Sahra Wagenknecht

Merkel als Komplizin

Kommentar von Sahra Wagenknecht in der Tageszeitung "junge welt", 09.07.2016

09.07.2016

Die europäische Integration hat sich längst in ihr Gegenteil verkehrt. Statt wie versprochen sozialen Fortschritt und Wohlstand für alle bringt das Projekt die Entfesselung der Märkte, Aushebelung der Demokratie, Prekarisierung der Arbeit und Abbau sozialer Leistungen. Das »Brexit«-Votum ist nicht die Ursache, sondern das Symptom der tiefen Krise in der EU. Nach der Abstimmung in Großbritannien wurde viel von einem »Weckruf« geredet. Aber in Brüssel wollen ihn offensichtlich viele noch immer nicht hören. Die Stimmen waren kaum ausgezählt, als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker noch einmal bekräftigte, dass das »Freihandelsabkommen« CETA, das unter diesem Deckmantel in Wirklichkeit Klageprivilegien für Konzerne und weniger Arbeiter- und Verbraucherrechte bringt, ohne Zustimmung der Mitgliedsstaaten in Kraft gesetzt werden soll.

Das ist eine demokratiefeindliche Methode, die Juncker bereits vor 17 Jahren selbst so beschrieb: »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.« Wer so handelt, betreibt Wahlwerbung für die Rechtspopulisten in ganz Europa.

In diesem Fall scheiterte ­Junckers Vorstoß zunächst, das CETA-Abkommen der EU mit Kanada als »EU-only« zu klassifizieren und damit an den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten vorbei durchzusetzen. Doch Junckers antidemokratischer Plan B steht bereits. Denn die EU-Kommission will dem Europäischen Rat vorschlagen, CETA vor einer Ratifizierung durch die Parlamente vorläufig in Kraft zu setzen. Wobei »vorläufig« auch »endgültig« bedeuten kann, da der vorläufigen Anwendung »keine zeitliche Grenze gesetzt« sei, wie ein Beamter der EU-Kommission süffisant bemerkte.Sollte die Bundesregierung im Europäischen Rat nicht gegen die vorläufige Anwendung stimmen, dann hätte sie sich als Komplizin dieses antidemokratischen Spiels geoutet. Die Linksfraktion macht sich in dieser Beziehung keine Illusionen. Sie hat sich daher entschlossen, eine Verfassungsklage einzureichen für den Fall, dass die zuständigen Minister am 18. Oktober die vorläufige Anwendung von CETA beschließen. Diese würde nicht nur gegen das im Grundgesetz verankerte Demokratiegebot, gegen das Recht der kommunalen Selbstverwaltung sowie gegen das richterliche Rechtsprechungsmonopol verstoßen.

Das letzte was wir in Europa brauchen, ist ein Mehr an vorauseilendem Gehorsam gegenüber Konzerninteressen, sind private Schiedsgerichte, die Regierungen verklagen können. Was wir statt dessen brauchen, ist mehr Demokratie, sind Volksabstimmungen über EU-Handelsabkommen wie CETA und TTIP auch in Deutschland.