Sahra Wagenknecht

Wohlstand für alle - ist das neoliberal?

Replik auf Ulrike Hermann, erschienen im Neuen Deutschland am 22.09.2012

23.09.2012
Sahra Wagenknecht

Im »nd« gab es eine mehrteilige kritische Debatte zu meinen wirtschafts- und finanzpolitischen Thesen, die von einem Beitrag der Wirtschaftskorrespondentin der »taz«, Ulrike Herrmann, eröffnet wurde. Da Diskussion und Kritik zu einer Klärung von Positionen beitragen können, ist das auf jeden Fall erfreulich. Auf einige der Kritikpunkte möchte ich am Beispiel der Wortmeldung von Frau Herrmann näher eingehen.

Unter der Überschrift »Warum nicht Roosevelt?« setzt sie sich kritisch mit meinen Vorschlägen zur Lösung der Finanzkrise auseinander. Dabei empfiehlt sie etwa, Bankenpleiten unbedingt zu vermeiden. Sie schreibt: »Wer die Realwirtschaft nicht gefährden will, muss die Banken retten. Für Wagenknecht ist das undenkbar, weil sie fürchtet, dass auch die Millionäre gerettet würden.«

Vielleicht wäre es nicht zu diesem Fehlurteil gekommen, wenn Ulrike Herrmann geschrieben hätte: »Wer die Realwirtschaft retten will, muss die Geldversorgung der Wirtschaft aufrecht erhalten.« Genau darum geht es: die Geldversorgung aufrecht zu erhalten, ohne die Millionäre zu sanieren. Dazu muss man nicht ganze Banken, die sich teilweise zu reinen Wettbuden entwickelt haben, mit Steuermilliarden stützen. Bei der Deutschen Bank etwa beträgt das Volumen gewerblicher Kredite gerade noch 4 Prozent der Bilanzsumme. Der Rest des Engagements gilt spekulativen Geschäften aller Art, für die der Steuerzahler nun wirklich nicht geradestehen muss.

Machen wir es praktisch: Es gab Gründe, 2008 das Pfandbriefgeschäft der HRE zu stützen. Aber dass der Steuerzahler auch die Gläubiger unbesicherter Anleihen der HRE - überwiegend große internationale Finanzhäuser! - vor Verlusten bewahren und sich selbst damit Milliardenkosten aufladen musste, war ganz und gar nicht zwingend, sondern allein im Interesse der Banker. Genau deshalb hat DIE LINKE die Rettung und Komplett-Verstaatlichung der Finanzmüllhalde HRE damals abgelehnt. Die IKB wiederum hätte man schlicht pleite gehen lassen können, wie in den Siebzigern die Herrstatt-Bank. Nichts wäre passiert, außer dass es dem damaligen Deutsche-Bank-Chef Ackermann die Gewinnbilanz vermasselt hätte.

Anderes Beispiel: Die spanischen Banken haben sich während der Immobilienblase verzockt und sollen jetzt mit 100 Milliarden Euro, für die der europäische Steuerzahler garantiert, saniert werden. Die Aktionäre spanischer Banken werden dabei teilweise zur Kasse gebeten. An der spanischen Immobilienblase haben aber auch viele internationale Banken mitverdient, die den spanischen Banken Kredit gegeben haben. Allein die Deutsche Bank hat in Spanien 14 Milliarden Euro im Feuer. Diese Banken werden jetzt auf Steuerzahler-Kosten von allen Verlusten freigekauft.

Für die Banken ist das natürlich ein wunderbares Modell: Solange die Party läuft, wird Rendite gemacht, werden Boni und Dividenden verteilt. Ist die Blase geplatzt, trägt der Steuerzahler die Kosten. Wer das als alternativlos darstellt, bedient, willentlich oder unwillentlich, die Interessen der Finanzmafia.

Auch eine Frau, die qua Amt der Absicherung der Sparer verpflichtet ist, die Chefin der amerikanischen Einlagensicherung, Sheila Bair, plädiert übrigens vehement dafür, Banken pleite gehen zu lassen. Darauf hat der amerikanische Ökonom Michael Hudson in einem in der »FAZ« veröffentlichten Gespräch hingewiesen: Die US-Regierung, so Hudson unter Bezugnahme auf die Position von Bair, »… hätte beispielsweise die Einlagen der sehr leichtsinnigen Citibank retten, die normalen Bankfunktionen bewahren und die problematischen Zweige der Bank schließen können. Verluste hätten nur die Zocker an der Spitze erlitten. Ähnlich bei AIG; die Regierung hätte das Unternehmen schließen und zugleich alle wichtigen Funktionen retten können.« Mit dem Weg, den die amerikanische Regierung stattdessen eingeschlagen hat, wurden nach Hudsons Meinung dagegen nur die Interessen des einen Prozents der Reichsten gerettet.

Tatsächlich hat die öffentliche Hand im Falle von Bankenpleiten die Verantwortung, die Spareinlagen (bis zu einer bestimmten Höhe), den Zahlungsverkehr und die Kreditversorgung der Wirtschaft abzusichern. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Um die Sparer ohne große öffentliche Kosten abzusichern, sollte ihnen gesetzlich der erste Zugriff auf die Vermögenswerte der Banken zugeschrieben werden. Dann tragen die Aktionäre und die Gläubiger der Banken, also andere Finanzinstitute und Hedge Fonds, den größten Teil der Restrukturierungslasten. Die Isländer sind so vorgegangen und haben dadurch ihre Bevölkerung vor gigantischen Schuldenbergen und Brüsseler Kürzungsdiktaten bewahrt.

Zur Lösung der Finanzkrise schlägt Frau Herrmann in ihrem Artikel zweitens vor, sich am New Deal des US-Präsidenten Roosevelt zu orientieren, zu dem auch eine drastische Steuerpolitik gehörte: »Die Einkommensteuer stieg auf 90 Prozent, die Erbschaftsteuer lag bei 77 Prozent. Gleichzeitig wurden die Zinsen unter die Inflation gedrückt, so dass sich das Geldvermögen schleichend entwertete. Die Reichen verloren ihre Macht und große Teile ihres Einkommens. Die Millionäre wurden also enteignet, obwohl sie ihr Eigentum offiziell behielten.« Gegen eine radikale Steuerpolitik ist nichts einzuwenden. Zumindest, sofern sie auch mit couragierten Maßnahmen gegen Steuerflucht verbunden wird. Beides fordert DIE LINKE. Ob Inflation bei Niedrigzinsen die Richtigen trifft, möchte ich dagegen bezweifeln. Wer wirklich reich ist, hat nicht nur Geld, sondern auch Unternehmensanteile, Rohstoffzertifikate, Gold und Immobilienvermögen. Deren Wert ist inflationsgeschützt, während der Kleinsparer schon heute leise weinend den Gegenwert seiner Sparbücher dahinschmelzen sieht. Der New Deal hat denn auch keineswegs zu einer egalitären, demokratischen Eigentums- und Vermögensverteilung in den USA geführt. Eine solche kann man nur erreichen, wenn die Eigentumsfrage tatsächlich angepackt wird.

Genau das ist auch der Kern meines Vorschlags, nach einem Schuldenschnitt der Staaten aus privaten Zockerbuden öffentlich-rechtliche Kreditinstitute zu machen. Es geht nicht um einen bewusst inszenierten Crash. Wenn Schulden und Vermögen über einen langen Zeitraum sehr viel schneller wachsen als die reale Wirtschaft - und das erleben wir jetzt seit über 20 Jahren - ist ein Crash über kurz oder lang unausweichlich. Die Frage ist, ob er politisch so gestaltet werden kann, dass er hauptsächlich die Reichen trifft und nicht Mittel- und Geringverdiener, und ob er als Einstieg in einen vernünftigen Umbau des Finanzsektors nach dem Vorbild der Sparkassen genutzt werden kann. Das ist das Ziel meines Vorschlags.

Ulrike Herrmann sieht also richtig, dass für mich die Eigentumsverhältnisse entscheidend sind. Sie schreibt über meinen Ansatz: »Wer das Kapital besitzt, besitzt die Macht und um diese zu brechen, verlangt sie einen extrem riskanten Schuldenschnitt … Auch die Ordoliberalen kreisten manisch um das Eigentum. Nur dass sie es bewahren wollten, während Wagenknecht es enteignen möchte.« An dieser Stelle unterlaufen Ulrike Herrmann allerdings gravierende Irrtümer. Die Ordoliberalen wollten das Eigentum nicht ausschließlich bewahren, sondern sie wollten eine Eigentumsstruktur, die wirtschaftliche Macht verhindert. Das ist etwas ganz anderes. So polemisiert der Ordoliberale Walter Eucken gegen eine Kartellpolitik, die sich nur auf den möglichen Missbrauch von Wirtschaftsmacht konzentriert: »Nicht in erster Linie gegen den Missbrauch vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern gegen die Entstehung der Machtkörper überhaupt. Sonst besitzt sie keine Chance, mit dem Problem fertig zu werden.« An dieser Stelle treffen sich linke Gesellschaftsentwürfe mit einem Kernanliegen der Ordoliberalen. Auch DIE LINKE will wirtschaftliche sprich demokratiegefährdende Macht verhindern.

Das von der »taz«-Autorin beklagte manische Kreisen um die Eigentumsfrage ist also in Wahrheit ein Kreisen um die Machtfrage, um die Frage, unter welchen Bedingungen eine demokratische Gesellschaft möglich ist. Wenn systemrelevante private Banken nach einem New Deal weitermachen, dann beginnt der Tanz von vorne.

DIE LINKE will allerdings nicht, wie Ulrike Herrmann glaubt und es mir vorwirft, enteignen, sondern sie will die alltägliche Enteignung rückgängig machen. Die Enteignung der Beschäftigten durch die wirtschaftlich Mächtigen besteht darin, dass letztere Reichtum und Vermögen dank der Arbeit anderer anhäufen. Diesen Prozess hat Marx zu Recht als Ausbeutung charakterisiert und seit der Agenda 2010 mit Leiharbeit, Niedriglöhnen und Minijobs ist diese Ausbeutung in Deutschland noch sehr viel rabiater geworden. Dieser Enteignung der Beschäftigten will DIE LINKE die Grundlage entziehen. Gemeinsam erarbeiteter Reichtum und gemeinsam erarbeitetes Vermögen muss auch gemeinsam durch die Belegschaften oder die öffentliche Hand verwaltet werden.

Während man sich über diese Frage mit Ulrike Herrmann ernsthaft auseinandersetzen kann, sind die Schlussfolgerungen, zu denen sie ihr offensichtliches Missvergnügen darüber treibt, dass ich Ludwig Erhard zitiere, wohl doch eher albern zu nennen. Sie schreibt: »Diese Strategie (Erhard zu zitieren) hat sich für sie gelohnt. ›Der Spiegel‹ nennt sie erzliberal, in Talkshows ist sie Dauergast und Gregor Gysi kann sich vorstellen, dass sie seine Nachfolgerin wird.« Da reibt man sich die Augen. So schlicht funktioniert Politik dann doch nicht.

Ulrike Herrmann stellt eher beiläufig fest, dass Erhard verlangt hat, die Löhne entsprechend der Produktivität steigen zu lassen. Ist es dann aber nicht richtig, diese Forderung den etablierten Parteien immer wieder vorzuhalten? Nicht nur CDU oder SPD haben begeistert Lohndumping betrieben, wie die »taz«-Autorin richtig anmerkt. Auch die Grünen, denen Frau Herrmann nahesteht, waren und sind beim Drücken der Löhne bis heute dabei. Die Zustimmung der Grünen zum Fiskalpakt ist Lohndumping. Die aktuelle Entwicklung der Löhne in Südeuropa ist verheerend. Die von Ulrike Herrmann eher nebenbei erwähnte Forderung Erhards, die Löhne entsprechend der Produktivität steigen zu lassen, hätte eine der Hauptursachen der Eurokrise gar nicht erst entstehen lassen, nämlich die Ungleichgewichte der Handelsbilanzen und die daraus resultieren Überschuldung der Importländer. Wir lernen, selbst der Säulenheilige des konservativen Bürgertums, Ludwig Erhard, vertritt bei der Lohnentwicklung eine überaus vernünftige Vorgehensweise.

Und wie steht es mit seinem Slogan »Wohlstand für alle«? Ist das der Inbegriff neoliberaler Politik - oder nicht vielmehr das genaue Gegenteil? Welche Partei, außer der LINKEN, vertritt heute eine Politik, die den Wohlstand der Mehrheit erhöhen statt absenken würde? Die Agenda 2010 war ein massiver Angriff auf den Wohlstand der meisten Menschen, ebenso wie es Merkels Politik heute in Europa ist. Ist es wirklich so abwegig, die CDU in diesem Punkt mit ihren eigenen früheren Ansprüchen zu konfrontieren? Setzt man sich deshalb gleich in Verdacht, Erhards Politik unkritisch gegenüberzustehen oder gar ins Lager der Ordoliberalen übergewechselt zu sein? Eine solche Interpretation ist absurd.

In Marxens Tradition zu stehen, heißt auch, sich die Souveränität zu bewahren, in anderen theoretischen und politischen Grundströmungen Bedenkens- und Anknüpfenswertes entdecken zu können.


Die »nd«-Debatte: Linke und Krise

»Warum nicht Roosevelt?«, hatte Ulrike Herrmann Ende August im »neuen deutschland« gefragt und kritisiert, »wie die Marxistin Sahra Wagenknecht auf den Ordoliberalen Ludwig Erhard hereinfällt«. Der Text hat eine breite Diskussion eröffnet: Albrecht von Lucke von den »Blättern für deutsche und internationale Politik« verteidigte Wagenknecht und lobte ihren Versuch, mit der »sozialen Marktwirtschaft« einen »Leitbegriff der Konservativen« im Kampf um die politische Hegemonie von links anzueignen. Ingo Stützle von der Zeitschrift »analyse & kritik« befand, dass sowohl Herrmann als auch Wagenknecht nicht weit genug in ihrer Kritik gingen, und forderte eine linke Krisenanalyse, der es nicht um die Einhaltung ordnungspolitischer Ideen geht, sondern um die Veränderung der Verhältnisse. Joachim Bischoff, früherer Hamburger LINKEN-Abgeordneter und Mitherausgeber der Zeitschrift »Sozialismus« machte sich in seinem Beitrag für eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft als Horizont linker Politik stark. Der Ökonom und ehemalige bayerische LINKEN-Chef Michael Wendl, der inzwischen wieder Mitglied der SPD ist, kritisierte, in der Linken seien Rolle und Bedeutung der Finanzmärkte bis heute nicht verstanden worden, die Krisenanalyse auch in der Linkspartei komme oft als eine Art Moral- und Tugendlehre daher. Auch der in Wien lebende Philosoph und Politikwissenschaftler Sebastian Reinfeldt meinte in seinem Diskussionsbeitrag, die Linke glaube fälschlich, den Kapitalismus eh schon begrifflich komplett erfasst zu haben und forderte: »Lest Foucault!« Zuletzt meinte der Glauchauer Wirtschaftsprofessor Klaus Müller, für die Ordoliberalen sei Geld nur neutrales Schmiermittel der Realwirtschaft, für die Keynesianer die Wunderdroge. LINKEN-Vize Wagenknecht aber lasse sich weder von der einen noch der anderen Übertreibung blenden.

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