Sahra Wagenknecht

Soziale Kälte und solidarisches Miteinander: Das geht nicht zusammen

Rede von Sahra Wagenknecht in der Debatte des Bundestages am 17.02.2016 über die Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel

17.02.2016
Sahra Wagenknecht, DIE LINKE: Soziale Kälte und solidarisches Miteinander: das geht nicht zusammen

Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zumindest diejenigen, die im Raum bleiben! Frau Bundeskanzlerin, ich denke, gerade in der aktuellen spannungsgeladenen Weltlage wäre es wichtig, ein einiges und handlungsfähiges Europa zu haben. In diesem Sinne hielten wir auch Ihre Bemühungen um eine europäische Lösung der Flüchtlingsproblematik für richtig. Aber wie ich gehört habe - das ist ja angesichts der ganz breiten Koalition der Unwilligen nicht erstaunlich -, haben Sie dieses Anliegen aufgegeben.

Aber nicht nur in der Flüchtlingskrise, sondern auch in vielen anderen Fragen ist die EU ja inzwischen geradezu zu einem Synonym für Zwietracht, Krise und Verfall geworden. Dafür trägt auch die deutsche Regierung eine Mitverantwortung.

(Beifall bei der LINKEN)

Der europäische Scherbenhaufen ist zum einen der Scherbenhaufen neoliberaler Verträge sowie undemokratischer und konzerngesteuerter Technokratie, zum anderen aber auch der Scherbenhaufen einer Arroganz, die, wie Herr Kauder das einmal so unnachahmlich formuliert hat, ganz Europa deutsch sprechen lassen wollte. Ich glaube, wer ernsthaft gedacht hat, Europa ließe sich von Berlin aus regieren, der darf sich nicht wundern, wenn ihm jetzt selbst der Wind ins Gesicht bläst.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gab eine Zeit, in der die große Mehrheit der Europäer mit der europäischen Einigung die Hoffnung auf Wohlstand, Frieden und soziale Sicherheit verbunden hat. Die heutige EU ist aber vor allem eine EU der wirtschaftlich Mächtigen und der Reichen. Wer die Schuldenbremse verletzt, der bekommt blaue Briefe aus Brüssel. Eine Armutsbremse oder eine Obergrenze für Jugendarbeitslosigkeit, die zum Handeln verpflichten würde, gibt es aber nicht. Im Gegenteil: Wenn eine Regierung, wie die portugiesische oder im letzten Jahr die griechische, auch nur ein bisschen etwas daran ändern will, dass in ihrem Land so viele Menschen in Armut leben, dann gibt es eine harsche Intervention aus Brüssel. Einige andere Länder hingegen, die alles daransetzen, Konzernen lukrative Steuersparmodelle anzubieten, die woanders die Steuereinnahmen wegschmelzen lassen, werden mit politischen Spitzenposten für ihr Personal auf Brüsseler Ebene geadelt.

Fast ein Viertel aller EU-Bürger lebt inzwischen in Armut, während sich die Zahl der europäischen Milliardäre seit Beginn der Krise mehr als verdoppelt hat. Ich muss Sie fragen: Da wundern Sie sich, dass sich immer mehr Menschen von einem solchen Europa abwenden,

(Beifall bei der LINKEN)

dass das Gefühl um sich greift, sie könnten wählen, wen sie wollen, und am Ende kommt in diesem Europa doch immer nur die gleiche neoliberale Politik heraus? Da wundern Sie sich, dass unter solchen Bedingungen nationalistische Parteien immer mehr Zulauf haben? Wir finden das erschreckend, aber erstaunlich finden wir das nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Briten, die gegen die EU sind - das zeigen ja Umfragen -, machen sich vor allem Sorgen um die sozialen Folgen von Zuwanderung, um Lohndumping und um Wohnungsmangel. Deswegen ist es völlig absurd, dass Herr Cameron als Voraussetzung für den Verbleib Großbritanniens jetzt ausgerechnet weiteren Sozialabbau und Narrenfreiheit für den Finanzplatz London verlangt. Noch absurder wäre es, solchen Forderungen nachzugeben. So etwas stabilisiert die EU nicht, sondern zerlegt sie nur immer weiter.

(Beifall bei der LINKEN)

Da man inzwischen schon Referenden machen muss, um in der EU etwas zu erreichen, frage ich mich: Warum werden eigentlich nicht alle Menschen in der EU gefragt? Warum fragen Sie die Bevölkerung in Deutschland nicht, was sie von den neoliberalen Verträgen hält?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es spricht einiges dafür, dass auch bei uns immer weniger in einer marktkonformen Demokratie leben möchten, in der Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden und die soziale Ungleichheit immer größer wird.

Ein demokratiekonformes Europa, das den Sozialstaat nicht abbaut, sondern absichert, wäre ein Projekt, das die Menschen wieder für die europäische Idee begeistern könnte.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie nicht wollen, dass Europa völlig in Nationalismus zerfällt, dann ändern Sie Ihre Politik und schaffen Sie ein soziales und demokratisches Europa. Das ist die einzige Chance dafür, dass dieses Europa überlebt. Sonst gibt es doch keine.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerade auch außenpolitisch brauchen wir Handlungsfähigkeit. Frau Merkel, Sie seien erschrocken und entsetzt über das menschliche Leid, das durch die Bombenangriffe entstanden ist. Das haben Sie angesichts der russischen Luftangriffe auf Aleppo gesagt.

(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt das denn? Sehen Sie das auch so?)

Ich stimme Ihnen zu: Was sich in und um Aleppo abspielt, ist brutal und barbarisch.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Luftangriffe, die Kämpfe und das Blutvergießen müssen endlich gestoppt werden - ganz klar und so schnell wie möglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir finden es aber schon erstaunlich, dass sich Ihr Entsetzen über die Gräuel und die Barbarei von Kriegen nur dann Bahn bricht, wenn russische Maschinen ihre Bomben abwerfen.

(Unruhe bei der SPD)

Glauben Sie wirklich, dass das Sterben unter amerikanischen, britischen oder französischen Bomben mit Unterstützung deutscher Tornados weniger leidvoll ist?

(Beifall bei der LINKEN)

Mindestens 1,3 Millionen Menschenleben - überwiegend Zivilisten - haben die sogenannten Antiterrorkriege des Westens, die in Wahrheit immer Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte waren, allein in den letzten anderthalb Jahrzehnten ausgelöscht; Kriege, an denen Deutschland indirekt oder direkt immer beteiligt war; Kriege, mit denen deutsche Waffenschmieden glänzende Geschäfte gemacht haben. 1,3 Millionen Tote, ungezählte Millionen Verletzte und aus ihrer Heimat Vertriebene - ich frage Sie, Frau Merkel: Wo war da Ihr Entsetzen? Vor allen Dingen: Wo sind die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen?

(Beifall bei der LINKEN)

Auch wir wissen, dass es in der Außenpolitik unvermeidlich ist, auch mit unangenehmen Regimen zu reden. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Reden und Hofieren. Sie haben gerade wieder über die Bekämpfung von Fluchtursachen gesprochen. Sie haben über die Gefahren des Terrorismus gesprochen. Und da wählen Sie als Ihren bevorzugten Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise ausgerechnet den Terrorpaten Erdogan,

(Beifall bei der LINKEN)

der mit seiner blutigen Politik gegen die Kurden im eigenen Land und mit seiner Unterstützung von islamistischen Terrorbanden in Syrien geradezu eine personifizierte Fluchtursache ist. Das ist doch völlig irrational.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnis unter Oberaufseher Erdogan, der Europa grenzenlos erpressen kann, weil er den Schlüssel zu diesem Gefängnis immer in der Tasche behält,

(Ingo Gädechens (CDU/CSU): Immer jammern, aber selber keine Lösung haben!)

das ist doch keine Lösung, sondern eine moralische Bankrotterklärung.

(Beifall bei der LINKEN - Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sie haben keine Lösung!)

Inzwischen bombardiert die Türkei rücksichtslos auch syrische Kurden, die zu den entschlossensten Kämpfern gegen den „Islamischen Staat“ gehören. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger - weiß Gott kein Freund der Linken -, spricht von der „gefährlichsten Weltlage seit dem Ende des Kalten Krieges“ und warnt vor der Gefahr eines nuklearen Konflikts. Und Sie üben den türkisch-deutschen Schulterschluss. Wollen Sie sich allen Ernstes von diesem unberechenbaren Erdogan in einen Krieg mit Russland hineinziehen lassen, nur weil er offenbar der Überzeugung ist, dass die Al-Nusra-Front und andere islamistische Terroristen in Syrien Unterstützung brauchen? Das ist doch eine völlig absurde Politik. Das kann man doch nicht verantworten.

(Beifall bei der LINKEN)

Nicht viel besser steht es um Ihren zweiten Verbündeten, die saudische Kopf-ab-Diktatur, bei der Herr Steinmeier auf Festivals auftritt und für die Herr Gabriel unverdrossen Waffenexporte genehmigt,

(Zurufe von Abgeordneten der SPD: Oh!)

obwohl die Saudis Menschenrechte mit Füßen treten,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja eine Unverschämtheit!)

obwohl sie im Jemen einen Krieg angezettelt haben und in Syrien ebenfalls islamistische Verbrecherbanden hochrüsten und finanzieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer in Syrien wirklich einen Waffenstillstand will, der muss doch endlich sämtliche Terrorbanden von der Zufuhr mit Waffen abschneiden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Länder, die diese Terroristen unterstützen, die gehören nicht umworben und hofiert, sondern die gehören unter Druck gesetzt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Erste, was Sie machen müssen, wenn Sie die Flüchtlingszahlen wirklich reduzieren wollen, ist: Hören Sie endlich auf - dazu fordern wir Sie auf -, weiter Waffen in diese Krisenregion zu liefern! Es gibt in Syrien inzwischen unübersichtlich viele Kriegsparteien. Aber es gibt so gut wie keine einzige Partei, die nicht mit deutschen Waffen kämpft. Selbst der IS tut das inzwischen. Das ist doch eine Schande.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Die Kalaschnikow ist die meistbenutzte Waffe! Damit mal die Wahrheit gesagt wird! - Gegenruf der Abg. Heike Hänsel (DIE LINKE))

Sie haben es angesprochen: Natürlich muss auch die Situation in den Flüchtlingscamps dringend verbessert werden. Wir hoffen sehr, dass die Zusagen, die gemacht wurden, tatsächlich eingehalten werden.

Noch eine Bitte, Frau Merkel: Werben Sie auf dem morgigen EU-Gipfel für eine an europäischen Interessen ausgerichtete Außenpolitik. Es gehört zu den europäischen Interessen, mit Russland wieder ein gutes Verhältnis zu haben statt eine immer weiter eskalierende Konfrontation. All das wären realistische Schritte zur Lösung der Probleme.

(Beifall bei der LINKEN)

Voraussetzung dafür aber wäre natürlich, dass diese Regierung überhaupt wieder handlungsfähig wird, statt den Hauptteil ihrer Kraft und ihrer Zeit mit internem Gezänk und internen Wadenbeißereien zu vergeuden. 81 Prozent der Menschen haben inzwischen das Gefühl, dass diese Regierung die Probleme nicht mehr im Griff hat. Selbst eine Ihnen freundlich gesonnene Zeitung wie Die Welt konstatiert, dass die Bundesregierung in Europa noch nie so isoliert war wie gegenwärtig.

Deswegen gilt - damit komme ich zum Schluss -:

(Volker Kauder (CDU/CSU): Gott sei Dank!)

Sie können eben nicht beides haben: eine neoliberale Politik der sozialen Kälte in Europa und ein solidarisches Miteinander. Das geht nicht zusammen. Der Neoliberalismus zerstört anteilnehmendes und mitfühlendes Handeln.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Bislang hat nur der Sozialismus gestört!)

Wenn Sie solidarische Lösungen wollen, dann ändern Sie die grundsätzliche Ausrichtung Ihrer Politik. Nur dann hat Europa vielleicht irgendwann wieder eine Chance.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)