Was ist systemrelevant?

Artikel von Sahra Wagenkecht für www.linksfraktion.de vom 05.07.2012

05.07.2012

Man stelle sich vor, alle Investmentbanker, Unternehmens- und Vermögensberater, Wirtschaftsjuristen und Steuerexperten würden für einen Monat ihre Arbeit einstellen. Was wäre die Folge? Würden wir es überhaupt bemerken? Und nun stelle man sich vor, alle Ärzte und Krankenpfleger, Verkäufer und Busfahrerinnen, Erzieher und Lehrerinnen oder alle Beschäftigten bei der Müllabfuhr würden für einen Monat ihre Arbeit einstellen. Die Folgen für unseren Alltag wären wohl recht dramatisch. Trotzdem ist es so, dass für das kapitalistische System die hochbezahlten Banker und Finanzjongleure „relevanter“ sind als die Kassiererinnen bei Schlecker. Dies zeigt sich jedenfalls, wenn man die Summen miteinander vergleicht, die unsere Regierung jeweils auszugeben bereit war. Für die deutschen Banken hat die Bundesregierung bereits zweimal ein 480 Milliarden Euro schweres Rettungspaket geschnürt. Noch höher dürfte der Betrag sein, mit dem deutsche Steuerzahler inzwischen für Risiken haften, die Banken aus ganz Europa eingegangen sind. Als es hingegen darum ging, mit 70 Millionen Euro eine Transfergesellschaft für über zehntausend Schlecker-Beschäftigte einzurichten, scheiterte dies an angeblichen Sparzwängen bzw. am Widerstand der FDP.

Für den Kapitalismus von heute scheinen also die Banken besonders relevant zu sein. Angeblich waren und sind große Rettungsschirme für die Banken nötig, um eine „Kernschmelze des Finanzsystems“ zu verhindern, in der am Ende auch die Ersparnisse der einfachen Leute verbrennen würden. Doch diese Panikmache ist vor allem ein Bluff. Natürlich ist auch DIE LINKE dafür, dass die Ersparnisse und Altersrücklagen der Bevölkerung vom Staat geschützt und garantiert werden. Aber müssen wir, um dieses Ziel zu erreichen, auch jedes noch so windige Spekulationsgeschäft mit unserem Steuergeld mit absichern? Ich denke nein. Die Regierungen hätten sich gegen die erpresserische Geiselnahme der großen Finanzkonzerne wehren und die Banken an die Leine legen müssen. Stattdessen haben sie den Banken einen Blankoscheck ausgestellt.

Der Staat hat selbst genug Möglichkeiten, um das für die Allgemeinheit relevante Finanzsystem zu erhalten: Gemeinsam mit der Notenbank kann der Staat für den reibungslosen Ablauf des Zahlungsverkehrs sorgen, die Wirtschaft und Verbraucher mit ausreichenden Krediten versorgen und die Bankeinlagen sichern. Selbst für den Kapitalismus sind private Großbanken, Investmentbanken oder Hedgefonds also nicht wirklich systemrelevant: Das System kann ohne diese Institutionen funktionieren, wie die 50er und 60er Jahre dieses Jahrhunderts gezeigt haben, als in vielen kapitalistischen Ländern das gesamte Finanz- und Bankwesen noch öffentlich organisiert war und der Kapitalverkehr streng kontrolliert wurde.

Wenn es bei der Bankenrettung nicht darum ging, das Funktionieren des Finanzsystems zu gewährleisten, worum ging es dann? Am Ende ist es eine Machtfrage: Die Reichen und Superreichen in diesem Lande haben sich der Regierung bedient, um ein Platzen der „Vermögensblase“ zu verhindern. Statt die völlig überzogenen Ansprüche der Superreichen auf immer größere Teile der künftigen Wertschöpfung abzuwehren und abzuschreiben hat man Unsummen an Steuergeldern mobilisiert, damit die Ansprüche erfüllt werden. Infolge dieser Politik ist die Staatsverschuldung in der EU seit Beginn der Krise um etwa 3 Billionen Euro angestiegen und immer mehr Staaten sind nicht mehr in der Lage, zu vernünftigen Zinssätzen auf den Finanzmärkten Kredite zu erhalten. Gleichzeitig ist das Vermögen der Superreichen weiter angeschwollen, gibt es in Deutschland so viele Vermögensmillionäre wie nie zuvor.

Nun versucht man in ganz Europa, das Geld, das man für die Bankenrettung verpulvert hat, durch Kürzungen bei Beschäftigten, Arbeitslosen und RentnerInnen wieder einzutreiben. Die Sozialstaaten Europas sollen kaputtgespart werden uns unsere Aufgabe besteht darin, zu verteidigen, was für den Alltag der einfachen Bevölkerung höchst relevant ist: Vom Kita-Platz bis zur sicheren Rente, vom anständigen Arbeitsplatz über das flächendeckende Gesundheitssystem bis zu Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Der Kapitalismus ist ein perverses System, in dem die Prioritäten der Menschen auf den Kopf gestellt sind. Wer sich in seiner Arbeit um Menschen kümmert, wer Kinder erzieht, kranke oder alte Menschen pflegt, der wird in der Regel mit Niedriglöhnen abgespeist. Wer teure Maschinen bedient erhält schon etwas mehr. Am meisten aber streichen jene ein, die neue Finanzprodukte und Steuersparmodelle erfinden und dadurch der Gesellschaft großen Schaden zufügen, und natürlich die, gar nichts tun und von den Erträgen ererbter Millionenvermögen leben und dabei von Steuerumgehung und Finanzspekulation profitieren. Es ist an der Zeit, dieses System vom Kopf wieder auf die Füße und den Mensch und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.

linksfraktion.de, 5. Juli 2012