Sahra Wagenknecht

"Marx hat nie eine Planwirtschaft gefordert"

Interview mit Sahra Wagenknecht, erschienen in der Rhein-Neckar-Zeitung am 05.05.2018

08.05.2018

Frau Wagenknecht, wann haben Sie zuletzt in einer von Marx’ Schriften gelesen?

Wagenknecht: Ich lese Marx immer wieder gern, denn er ist verblüffend aktuell. Zuletzt habe ich wieder in seinen Frühschriften geblättert. Sie sind von einem unbändigen Freiheitswillen und Freiheitsideal durchdrungen. Wer Marx zum Vordenker von Systemen erklärt, die Pluralismus und Meinungsfreiheit unterdrückt haben, kann diese Aufsätze nie gelesen haben. In seinem „Kommunistischen Manifest“ wird gefordert, dass in einer künftigen Gesellschaft die Freiheit eines jeden „die Bedingung“ für die Freiheit aller sein muss. Das ist das Kontrastprogramm zu jedem uniformierenden Kollektivismus.

Hubertus Knabe, Leiter der Berliner Stasi-Gedenkstätte, sagt, die kommunistischen Massenverbrechen wären ohne Marx’ „Klassenkampf“-Thesen undenkbar gewesen…

Wagenknecht: Wenn jeder für das verantwortlich wäre, was in seinem Namen geschieht, dürfte Jesus Christus heute in keiner Kirche mehr hängen. Auch im Namen des Christentums sind grauenvolle Verbrechen begangen worden. Aber die Hexenverbrennung und die Kreuzzüge waren nicht Inhalt der Bergpredigt. Marx war ein genialer und schonungsloser Analytiker des Kapitalismus, der uns bis heute dabei helfen kann, Krisen und Ausbeutung zu verstehen.

Sie sehen den Theoretiker Marx nicht als Brandstifter?

Wagenknecht: Marx hat an keiner Stelle eine verstaatlichte Planwirtschaft gefordert. Sein Ziel war  Demokratie. Allerdings hat er schon früh das Problem gesehen, dass sehr große Vermögen Macht bedeuten, eine Macht, die Demokratie aushöhlen und zerstören kann.

Kann Karl Marx heute noch Impulse für die Lösung der sozialen Frage geben?

Wagenknecht: Er hilft uns, die soziale Frage zu verstehen. Die Mainstream-Ökonomie kann nicht erklären, warum in einer Gesellschaft, in der alle rechtlich gleichgestellt sind, Ausbeutung existiert. Für Marx ist der Grund, dass die Unternehmen eben nicht denen gehören, die in ihnen arbeiten. Das erzeugt Abhängigkeit. In Deutschland hat die Agenda 2010 diese Abhängigkeit erhöht. Heute können viele von ihrer Arbeit nicht mehr gut leben, während jedes Jahr Rekorddividenden an die Aktionäre ausgeschüttet werden. Wir müssen verstehen, dass beides zusammengehört.

Statt der Verelendung der Massen hat die soziale Marktwirtschaft ihren Sieg angetreten…

Wagenknecht: Karl Marx hat die unglaublichen produktiven Potenziale des Kapitalismus gesehen und geradezu schwärmerisch beschrieben. Er war überzeugt, dass diese Wirtschaftsordnung die Menschheit sehr viel reicher machen, den Reichtum allerdings nie gerecht verteilen wird. Die steigenden Löhne und die Partizipation der großen Mehrheit am Wachstum sind ein Ergebnis der Einhegung des Kapitalismus: starke Sozialstaaten, gute Arbeitsmarktregeln. Vieles davon wurde in den letzten Jahren zurückgenommen. Seit der Kapitalismus wieder ungebremster wirkt, werden wieder mehr Menschen vom Wohlstand abgeschnitten. In Deutschland hat heute knapp die Hälfte der Bevölkerung weniger reales Einkommen als Ende der Neunziger. Obwohl die Wirtschaft boomt.

Würde Karl Marx eine linke Sammlungsbewegung unterstützen?

Wagenknecht: (Lacht.) Ich werde Marx nicht für unsere Tagespolitik vereinnahmen. Aber wir können nicht damit zufrieden sein, dass es seit Jahren in der Bevölkerung eine Mehrheit für bessere Löhne, höhere Renten und einen stärkeren Sozialstaat gibt, und dennoch – egal, was die Leute wählen – sich immer wieder eine Politik durchsetzt, die vor allem großen Unternehmen und den sehr Wohlhabenden nützt. Die Ungleichheit wächst. Um das zu verändern, müssen alle zusammenkommen, die eine sozialere Politik wollen.