, dass mehr als 30 Prozent der Franzosen in Ihren Augen nationalistisch sind? Und übrigens: Gegen den europäischen Superstaat sind Sie doch auch?

Wagenknecht: Aber anders als Sie nicht mit einem Ansatz, der auf Ausgrenzung und Abgrenzung beruht. Der Front National steht für Fremdenfeindlichkeit pur, auch wenn das bei weitem nicht für alle seine Wähler gilt.

Petry: Wir sind in dieser Frage nur wesentlich entspannter als Sie, Frau Wagenknecht.

Sie sagen beide: Uns würde es besser gehen ohne gemeinsame Währung, Freihandel, internationale Konzerne. Das ist doch nationalistisch und protektionistisch, oder nicht?

Petry: Was die Europäische Union unter dem Etikett des Freihandels betreibt, das ist doch purer Protektionismus! Unsere Kritik an Ceta und TTIP ist nicht, dass es Freihandel ermöglicht. Sondern dass die Schiedsgerichte die Demokratie aushebeln. Großkonzerne haben immer die Mittel, sich auch mit solchen Gesetzen zu arrangieren. Der Mittelstand kann das nicht. Außerdem wollen wir Freihandel nicht nur mit einigen wenigen Ländern. Wir sind für eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Portugal, nicht mir einseitig mit Nordamerika. Es muss einen Ausgleich der Kräfte geben.

Würden Sie TTIP unterschreiben, wenn die Schiedsgerichte weg wären?

Petry: Nein!

Dann reden Sie nur von Freihandel und sind in Wirklichkeit protektionistisch?

Petry: Das Problem ist das Kleingedruckte. Bundestag und Europäisches Parlament entscheiden gar nicht darüber, was tatsächlich im Abkommen steht. Wir wünschen uns ein Freihandelsabkommen, das transparent ist und auf wenige Din-A4-Seiten passt.

Wagenknecht: Was unter Ceta und TTIP verhandelt wird, sind keine Freihandelsabkommen, sondern Knebel- und Konzernschutzverträge. Um Zölle geht es doch gar nicht. Natürlich bin ich dafür, dass man zwischen entwickelten Volkswirtschaften möglichst frei Handel treiben kann. Aber was ich auf gar keinen Fall will: dass Europa seine Umwelt- und Verbraucherschutzstandards dem amerikanischen Niveau anpasst und sein Vorsorgeprinzip aufgibt. Und dass Konzerne über eine Paralleljustiz Staaten verklagen können.

Was ist an Großkonzernen schlecht, die sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze bieten?

Petry: Großkonzerne sind viel anfälliger für Korruption. Und für den Staat ist es immer bequemer, mit wenigen Großkonzernen zu verhandeln, als sich mit einem Heer von Mittelständlern auseinanderzusetzen. Eine breitgefächerte Wirtschaft ist aber krisenfester und demokratischer. Bei den Steuern und Abgaben haben wir jetzt schon ein Ungleichgewicht zwischen großen und kleinen Firmen. Das würde durch die Freihandelsabkommen verstärkt und schädigt den deutschen Mittelstand.

Wagenknecht: Das Hauptargument gegen die Konzerne können Sie bei Walter Eucken nachlesen, einem der Väter der Sozialen Marktwirtschaft: Es ist deren wirtschaftliche Macht.

Da müssen Sie sich schon entscheiden: Sind die Konzerne nun zu mächtig oder zu anfällig?

Petry: Beides ist richtig und widerspricht sich nicht.

Wagenknecht: Für mich ist das Hauptargument, dass diese Unternehmen zu viel Macht haben. Sie können sich die Politik kaufen. Sie können Zulieferer unter Druck setzen. Sie sind arrogant gegenüber Kunden. Wo Märkte monopolisiert sind, werden Serviceabteilungen weggespart. Das kann man nur verhindern, wenn Kartellgesetze Biss haben.

Wir haben doch ein Kartellamt!

Wagenknecht: Das Kartellrecht ist windelweich. Es gibt in Deutschland keine Möglichkeit, einen Monopolisten zu entflechten - was in den Vereinigten Staaten mit dem Sherman Act zumindest theoretisch möglich ist.

Welchen Konzern sollte man in Deutschland entflechten?

Wagenknecht: Vielleicht die Deutsche Bank? Im Ernst, die Macht der Internetgiganten ist doch unerträglich! Wir steuern in der digitalen Wirtschaft auf globale Monopolisten zu tun, die allen anderen ihre Konditionen diktieren - ob das Amazon ist, Google oder Apple.

Apple ist doch schon auf dem absteigenden Ast, wie man liest.

Wagenknecht: Oder wenn Bayer jetzt Monsanto übernimmt: Natürlich entsteht da ein Gigant. Und die Europäische Zentralbank ermöglicht mit ihrer Politik des billigen Geldes solche aberwitzigen Übernahmen. Das ist verrückt.

Petry: Wir wollen überflüssige staatliche Umverteilung und Bürokratie reduzieren. Damit wirtschaftliche Giganten nicht am Ende das Leben der Menschen diktieren, muss es einen funktionsfähigen Staat mit seinen Kernkompetenzen bei Grenzen und innerer Sicherheit geben. Zu den Kernaufgaben des Staates gehört auch die Infrastruktur. Man stelle sich nur vor, es hätte zu Zeiten der industriellen Revolution eine komplett privatisierte Bahn gegeben. Es wäre niemals zum Aufbau eines Bahnnetzes gekommen.

Die ersten Bahngesellschaften waren fest alle Privatunternehmen.

Petry: Richtig, aber es gab keinen Monopolisten, und es war der Wille des Staates, diese Infrastruktur aufzubauen. In der heutigen Zeit ist der Erhalt von Infrastruktur nur noch eine Kostenfrage, und oft verliert man die gesellschaftliche Aufgabe aus dem Auge. Deswegen sind wir mitnichten dafür, den Staat abzuschaffen.

Wagenknecht: In Ihrem Programm wollen Sie den Staat auf Minimalfunktionen reduzieren.

Petry: Die Minimalfunktionen sind wichtig genug. Wir wollen einen funktionsfähigen, schlanken Staat.

Nehmen wir ein Beispiel, das nicht ganz unrealistisch ist: Wenn die Deutsche Bank pleitegeht, soll der Staat dann helfen?

Wagenknecht: Ich hielte es für fatal, wenn wir bei der Deutschen Bank den alten Fehler wiederholen und Finanzinvestoren mit Steuergeld herauskaufen. Nein, die Zockerabteilungen müssen verkauft oder abgewickelt werden, für die Verluste müssen Eigentümer und Gläubiger haften, ausgenommen Sparer und Kontoinhaber. Ein Unternehmen hat ganz schnell mehr als 100 000 Euro auf seinem Girokonto, einfach wegen laufender Zahlungen. Dieses Geld darf nicht herangezogen werden.

Aber die Aktionäre müssen zahlen?

Wagenknecht: Die Aktionäre und die Fremdkapitalgeber. Und dann muss man die Bank verkleinern und auf ein solides Geschäftsmodell reduzieren: Kreditbank statt Zockerbude.

Petry: Das sagt die AfD seit ihrer Gründung. Wem gehört die Deutsche Bank heute noch? Es ist eine globalisierte Bank mit Eigentümern auf der ganzen Welt. Wahrend der ganzen Finanz- und Euro-Krise haben wir keine Staaten oder Bürgereinkommen gerettet, sondern lediglich Banken.

Frau Petry, wenn Sie gegen unsinnige Umverteilung sind: Was verstehen Sie unter sinnvoller Umverteilung?

Petry: Sinnvoll sind die Entlastung der Familien von Steuern und Sozialabgaben und gerechte Löhne, die von Unternehmen selbsttätig gezahlt werden können. Wir sind für Renten, von denen die Leute leben können, und wir kritisieren, dass immer weniger Menschen in die Rentenversicherung einzahlen.

Zurzeit werden die Beitragszahler doch immer mehr, wegen der guten Wirtschaftslage?

Petry: Aber was sind das denn für Arbeitsplätze? Aufstocker, Mindestlohnempfänger? Die Zahl der Vollzeitbeschäftigen ist trotzdem gesunken. Tatsache ist, dass wir zu wenige Einzahler und zu wenige Kinder haben. Wenn das Rentenniveau auf kaum mehr als 40 Prozent des Nettoeinkommens sinkt, ist das kein Ausweis für einen funktionierenden Sozialstaat.

Wagenknecht: Da habe ich schon Anderes von Ihnen gehört. Sie waren dafür, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und haben gesagt, man wird "über eine weitere Kürzung der Renten reden müssen“.

Petry: Das stimmt nicht. Sie müssen das Interview im Zusammenhang lesen.

Wagenknecht: Wollen Sie sich jetzt korrigieren?

Petry: Das muss ich gar nicht korrigieren, denn ich habe lediglich den Zustand beschrieben, wenn sich das aktuelle Rentensystem sich nicht ändert.

Wagenknecht: Das heißt, Sie wollen auch höhere Renten, wie wir?

Petry: Wir brauchen wieder eine gesunde Basis von Einzahlern. Zugegeben, die AfD hat noch kein fertiges Rentenkonzept vorgelegt. Wir arbeiten Heber ein bisschen länger daran, als ein halbfertiges Modell vorzulegen. Aber wir halten den Schweizer Weg für sinnvoll, auch Menschen mit höherem Einkommen in die Rentenversicherung einzahlen zu lassen.

Das wäre also das linke Konzept einer Bürgerversicherung?

Petry: Ich bitte einfach darum, uns bei dem Thema noch etwas Zeit zu geben.

Wagenknecht: Trotzdem gibt es da einen Widerspruch. Wenn man sagt, das tun wir ja auch, Niedrigverdiener sollen entlastet werden - dann müssen die Einnahmeausfälle irgendwie ausgeglichen werden. Dazu sagen Sie nichts. Wir wollen für Multimillionäre eine Vermögensteuer, und wir wollen höhere Erbschaftsteuern. Wenn man nur Entlastung anstrebt und niemanden zusätzlich belastet, dann ist am Ende weniger Geld da, etwa für Investitionen in die Infrastruktur oder Bildung.

Den Spitzensteuersatz würden Sie auch gern erhöhen?

Wagenknecht: Von 42 auf 53 Prozent, wie zu Zeiten Helmut Kohls. Auch Kapitalerträge müssten mit dem persönlichen Steuersatz versteuert werden. Einkommen bis 6000 Euro im Monat würden endastet, darüber wird es teurer.

Petry: Wir wollen keine Steuererhöhungen und versprechen auch keine Steuersenkungen. Wir wollen den wichtigsten Grundsatz umsetzen: ein einfaches und transparentes Steuersystem, mit einem Stufentarif und viel weniger Ausnahmen. Das wäre gerecht.

Wagenknecht: Das wären Steuersenkungen, und zwar vor allem für Besserverdiener, das können Sie auch so sagen.

Petry: Ein Steuersystem, das der einfache Bürger nicht versteht, kann für ihn nicht besser sein. Bei einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent, der nur auf dem Papier steht und viele Schlupflöcher lässt, zahlen Großverdiener mit Steuerberater in der Realität auch nur 25 oder 30 Prozent.

Welche Wähler haben Sie im Blick die "kleinen Leute“, wie man sagt?

Wagenknecht: Wir wollen Menschen aus allen Schichten erreichen. In erster Linie kümmern wir uns natürlich um Arbeitnehmer, besonders um prekär Beschäftigte. Aber auch kleineren und mittleren Unternehmen wird heute vielfach das Leben schwergemacht, das wollen wir ändern.

Petry: Es wäre falsch, die Wählerklientel von vornherein einzuschränken. Als neue Partei möchten wir Etiketten der Vergangenheit nicht benutzen. All jene können AfD wählen, denen Rechtsstaat, Transparenz und Bürgerbeteiligung wichtig sind. Es gibt vor allem keine Wahlbürger erster und zweiter Klasse.

Und nach der Wahl könnten Sie beide problemlos miteinander koalieren?

Wagenknecht: Wie bitte? Die AfD will einen schwachen Sozialstaat, niedrige Löhne und Renten, ein ungerechtes Steuersystem und ist nationalistisch und in Teilen rassistisch.

Petry: Die Frage nach den Koalitionen führt in die falsche Richtung, vor allem, weil feste Koalitionen Anträge nur deshalb ablehnen, weil sie von der falschen Seite kommen. Eine punktuelle Zusammenarbeit in Sachfragen bringt für die Bürger viel bessere Ergebnisse.

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