Griechenland geht uns alle an

Kommentar von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Tageszeitung junge Welt vom 30.04./01.05.2015

30.04.2015

Seit Jahren dient Griechenland den Herrschenden als Versuchslabor: Getestet wird, in welchem Umfang man in einem demokratischen Land Löhne und Renten senken, Arbeitsplätze vernichten und soziale Infrastruktur kaputtsparen kann. Die Bilanz dieses Experiments ist verheerend: Mehr als ein Viertel aller Griechen ist arbeitslos, etwa ein Fünftel hat nicht mehr genug Geld, um die eigene Wohnung, Strom oder Nahrungsmittel zu bezahlen. Ein Drittel der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung mehr. Das gesamte Gesundheitssystem liegt am Boden, da massenhaft Ärzte und Pflegekräfte entlassen sowie Kliniken geschlossen wurden.

Seit Januar gibt es in Griechenland eine Regierung, die diese Katastrophe beenden will. Doch diese stößt in Berlin und Brüssel auf massive Ablehnung, nicht mal über kleine Abstriche an den Kürzungsdiktaten will man mit ihr verhandeln. Lieber schickt man Griechenland in den Staatsbankrott in der Hoffnung, dass die Syriza-Regierung darüber stürzt. Damit wären aber nicht nur zig Milliarden an Steuergeldern endgültig verloren. Ein Scheitern von Syriza würde der Demokratie schweren Schaden zufügen und Wasser auf die Mühlen der Rechten leiten. Ein Scheitern von Syriza wäre ein Sieg für all jene, die auch in Deutschland das Streikrecht und andere Grundrechte schleifen wollen. Syriza hat die Tür für eine europäische Politik im Interesse der Lohnabhängigen einen Spaltbreit aufgestoßen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie wieder zugeschlagen wird!

Solidarität mit Griechenland muss allerdings nicht bedeuten, dass man für neue „Rettungspakete" eintritt. Schließlich war es keine Hilfe, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem bankrotten kleinen Land den größten Rettungskredit in der Geschichte aufzunötigen, nur um große Banken und reiche Oligarchen vor Verlusten zu bewahren. Griechenland braucht keine neuen Kredite, die ohnehin nur in den Schuldendienst fließen. Griechenland braucht einen Schuldenschnitt! Ohne diesen werden die Schulden weiter als Hebel genutzt, um immer neue Sozialkürzungen zu erpressen und die Bevölkerung verschiedener Länder gegeneinander auszuspielen.

Solidarität mit Griechenland bedeutet, der Hetze gegen angebliche „Griechen-Raffkes" entgegenzutreten und Lügen über die Syriza-Regierung als solche zu entlarven. Sie bedeutet, dass man nicht länger tatenlos zusieht, wenn Gewerkschaften entrechtet, Tarifverträge abgeschafft und grundlegende Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Solidarität bedeutet aber auch, in Deutschland bessere Löhne, Renten und Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Wenn es hierzulande nicht gelingt, die Rente mit 67, die entwürdigenden Hartz-Gesetze und die massive Absenkung des Rentenniveaus rückgängig zu machen, haben auch die Griechinnen und Griechen wenig Chancen, weitere Renten- und Sozialkürzungen abzuwehren.