Sahra Wagenknecht

Warum hilft uns Marx, Frau Wagenknecht? Die deutsche Linkspolitikerin will die Wirtschaft einer politischen Steuerung unterwerfen

Artikel erschienen in Basler Zeitung

09.05.2009
Benedikt Vogel

Stramm links. Sahra Wagenknecht will für ihre Partei «Die Linke» in den Deutschen Bundestag.

Mit 18 entdeckte Sahra Wagenknecht den Ökonomen Karl Marx. An seine Lehre glaubt die Berliner Politikerin 22 Jahre später noch immer. Sie will den Kapitalismus mit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung zähmen.

Berlin, unweit des Brandenburger Tors. Sahra Wagenknecht sitzt im «Café Einstein» hinter einem weiss gedeckten Tisch. Die Politikerin passt perfekt ins noble Ambiente. Violette Jacke mit Ornamentmuster, an den Ohren baumeln in Gold gefasste Perlen. In einer Stunde muss Sahra Wagenknecht zum Flughafen. Der Rollkoffer steht parat. In Brüssel will sie ihre Wohnung räumen. Fünf Jahre sass sie im EU-Parlament. Bei der Europawahl vom 7. Juni tritt sie nicht mehr an. Dafür kandidiert sie im Herbst für den Deutschen Bundestag. «Die spannendsten Auseinandersetzungen, zum Beispiel über die Strategien der Krisenbekämpfung, die finden jetzt überwiegend in den Mitgliedstaaten statt», sagt Wagenknecht. «Um politisch stärker Einfluss nehmen zu können, ist es mir wichtig, auf Bundesebene zu arbeiten.»

TAUFRISCH. Um politischen Einfluss bemüht sich die demnächst 40-jährige Ostdeutsche ein halbes Leben lang. Seit 1989/1990, als die DDR unterging und mit ihr der Sozialismus. Wagenknecht hielt am Sozialismus fest. Sie wurde dafür verspottet, gehasst, belächelt. Doch dann kam das weltweite Bankensystem ins Wanken. Vor diesem Hintergrund wirken ihre Ideen nun plötzlich taufrisch. Zumindest ihre Analysen.

Auf dem weissen Tischtuch liegt Wagenknechts neues Buch. «Wahnsinn mit Methode». Es ist eine schlagfertige, statistisch untermauerte Abrechnung mit dem Banken- und Finanzsystem amerikanischer Prägung. Das volkswirtschaftliche Wissen hat sich die studierte Philosophin und Literaturwissenschaftlerin in den letzten 15 Jahren im Selbststudium beigebracht. Eben hat sie eine Doktorarbeit zum Sparverhalten privater Haushalte fertiggestellt. In ihrem Buch kritisiert Wagenknecht die «absurde Fixierung auf maximale Rendite». In den Jahren des Booms hätten «die oberen Zehntausend» profitiert, jetzt, wo die Konzerne rote Zahlen schreiben, würden die Kapitaleigner sich aus der Verantwortung stehlen. «Nun soll der Normalverdiener dafür bluten.»

Sahra Wagenknecht redet mit kräftiger, ruhiger Stimme. Gelegentlich unterstreicht sie ihre Worte mit einer scheuen Geste. Ihr Blick, auf dem Buchcover frontal und durchdringend, schert im Gespräch oft zur Seite aus. Der Sozialismus hat bei Wagenknecht ein nettes Gesicht. Der «Finanzsektor, Kernbereiche der Wirtschaft und die Daseinsvorsorge» (also die Grundversorgung mit Wasser, Energie oder Müllabfuhr), sagt sie, seien in das «öffentliche Eigentum» von Bund, Bundesländern und Gemeinden zu überführen. Verstaatlichen möchte Wagenknecht neben Banken und Versicherungen auch den Wohnungsmarkt und den Gesundheitssektor. Und die im deutschen Aktienindex DAX versammelten 30 Grosskonzerne wie BASF, BMW, Commerzbank, Lufthansa, Siemens oder ThyssenKrupp.

In einer echten Demokratie müsse die Politik die elementaren wirtschaftlichen Entscheidungen treffen, fordert Wagenknecht. Die Parlamente müssten die Ziele der Unternehmen festlegen. Und so zum Beispiel Entlassungen vermeiden. Oder sicherstellen, dass Manager nicht nach der Entwicklung des Aktienkurses, sondern der Lohnsumme ihres Unternehmens bezahlt werden.

Warum helfen uns diese von Marx inspirierten Ideen, Frau Wagenknecht? Jetzt kommt die bekennende Marxistin in Fahrt: «Man könnte eine Gesellschaft mit sicheren Arbeitsverhältnissen und guten Löhnen erreichen. Man könnte eine Gesellschaft erreichen, wo der Staat genügend Einnahmen hat, um ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem zu finanzieren. Und man könnte eine Gesellschaft erreichen, in der man Arbeit umverteilt, dass man also Arbeitslosigkeit massiv bekämpft, indem die Leute kürzer arbeiten und dadurch mehr Leute beschäftigt werden zum gleichen Lohn.»

Das «Gesamtsystem» DDR mit seiner zentralisierten, unproduktiven Wirtschaft wünscht sich Sahra Wagenknecht nicht zurück. In guter Erinnerung sind ihr hingegen – neben dem integrativen Bildungs- und dem solidarischen Gesundheitswesen – die «Eigentumsformen». Was Wagenknecht damit meint, zeigt ein Blick ins Geschichtsbuch: In der DDR waren drei Fünftel der Wohnungen, 95 Prozent der Betriebe und 99 Prozent der Arztpraxen «sozialistisches Eigentum».

GANZ LINKS. Sahra Wagenknecht ist in der DDR gross geworden. Ihr persischer Vorname, der das «h» in die Mitte stellt, erinnert an ihren Vater, einen Iraner, den sie nie kennengelernt hat. Mit 18 wünschte sie sich von der Mutter das Gesamtwerk von Marx. Mit 20 trat sie der DDR-Einheitspartei SED bei, aus der später die PDS hervorging und dann «Die Linke», in der Wagenknecht heute politisiert. Sie gehört der Kommunistischen Plattform an, der sich 1000 der 76 000 Parteimitglieder zurechnen.

Mit ihrem Ideal einer politisch gelenkten Wirtschaft geht Sahra Wagenknecht weit über das Programm ihrer eigenen Partei hinaus. Doch als Utopistin will sie nicht gelten. Sie verweist auf VW. Das Bundesland Niedersachsen ist seit Jahrzehnten massgeblich am grössten Autobauer Europas beteiligt und kann dank einem Spezialgesetz bei wichtigen Unternehmensentscheidungen mitreden. «Dadurch ist bei VW eine blindwütige Shareholder-Value-Orientierung wie bei BMW und anderen Autokonzernen verhindert worden», ist Wagenknecht überzeugt.

Und dann ist da die Commerzbank, die zweitgrösste Privatbank Deutschlands, an der der deutsche Staat zurzeit 25 Prozent der Aktien erwirbt, um ihr Überleben zu sichern. Das ist nach Wagenknechts Geschmack. «Diese Bank hat viel mehr Geld bekommen, als sie noch an Aktienwert hat.» Damit gehöre das Unternehmen eigentlich dem Staat. Wagenknecht fordert, alle Staatshilfen – auch Kurzarbeitergeld – konsequent in Unternehmensanteile umzuwandeln.

KEINE HEMMung. Sahra Wagenknecht wird gern mit Rosa Luxemburg verglichen, der promovierten Ökonomin und Kommunistin, die 1919 in Berlin ermordet wurde. Auf gewissen Bildern haben die beiden Frauen auch äusserlich eine verblüffende Ähnlichkeit. Siebzig Jahre nach Rosa Luxemburgs Ermordung ging 1989 der von ihr propagierte Kommunismus unter. Eine politische Zeitenwende. Und eine ökonomische Zäsur, ist Wagenknecht überzeugt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe der Kapitalismus noch gute Dienste geleistet, sagt sie. Seit den 80er-Jahren aber verdränge die Jagd nach kurzfristiger Rendite das Ziel langfristigen Wachstums. «Indem es diesen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik gab, sind nach und nach alle Hemmschwellen gefallen. Sozialabbau wie bei Hartz IV, Einführung von Studiengebühren, Kostenbeteiligung beim Arztbesuch – das alles hätte es nicht gegeben, solange man sich unter dem Druck einer gewissen Systemkonkurrenz gefühlt hat.»

Sahra Wagenknecht wünscht «andere Mehrheitsverhältnisse» in der Politik, um den Sozialismus einführen zu können. Die Bankenkrise lässt ihren Traum nun schon vorher ein ganz klein wenig wahr werden.

Gute Erinnerungenhat sie an die in der DDR gepflegten «Eigentumsformen».