„Wohlstand für alle" – Eine Besprechung von Sahra Wagenknechts Buch „Freiheit statt Kapitalismus"

Rezension von Albrecht Müller erschienen auf den nachdenkseiten am 1. Juni 2011

03.06.2011

Sahra Wagenknecht kommt am kommenden Sonntag, am 5. Juni um 11:00 Uhr, bekanntlich zum 21. Pleisweiler Gespräch. Siehe hier [PDF - 60.7 KB][1]. Ein passender Anstoß zur Besprechung ihres neuen Buches.

Man müsse als Autor und Politiker die Menschen da abholen, wo sie sind, sagt man. Manchmal ist es schwer, sich an diese Regel zu halten. Man muss sich oft ordentlich verbiegen. Sahra Wagenknecht hat diese Regel zu Beginn ihres neuen Buches „Freiheit statt Kapitalismus" meisterhaft angewandt und sie hat sich dabei offensichtlich nicht verbiegen müssen. Sie beschreibt und würdigt die Ansprüche und Ideen, mit denen „die bundesdeutsche Gesellschaft in die Nachkriegszeit gestartet" ist. „Wohlstand für alle" war das große Versprechen Ludwig Erhards und der sozialen Marktwirtschaft. Gleiche Chancen beim Start, soziale Absicherung, Wettbewerb, der eine „am realen Bedarf orientierte Wirtschaft steuert", keine beherrschende Marktmacht. Das waren die Versprechen und nichts davon ist übrig. Der Kapitalismus versage nicht nur im sozialen Bereich, nicht nur bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Er versage vor allem vor seinen eigenen ökonomischen Ansprüchen.
„Im realen Wirtschaftsleben sind alle positiven Ideen der Marktwirtschaft tot", das kann auch ein selbst denkender Mittelständler unterschreiben. Denn er erlebt täglich, dass Wettbewerb allenfalls in seinem Milieu gilt, aber die mächtigen großen Unternehmen sich die Märkte und die Politik unterworfen haben und ihren Lieferanten die Konditionen diktieren. Er erlebt, was Sahra Wagenknecht zum Finanzsektor schreibt, dass man sich dort weniger um die Kreditversorgung der Wirtschaft kümmert und stattdessen menschliche Kreativität und Erfindungsgabe auf unsinnige Tätigkeiten und neue Finanzprodukte im Finanzcasino konzentriert. „Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden." „Wir sollten unsere Intelligenz und Fantasie nicht länger mit der Frage verschwenden, wie wir ihn wieder jung gesund und produktiv machen können. Viel dringender ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine Zukunft jenseits des Kapitalismus gestalten können. Das klingt provokativ, ist auch so gemeint, ist aber zugleich eine Einladung zum Dialog zwischen echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der einen und ebensolchen Sozialisten und Marxisten auf der anderen Seite."

Leser, die mit dem Wort Kapitalismus nicht viel anfangen können, wozu ich mich auch zähle, fühlen sich vielleicht von der Verwendung dieses Begriffes abgestoßen. Aber jenseits dieses Sprachgebrauchs hat die Autorin die Regel beherzigt. Sie holt die ehrlichen Verfechter einer marktwirtschaftlichen Ordnung bei ihrer Vorstellung ab, die richtige marktwirtschaftliche Ordnung sei produktiv und effizient, mit den knappen Ressourcen werde sorgfältig und kreativ umgegangen, jedenfalls sei das der konzeptionelle Hintergrund des Ordoliberalismus in der Prägung von Ludwig Erhard, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, die Sahra Wagenknecht als Zeugen zitiert.

Die Autorin umgeht mit diesem Ansatz die für linke Politiker und linke Autoren bereitgehaltene Falle, sich zuerst einmal über die schlimme Verteilung von Einkommen und Vermögen aufzuregen. Das Etikett, sie sei wie alle Linken der typische Vertreter eines Verteilungsstaates und einer Verteilungsmentalität, kann man ihr nach diesem Einstieg und im Buch auch weiter verfolgten Ansatz nicht verpassen. Die üblicherweise zusammen mit dem Etikett „Verteilungsmentalität" verabreichte Empfehlung, sich erst einmal um die Vergrößerung des „Kuchens" zu kümmern, bevor er verteilt wird, hat sie im Vorwege bedacht. Sie analysiert in vielen Passagen, wie Ressourcen verschwendet werden, und sie zeigt, was zu tun wäre, wollte man, den ordo-liberalen marktwirtschaftlichen Ideen entsprechend, die Produktion in Wirtschaft und Gesellschaft effizient und produktiv und im Interesse der gesellschaftlichen Bedürfnisse gestalten.

Keine Sorge, die Verteilungsfrage kommt nicht zu kurz. Die Autorin kommt auf die miserable Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland immer wieder zurück. Wenn sie vom gebrochenen Versprechen des Ludwig Erhard schreibt, dann meint sie beides – Produktivität und Gerechtigkeit. Ludwig Erhards Buchtitel „Wohlstand für alle" enthält beides. Und gebrochen sind die Versprechen für beides. Zur Realisierung des Versprechens „Wohlstand" wird das mögliche seit langem nicht mehr getan. Der „Kuchen" ist seit drei Jahrzehnten kaum größer geworden. Und das Stück vom Kuchen, über das die abhängig Beschäftigten verfügen können, schrumpft. „Wohlstand für alle" wäre heute der passende Wahlslogan für die Linke. Und nur für diese. Denn die anderen Parteien haben zum Beispiel allesamt daran mitgewirkt, den Niedriglohnsektor und die Leiharbeit auszubauen, sie sind stolz auf Harz IV und bürden der finanziell schwächeren Mehrheit die Kosten der Casinobesuche der Investmentbanker und Zocker auf. Sie haben es aufgegeben, „Wohlstand für alle" zu schaffen und huldigen in der Regel der so genannten Pferdeäpfeltheorie, wonach es allen gut geht, wenn es einigen besonders gut geht.

In Sahra Wagenknechts Buch findet man eine Fülle von Material zur Analyse dieser Vorgänge und auch zur Therapie. Sie beschreibt zum Beispiel die Entwicklung zur Orientierung der Manager am Shareholder Value Prinzip und die katastrophalen Folgen dieser Umorientierung. Sie zeigt, wie die Landesbanken und andere öffentliche Banken im privaten Interesse umgepolt wurden; sie zeigt, wie die privaten Banken, wie namentlich die Deutsche Bank und die Commerzbank, den Steuerzahler gemolken haben.

In einer in der „jungen Welt" abgedruckten Rezension war zu lesen, das Buch enthalte kaum Neues. Einmal abgesehen davon, dass die Suche nach dem Neuen und Neues nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal ist – ich habe bei der Lektüre von Wagenknechts Buch viel gelernt. Zum Beispiel: Die Kapitel über „Öffentliche Banken als Diener der Realwirtschaft" wie auch über den Staat als Dienstleister zur Versorgung mit Grundbedürfnissen wie „Post, Bahn und Luftverkehr, Wasser und Energie, kommunale Dienste, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten" und über staatliche Industrieunternehmen sind ausgesprochen lehrreich – sowohl für den Leser, der nach guten und faktenreichen Analysen sucht, als auch für Leser, die wissen wollen, wie es weitergehen soll:

„Sämtliche Leistungen der Grundversorgung von Wasser über Energie bis Wohnen, von Gesundheit über Mobilität bis Bildung und natürlich auch die kommunalen Dienste gehören in die Hände von Unternehmen in öffentlichem Eigentum". Und „die Erfüllung der Verpflichtung auf das Gemeinwohl muss demokratisch kontrolliert werden, Kommerzialisierung muss ausgeschlossen werden." Das ist eine klare Empfehlung. Würde eine politische Partei nach dieser Grundlinie verfahren, dann würde ihr aktuell in vielen Kommunen ein reiches Betätigungsfeld eröffnet.

Auch die Vorstellungen Sahra Wagenknechts zum Finanzsektor sind klar. Sie spricht sich für die Stärkung der öffentlich-rechtlichen Säule des deutschen Bankensystem aus und zum privaten Bankensystem heißt es: „Die Stabilität des Finanzsektors ist ein öffentliches Gut. Werden öffentliche Güter privaten profitorientierten Unternehmen überlassen, mündet das in der Regel in ein System institutionalisierter Haftungsfreiheit mit privatisierten Gewinnen und sozialisierten Verlusten. Auch die bisher private Säule des Bankensektors und die Versicherungen gehören daher in öffentliche Hand. Banken und Versicherungen dürfen allerdings nicht nur verstaatlicht, sie müssen zugleich – ähnlich den Regelungen in vielen Sparkassengesetzen – auf ein gemeinnütziges Geschäftsmodell verpflichtet werden. Dazu gehört die Abwicklung bzw. Veräußerung aller Zockerabteilungen und ein grundsätzliches Verbot von Spekulationsgeschäften… Der Finanzsektor muss radikal schrumpfen, um seine eigentliche Aufgabe als Diener der Realwirtschaft wieder wahrnehmen zu können."
In der erwähnten Besprechung in der „jungen Welt" ist davon die Rede, dass sich Sahra Wagenknecht mit diesem Buch dem „Reformflügel" ihrer Partei angedient habe, das Gedränge dort werde größer. Naja, beim Abfassen von Rezensionen sollte man normalerweise lesen können. Ich kann jedenfalls in den Vorstellungen Sahra Wagenknechts zur Übernahme der Banken und der Versorgungsunternehmen in öffentlicher Verantwortung eine solche Anbiederung nicht erkennen. Dass der so genannte Reformflügel ihrer Partei sich für Rückabwicklung der Privatisierung öffentlicher Betriebe und Einrichtungen engagiere, ist mir auch entgangen.

Schon wegen des Grundansatzes, der Auseinandersetzung mit der mangelnden Produktivität einer Volkswirtschaft, die nach den herrschenden neoliberalen Regeln gestaltet ist, und wegen der klaren Analysen und Therapien zum Bankensektor lohnt sich die Lektüre dieses Buches. Ich kann dann einigermaßen erleichtert über eine Reihe von Schwächen und Meinungsverschiedenheiten hinwegsehen: über ihre etwas traditionelle Vorstellung zum Zusammenhang von Geldmenge und Inflation, über ihre Vorstellung, die schlimme Einkommensverteilung habe das makroökonomische Problem der schwachen Binnennachfrage ausgelöst, über ihre Vorstellungen zur so genannten Vermögensblase, die der Schuldenblase gegenüberstehe, und zur Streichung der Staatsschulden, über ihre Vorstellung vom Ende des Wachstums in den siebziger Jahren. Ich kann auch nicht folgen, wenn die Autorin meint, es könne keinen „grünen Kapitalismus" geben. „Wer eine umweltverträgliche Wirtschaft will, muss den Kapitalismus hinter sich lassen", meint sie; ich nicht.
Bei diesen Aussagen werden manche, vielleicht sogar viele Leser des Buches der Autorin zustimmen – mehr als ich. Das hat damit zu tun, dass ich die Gestaltungsspielräume des Staates auch im jetzigen System für sehr viel größer halte: der Niedergang der deutschen Ökonomie vom Ende der siebziger Jahre bis heute ist vor allem die Folge einer falschen Makroökonomie; die miserable Einkommensverteilung ist auch die Folge einer bewusst angelegten Vermehrung der Reservearmee von Arbeitslosen und der Unfähigkeit und Unwilligkeit, die Steuerpolitik für mehr Gerechtigkeit und nicht gegen mehr Gerechtigkeit einzusetzen. Es wäre ganz gut, die Autorin Sahra Wagenknecht und viele, die ähnlich denken, würden zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, was der britische Notenbanker Sir Alan Budd aus Margret Thatchers Zeit öffentlich verlautbart hat:

„Viele „haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren."

(The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

Es wäre möglich, die mithilfe der Reservearmee erzeugte schiefe Einkommensverteilung wenigstens teilweise zu korrigieren. Die Autorin Wagenknecht nennt an mehreren Stellen ihres Buches die Instrumente der Steuerpolitik, die eingesetzt worden sind, um die ungerechte Verteilung noch zu verschärfen. Warum sollte man sie nicht in anderer Richtung einsetzen? Zum Beispiel die von Rot-Grün eingeführte Steuerbefreiung für die Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen wieder abschaffen. Zum Beispiel die Vermögensteuer wieder einführen. Zum Beispiel den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer mindestens auf das Kohl'sche Niveau von 53 % heben. Zum Beispiel die Gewerbekapitalsteuer wieder einführen. Zum Beispiel die Erbschaftssteuer so gestalten, dass sie wirklich wirkt.

Bei Vorträgen wie auch anlässlich von Artikeln in den NachDenkSeiten bekommen wir gelegentlich als Reaktion von Zuhörern und Lesern zu hören, ohne eine Änderung des Systems werde sich die Lage nicht bessern. Ich frage dann in der Regel zurück, was mit Änderung des Systems gemeint sei, und äußere dann leichte Zweifel, dass es eine Änderung des Systems geben könne, die mehr bringt, als eine härtere Setzung der Rahmendaten für das wirtschaftliche Handeln der Einzelnen. Die Lektüre von Sahra Wagenknechts Buch und insbesondere des Kapitels über die „Sterbende Demokratie: Wenn Wirtschaft Politik macht" hat mich nachdenklich gestimmt und zugleich an eigene Formulierungen erinnert, die im Sinne der Autorin eine gewisse Ausweglosigkeit kennzeichnen und eine Systemänderung verlangen:
„Wir sind wirklich in den Fängen einer verschworenen Gruppe aus Finanzwirtschaft, Wissenschaft und Politik[2]" schrieb ich am 21. Oktober 2008 und dann noch einmal am 2. Juli 2009: Unser Führungspersonal ist in den Fängen der Finanzwirtschaft – ein weiterer Hinweis (Finanzkrise XIX[3])"

Wie wollen wir uns, wie wollen wir uns ohne eine grundlegende Veränderung unserer politischen Entscheider aus diesen Fängen befreien?
Sahra Wagenknecht verlangt die Übertragung der Finanzwirtschaft in öffentliches Eigentum und eine starke Regelung und Kontrolle der Entscheidungsträger. Ob uns das dann weiter bringt, wenn die Schäubles, Eichels, Merkels und Steinbrücks die Kontrolleure sind, weiß ich nicht. Sahra Wagenknechts Buch stößt dazu an, über die Systemfrage noch einmal nachzudenken. So wie es jetzt ist, geht es jedenfalls nicht weiter.

Sahra Wagenknecht
Freiheit statt Kapitalismus
Eichborn Verlag
368 S., gebunden
ISBN 978-3-8218-6546-1
19,95 EUR

Links:

  1. http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/21_pleisweiler_gespraech_einladung_wagenknecht.pdf
  2. http://www.nachdenkseiten.de/?p=3528
  3. http://www.nachdenkseiten.de/?p=4039