Sahra Wagenknecht

Auswirkungen der Urteile "Viking" und "Laval" des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

Antwort von EU-Kommissar Špidla im Namen der EU-Kommission vom 08.09.2008

08.09.2008

SCHRIFTLICHE ANFRAGE E-3899/08 von Sahra Wagenknecht (GUE/NGL) an den Rat

Betrifft: Auswirkungen der Urteile "Viking" und "Laval" des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

Die Urteile „Viking" und „Laval" haben weit reichende Folgen für das Arbeitskampfrecht in der Europäischen Union. Um die daraus resultierende Rechtsunsicherheit für Gewerkschaften und die einzelnen Mitgliedstaaten zu vermindern, wird der Rat um Beantwortung folgender Frage ersucht:

1. Wann können Arbeitskampfmaßnahmen nach Ansicht des Rates als nicht mehr verhältnismäßig eingestuft werden und daher Schadensersatzklagen gegen Arbeitnehmerverbände nach sich ziehen?

2. Wie beurteilt der Rat die Feststellung des EuGH im Urteil „Laval", das in Art. 3 der Entsenderichtlinie für die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festgeschriebene Mindestmaß an Schutz stelle die maximal zumutbaren Anforderungen an grenzüberschreitend tätige Unternehmen dar? Wie verträgt sich diese Feststellung mit Art.3 Abs.7 der Entsenderichtlinie, demzufolge die Aufzählung in den Absätzen 1 bis 6 günstigeren nationalen Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegensteht?

3. Welche Möglichkeiten stehen den Mitgliedstaaten noch offen, um auch für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen umfassenden sozialen Schutz und ein Arbeitsentgelt zu gewährleisten, das über die in Art. 3 der Entsenderichtlinie genannten Mindestbedingungen hinausgeht?

4. Sieht der Rat wegen der Urteile „Viking" und „Laval" die Notwendigkeit, Änderungen an der Entsenderichtlinie vorzunehmen und wenn ja, welche?

5. Wie steht der Rat zu der Forderung des Europäischen Gewerkschaftsbundes, die geltenden EU-Verträge um eine soziale Fortschrittsklausel bzw. ein Sozialprotokoll zu ergänzen?

Antwort (P-3895/08DE) von Herrn Špidla im Namen der Kommission (08.09.2008):

1. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur zulässig, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Darüber hinaus muss sie geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Gemäß den Feststellungen des Gerichtshofes in den Rechtssachen Viking[1] und Laval[2] ist das Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer ein berechtigtes Interesse, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung einer der im EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten zu rechtfertigen. In den Rechtssachen Viking und Laval gab der Gerichtshof Hinweise für Situationen, in denen kollektive Maßnahmen als nicht gerechtfertigt gelten könnten oder über das hinausgehen könnten, was zum Erreichen des Ziels notwendig wäre. Jedoch muss eine Entscheidung darüber, ob kollektive Maßnahmen gerechtfertigt sind oder verhältnismäßig durchgeführt werden, vom nationalen Gericht von Fall zu Fall geprüft werden, je nach den spezifischen Umständen des betreffenden Falls.

2. Im Urteil in der Rechtssache Laval stellte der Gerichtshof fest, dass sich Artikel 3 Absatz 7 der Richtlinie 96/71/EG[3] nicht dahin auslegen lässt, dass er es einem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. Für die in ihrem Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstaben a bis g genannten Aspekte sieht nämlich die Richtlinie 96/71 ausdrücklich den Grad an Schutz vor, den der Aufnahmemitgliedstaat in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen zugunsten der von diesen in sein Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern abzuverlangen berechtigt ist. Der Gerichtshof legt Artikel 3 Absatz 7 so aus, dass gewährleistet ist, dass der Richtlinie nicht ihre Wirksamkeit genommen wird.

3. Die Kommission wird die Mitgliedstaaten in dem Prozess einer wirksamen Nutzung der Möglichkeiten der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern unterstützen. Sie wird aufkommende Fragen eingehend prüfen, erörtern und beantworten, erforderlichenfalls auch mit Hilfe von Leitlinien zur Auslegung der Vorschriften.

4. Die Kommission ist sich bewusst, dass die Auslegung der Feststellungen des Gerichtshofes in den Rechtssachen Viking und Laval bei einigen Interessenträgern Bedenken auslöst. Wie in der am 2. Juli 2008 angenommenen Mitteilung über die erneuerte Sozialagenda[4] dargelegt, wird die Kommission auf der Grundlage einer eingehenden Analyse der Urteile und anderer Präzedenzfälle mit den Sozialpartnern und den Mitgliedstaaten erörtern, wie sich schwierige Fragen am besten lösen lassen – u. a. im Herbst 2008 auf einem speziell hierzu anberaumten Forum.

5. Die Kommission ist der Ansicht, dass der Vertrag von Lissabon, so er ratifiziert wird, zur Verbesserung des Schutzes der sozialen Rechte beitragen würde.

[1] Urteil des Gerichtshofes vom 11. Dezember 2007 in der Rechtssache C-438/05.

[2] Urteil des Gerichtshofes vom 18. Dezember 2007 in der Rechtssache C-341/05.

[3] Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 18 vom 21.1.1997.

[4] „Eine erneuerte Sozialagenda: Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts", KOM(2008) 412 endg.