Sahra Wagenknecht

"Wir brauchen Märkte"

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen im SPIEGEL am 31.12.2012

03.01.2013

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, bislang gaben Sie sich als politische Enkelin Rosa Luxemburgs aus; neuerdings berufen Sie sich unentwegt auf den CDU-Politiker Ludwig Erhard, den ersten Wirtschaftsminister der Bundesrepublik. Wie kommen Sie dazu?

Wagenknecht: Das große Versprechen Ludwig Erhards und der sozialen Marktwirtschaft war: Wohlstand für alle. Dieses Versprechen ist gebrochen worden. Agenda 2010, Leiharbeit, Befristungen, Niedriglöhne, Zerschlagung der gesetzlichen Rente bedeuten weniger Wohlstand für die Mehrheit.

SPIEGEL: Erhards Ansichten sind von denen Rosa Luxemburgs aber ungefähr so weit entfernt wie der Nord- vom Südpol. Wie kommen Sie darauf, ausgerechnet einen der glühendsten Verfechter des Neoliberalismus für Ihre Thesen einzuspannen?

Wagenknecht: Der damalige Neoliberalismus war das Gegenteil des stumpfsinnigen Glaubens an den Segen deregulierter Märkte, den man heute mit diesem Begriff verknüpft. Ökonomen wie Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack waren überzeugt, dass der Markt nicht alles richten kann, der Staat muss die Regeln und den Ordnungsrahmen setzen.

SPIEGEL: Wenn Erhard so links dachte, wie Sie behaupten: Warum durfte er dann in der DDR weder gelesen noch gelehrt werden?

Wagenknecht: In der DDR wurde leider vieles nicht gelesen und gelehrt, was wichtig war. Die Ordoliberalen waren der heutigen Mainstream-Ökonomie in vieler Hinsicht voraus. Ihre zentrale These war: Wirtschaftliche Macht kann man nicht kontrollieren, man muss verhindern, dass sie entstehen kann. Denn ist sie erst einmal da, kauft sie sich die Politik, und dann ist es vorbei mit Demokratie und Marktwirtschaft.

SPIEGEL: Und jetzt soll ausgerechnet die CDU der fünfziger Jahre das ideologische Leitbild der heutigen Linkspartei abgeben. Hat der moderne Sozialismus keine eigenen Vordenker?

Wagenknecht: In der CDU der 50er Jahre lebte noch das Ahlener Programm, das den Kapitalismus grundsätzlich infrage stellte. Natürlich haben wir von Marx bis Gramsci auch andere Traditionen. Woran wir uns aber auch heute noch orientieren sollten, ist der Anspruch der damaligen Politik. Die Linke will "Wohlstand für alle" und steht damit im heutigen Parteienspektrum ziemlich allein.

SPIEGEL: Haben Sie das Buch, das Erhard unter diesem Titel veröffentlicht hat, überhaupt gelesen?

Wagenknecht: Das sollten Sie lieber mal Frau Merkel oder Herrn Rösler fragen.

SPIEGEL: Wir fragen aber Sie, weil das, was Erhard schreibt, in nahezu allen Fragen den Positionen der Linkspartei diametral entgegensteht. Sie drehen Erhard das Wort im Munde herum.

Wagenknecht: Diesen Vorwurf sollten Sie lieber den Bankenrettern und Lohndrückern in der heutigen CDU machen, von der FDP ganz zu schweigen.

SPIEGEL: Dann verraten Sie uns bitte, worauf Sie Ihre Argumentation stützen. Gibt es eine Lieblingsstelle in Erhards Buch, die Ihnen besonders wichtig ist, oder ein Zitat, das Sie besonders treffend finden?

Wagenknecht: Sehr schön ist die klare Aussage von Erhard, dass wir nur dort von sozialer Marktwirtschaft reden können, wo die Löhne im Gleichklang mit der Produktivität steigen. Wäre das eingelöst worden, müsste das deutsche Lohnniveau heute um mindestens 12 Prozent höher sein. Überzeugend finde ich auch seine Polemik gegen den Nachtwächterstaat und seine Forderung, eine soziale Struktur zu überwinden, bei der eine schmale, extrem reiche Oberschicht einer breiten Unterschicht gegenübersteht.

SPIEGEL: Uns sind in dem Buch ganz andere Stellen aufgefallen. Ludwig Erhard schreibt zum Beispiel: "Es ist leichter, jedem einzelnen aus einem größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen." Wie passt das zu Ihrer Forderung, den gesellschaftlichen Reichtum in Deutschland anders zu verteilen und die Steuern drastisch zu erhöhen?

Wagenknecht: Je ungleicher die Verteilung, desto langsamer wächst der Kuchen. Weil wir sinkende Renten und immer mehr miese Arbeitsverhältnisse haben, können sich die Leute viele Dinge nicht mehr leisten. Deshalb ist Deutschland so abhängig vom Export. Steigen die Einkommen der Mehrheit, wird der Binnenmarkt gestärkt und dann verbessern sich auch die Chancen, dass der Kuchen wieder größer wird.

SPIEGEL: Erhard hat den Zusammenhang von Wachstum und Verteilung aber genau entgegengesetzt gesehen. Er schreibt: "Diejenigen, die ihre Aufmerksamkeit den Verteilungsproblemen widmen, werden immer wieder zu dem Fehler verleitet, mehr verteilen zu wollen, als die Volkswirtschaft nach Maßgabe der Produktivität herzugeben in der Lage ist."

Wagenknecht: Natürlich kann man nicht mehr verteilen, als zu verteilen ist. Das ist eine Banalität.

SPIEGEL: Gut, dass Sie das mal so deutlich sagen.

Wagenknecht: Zu Erhards Zeit lag der Spitzensteuersatz bei weit über 50 Prozent, die Unternehmensteuern waren hoch und Verbrauchsteuern kaum vorhanden. Die Banken waren streng reguliert und große Teile der Daseinsvorsorge befanden sich in kommunaler Hand.

SPIEGEL: Zu Erhards Zeiten wurden die vorher regulierten Preise freigegeben und der Staatsanteil an der Wirtschaft lag viel niedriger als heute. Erhard war überzeugt, dass die Marktwirtschaft jeder Form von Zwangswirtschaft überlegen ist.

Wagenknecht: Wer will eine "Zwangswirtschaft"? Natürlich braucht eine moderne Gesellschaft Märkte, aber bitte nur da, wo sie funktionieren. Nehmen sie die Energiewende. Was hat es mit Marktwirtschaft zu tun, wenn die Regierung den Netzbetreibern neun Prozent Rendite garantiert, und die Verbraucher sogar noch zwingt, deren Versagen beim Netzausbau zu bezahlen? Was wir heute haben, ist kein Energiemarkt, sondern die unverschämte Abzocke durch ein privates Kartell.

SPIEGEL: Da würde Ihnen Erhard wahrscheinlich recht geben, aber er würde ganz andere Schlüsse daraus ziehen. Er würde dem Strommarkt mehr privaten Wettbewerb verordnen und die politische Lenkung zurückfahren.

Wagenknecht: Der Ordoliberale Müller-Armack hat sich klar für öffentliche Unternehmen überall dort eingesetzt, wo natürliche Monopole existieren. In der Strombranche zum Beispiel gibt es keinen vernünftigen Wettbewerb, sowenig wie bei der Bahn, der Wasserversorgung oder im Gesundheitswesen. Da sind öffentliche Versorger viel sinnvoller als renditeorientierte Unternehmen.

SPIEGEL: Was würden Sie von einem Autor halten, der über die Sozialpolitik schreibt: "Versorgungsstaat - der moderne Wahn"?

Wagenknecht: Ist das auch von Erhard?

SPIEGEL: In der Tat, aus seinem Buch "Wohlstand für alle", Seite 245.

Wagenknecht: Die Frage ist, was man unter einem "Versorgungsstaat" versteht. Ihnen ist offenbar jedes Zitat recht, um Erhard zum Apologeten eines tumben Neoliberalismus zu machen. Das widerspricht aber schlicht seiner Politik.

SPIEGEL: Er hat aber so gedacht. Würde der Sozialstaat zu sehr ausgebaut, so hat er geschrieben, könne man von den "Menschen nicht verlangen", dass sie das nötige Maß "an Kraft, Leistung, Initiative entfalten".

Wagenknecht: Kein Staat kann dem Menschen volle Sicherheit geben. Der Staat kann nicht verhindern, dass ich krank werde. Er kann allerdings dafür sorgen, dass ich eine bestmögliche Behandlung erhalte, und zwar unabhängig von meinem Einkommen.

SPIEGEL: Erhard war aber der Auffassung, dass der Sozialstaat bei steigendem Wohlstand zurückgefahren werden kann. Er schreibt: "Tatsächlich sind umso weniger sozialpolitische Eingriffe notwendig, je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik gestaltet werden kann."

Wagenknecht: Klar, wenn die Wirtschaft floriert, sinken die Ausgaben für Arbeitslose. Ohne Niedriglöhne könnten wir uns auch die perversen Hartz IV-Aufstockerleistungen sparen.

SPIEGEL: Der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und Erhard ist: Sie trauen dem Staat sehr viel zu, Erhard nicht. Bei ihm heißt es: "Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewusstsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden." Wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung, eine "neue Eigentumsordnung" zu schaffen?

Wagenknecht: Schon der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter unterschied zwischen Unternehmern und Kapitalisten. Der Unternehmer ist jemand, der eine gute Idee hat, etwas Neues aufbaut und so den Wohlstand steigert. Für den Kapitalisten dagegen ist der Betrieb nichts als ein Anlageobjekt, das eine möglichst hohe Rendite abwerfen soll. Das Schlimme am heutigen Wirtschaftssystem ist, dass es die Kapitalisten fördert und den Unternehmern das Leben schwer macht.

SPIEGEL: Das wollen Sie ändern: Alle Unternehmer, deren Firma mehr als eine Million Euro wert ist, sollen jährlich fünf Prozent ihres Vermögens an die Belegschaft abführen. Und wenn sie sterben, wird der Betrieb nicht vererbt, sondern den Beschäftigten übergeben. Glauben Sie wirklich, dass Erhard einen solchen Vorschlag unterstützt hätte?

Wagenknecht: Heute werden kleine und mittlere Unternehmen oft genug durch Kreditverweigerung oder Wucherzinsen von den Banken enteignet. Das will ich ändern, indem die Banken endlich wieder auf ihre Aufgabe als Finanziers der Realwirtschaft verpflichtet werden. Die Ablehnung großer Erbschaften ist eine alte liberale Tradition.

SPIEGEL: Viele Unternehmer bauen ihren Betrieb auch deshalb auf, weil sie ihn vererben wollen. Sie dagegen wollen sie stückweise enteignen.

Wagenknecht: Je größer das Unternehmen, desto mehr lebt es auch von der Leistung und Kreativität seiner Beschäftigten. Sie zu beteiligen, hat nichts mit Enteignung zu tun. Enteignung - nämlich der Beschäftigten! - ist eher, wenn Erben das Unternehmen an einen Private-Equity-Hai verkloppen oder nach Rumänien verlagern.

SPIEGEL: Warum verstecken Sie sich hinter Erhard, anstatt geradeheraus zu sagen, dass Sie in Deutschland eine neue Form von Planwirtschaft einführen wollen?

Wagenknecht: Sie sollten Ihre Klischees nicht immer mit der Realität verwechseln. Mein Ziel ist nicht die Planwirtschaft, sondern der kreative Sozialismus.

SPIEGEL: Kreativ erscheint uns vor allem, dass Sie für Ihren Sozialismus ausgerechnet Ludwig Erhard in Anspruch nehmen.

Wagenknecht: Wer heute Wohlstand für alle will, muss den Kapitalismus infrage stellen.

SPIEGEL: Das entsprechende Kapitel Ihres Buches heißt "Erhard reloaded"

Wagenknecht: Es geht um den Gründungsanspruch der Bundesrepublik. Damals glaubten die Menschen, dass es ihren Kindern einmal besser gehen werde. Dem heutigen Kapitalismus traut das niemand mehr zu. Ich will eine Gesellschaft, wo die Menschen wieder mit Zuversicht in die Zukunft gucken können.

SPIEGEL: Sie meinen, wenn Erhard heute leben würde, wäre er in der Linkspartei?
Wagenknecht: Naja, er wäre bei uns mit seinen Ansprüchen jedenfalls am besten aufgehoben.

SPIEGEL: Erhard hatte mit Sozialismus nichts im Sinn. Er schrieb: "Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen wie Diktatur und Staatswirtschaft".
Wagenknecht: Erhard war gegen das sowjetische Modell der Nachkriegszeit. Dieses Modell ist Geschichte.

SPIEGEL: Und heute?

Wagenknecht: Heute brauchen wir eine neue Wirtschaftsordnung, wenn wir "Wohlstand für alle" einlösen wollen.

SPIEGEL: Frau Wagenknecht, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.