Sahra Wagenknecht

10 Jahre Agenda 2010

Artikel von Sahra Wagenknecht in der Zeitschrift "Hintergrund" Nr. 3/2013

05.07.2013

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen". Mit diesen Worten kündigte Ex-Bundeskanzler Schröder die Agenda 2010 in seiner Regierungserklärung von März 2003 an. Noch deutlicher wurde der damalige SPD-Arbeitsminister Müntefering: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", brachte er die Logik von Hartz IV auf den Punkt.

Zehn Jahre ist es nun her, dass mit den ersten Hartz-Gesetzen die Axt an den deutschen Sozialstaat angelegt wurde. Damals war die Situation in Europa noch spiegelverkehrt zur heutigen: Begünstigt durch die gemeinsame Währung, die zunächst eine Angleichung der Zinssätze bewirkte, floss Kapital aus Deutschland und anderen wirtschaftsstarken Ländern in die europäische Peripherie und trug dort zu einem kreditfinanzierten (Spekulations-)Boom bei. Hingegen wurde Deutschland als „kranker Mann Europas" dargestellt, der aufgrund zu hoher Löhne nicht wettbewerbsfähig sei und dringend den Arbeitsmarkt flexibilisieren und Sozialleistungen kürzen müsse. Noch heute wird die Verringerung der Arbeitslosigkeit von knapp fünf Millionen (11,7 Prozent 2005) auf zuletzt unter drei Millionen (6,8 Prozent im Mai 2013) von großen Medien und nahezu allen Parteien außer der Linken als großer Erfolg der Agenda 2010 gefeiert. Und da es Deutschland augenscheinlich gelungen ist, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft durch Lohndumping, Sozialabbau und verschärfte Ausbeutung der Beschäftigten zu steigern, werden die Krisenländer am Rande der Eurozone heute zu ähnlichen, allerdings noch deutlich brutaleren Strukturreformen genötigt.

Von Arbeitslosen zu „Working Poor"

Mal abgesehen davon, dass die Arbeitslosenstatistik heutzutage systematisch schöngerechnet wird 1, ist das angeblich von der Agenda 2010 bewirkte „Jobwunder" in Wirklichkeit ein Hungerlohnwunder: Die Zahl jener Beschäftigten, die von ihrer Arbeit nicht leben können und daher zusätzlich auf Hartz IV angewiesen sind, stieg in den letzten sieben Jahren um 45 Prozent auf 1,4 Millionen. Inzwischen ist fast jeder dritte Empfänger von Arbeitslosengeld erwerbstätig. Die Aufstockung der Niedriglöhne auf Hartz-IV-Niveau kostet den Staat jährlich gut zehn Milliarden Euro. Außerdem werden Minijobs vom Steuerzahler mit gut vier Milliarden Euro subventioniert, das heißt, Lohndumping wird vom Staat massiv gefördert. Ergebnis dieser Politik ist ein riesiger Niedriglohnsektor: Waren im Jahr 1995 erst 15 Prozent der deutschen Beschäftigten zu Niedriglöhnen beschäftigt, sind es heute mehr als 22 Prozent – damit liegt die Bundesrepublik deutlich über dem EU-Durchschnitt von 17 Prozent. In absoluten Zahlen umfasst der Niedriglohnsektor etwa acht Millionen Beschäftigte, wobei mehr als vier Millionen Beschäftigte mit einem Bruttostundenlohn von weniger als sieben Euro auskommen müssen. Viele der Arbeitslosen von gestern sind heute arm trotz Arbeit (Working Poor) und durch die Drohung mit Leistungskürzungen gezwungen, jeden noch so miesen Job anzunehmen. Immer öfter wird die Drohung auch wahrgemacht: Im Jahr 2012 wurden erstmals mehr als eine Million Mal Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen.

Moderner Menschenhandel

Nicht nur Hartz IV, auch der fehlende gesetzliche Mindestlohn sowie die Förderung von prekären Arbeitsformen haben die Gewerkschaften und Beschäftigten geschwächt und zur Ausbreitung von Armutslöhnen geführt. So hat die mit Hartz I verbundene Privatisierung der Arbeitsvermittlung der Leiharbeit den Weg geebnet, Belegschaften gespalten und dadurch zu einer Entsolidarisierung in der Arbeitswelt beigetragen. Seit 2002 hat sich die Zahl der Beschäftigten, die von Leihfirmen auf dem Markt vermietet werden, von 336 000 auf über 900 000 knapp verdreifacht. Da es sich hierbei um Stichtagsdaten handelt und Leiharbeitsverträge oft nur eine kurze Laufzeit haben, liegt die Zahl jener Menschen, die im Verlauf eines Jahres als Leiharbeiter beschäftigt sind, allerdings deutlich höher. Allein die Arbeitsagenturen dürften jährlich etwa eine Million Menschen in Leiharbeitsverhältnisse zwingen: So entfielen von insgesamt 19 Millionen Stellenangeboten der Arbeitsagentur zwischen 2007 und 2011 knapp die Hälfte, nämlich 9 Millionen Stellenangebote, auf Leiharbeitsfirmen – Tendenz stark steigend. 2

Und Leiharbeit ist nicht einmal die schlimmste Form der Ausbeutung. Hinzu kommt der Missbrauch von Werkverträgen, der eine wachsende Zahl von Beschäftigten zwingt, zu noch schlechteren Löhnen zu arbeiten. Insbesondere aus dem Produktionsbereich ist diese neue Unterklasse von Beschäftigten inzwischen kaum noch wegzudenken. Für die Unternehmen liegen die Vorteile auf der Hand: Der flexible Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen spart ihnen Lohn- und Entlassungskosten. Ferner werden Stammbelegschaften durch diese Dumpingkonkurrenz unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Die Strategie der Spaltung Beschäftigter erschwert solidarisches Handeln und kollektive Gegenwehr ganz erheblich – zumal Leiharbeiter bei Bedarf gern als Streikbrecher missbraucht werden.

Prekäre Arbeit auf dem Vormarsch

Dank der Agenda 2010 breiten sich prekäre Arbeitsverhältnisse wie ein Krebsgeschwür immer weiter aus. Inzwischen ist etwa jeder vierte Arbeitnehmer nur befristet beschäftigt oder verdient als Minijobber, Leiharbeiter oder Teilzeitkraft seinen Lebensunterhalt – mit steigender Tendenz. 3 Auch atypische Arbeitszeiten greifen um sich: Mittlerweile arbeitet jeder Vierte ständig oder regelmäßig am Wochenende – ein Anstieg um 33 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Die Zahl der Beschäftigten, die abends oder nachts arbeiten müssen, stieg im gleichen Zeitraum um 46 bzw. 32 Prozent, die Zahl jener, die Schichtarbeit leisten oder mit überlangen Arbeitszeiten zu kämpfen haben, um 24 und 23 Prozent. 4

Vor allem die jüngeren Generationen sind von wachsender Unsicherheit und Niedriglöhnen betroffenen: Von den unter 25-Jährigen arbeitet inzwischen jeder Zweite zu Dumpinglöhnen. Seit 2004 beträgt der Anteil befristeter Arbeitsverträge bei allen Neueinstellungen zwischen 43 und 47 Prozent. Werkverträge, Praktika oder befristete Jobs sind für jeden dritten Beschäftigten unter 35 Jahren Realität. Die jüngeren Generationen werden auch die Rentenkürzungen, die mit der Riester-Reform und der „Rente mit 67" verbunden sind, am stärksten zu spüren bekommen.

Die langfristigen Folgen der Hartz-Reformen können kaum unterschätzt werden. Sie dienten bei Weitem nicht nur der Schikane und Erniedrigung von Erwerbslosen, sondern waren auch ein wirksames Mittel zur Disziplinierung und Einschüchterung von Beschäftigten. Aus Angst, den Job zu verlieren und innerhalb kurzer Zeit im Hartz-IV-System zu landen, werden oftmals deutlich schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen hingenommen. Kein Wunder, dass die Reallöhne in Deutschland seit der Jahrtausendwende sinken – und dies, obwohl es immer mehr hochqualifizierte Beschäftigte gibt und immer mehr Arbeitsplätze ein Studium voraussetzen. Während in den ersten Jahren vor allem die Bezieher geringer Einkommen bei der Lohnentwicklung zurückblieben, sind stagnierende oder rückläufige Reallöhne seit 2005 „ein weit verbreitetes Phänomen, das Männer und Frauen, Teil- und Vollzeitbeschäftigte, einfache Arbeiten und Akademikerjobs, niedrige und gehobene Gehaltsklassen trifft". 5 Was als Anschlag auf Arbeitslose und Geringverdiener begann, hat eine regelrechte Lawine ausgelöst, die inzwischen auch Teile der Mittelschicht mitreißt.

Hingegen haben deutsche Konzerne und Vermögensbesitzer von den Reformen der Agenda 2010 massiv profitiert. Die verschärfte Ausbeutung der Beschäftigten steigerte die Unternehmensgewinne. Auch etliche Steuergeschenke an Reiche und Konzerne sowie Rentenreformen, welche die Arbeitgeber vom Anstieg der Kosten für die Altersvorsorge befreiten, trugen zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben bei. Rund eine Billion Euro dürften den Unternehmern, Vermögenden und Beziehern hoher Einkommen in Deutschland in den letzten zehn Jahren zusätzlich zugeflossen sein – die eine Hälfte, weil die Lohnerhöhungen zu niedrig waren, die andere Hälfte aufgrund massiver Steuergeschenke.

Agenda-Irrweg zerstört Europa

Die Agenda 2010 ließ aber nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland auseinanderklaffen, sondern verschärfte auch die Ungleichheit in Europa. Während die deutsche Industrie dank der Lohndumpingstrategie immer neue Exportrekorde feiern konnte, türmten unsere europäischen Handelspartner immer höhere Schuldenberge auf. Auch ohne Finanzkrise und Bankenrettung hätte dies früher oder später zu einer Schuldenkrise und einer Krise der Europäischen Währungsunion geführt. Nun ist die Krise da, und halb Europa wird auf Druck der Bundesregierung kaputtgespart. Das Ergebnis ist eine Rekordarbeitslosigkeit in der Eurozone und eine humanitäre Katastrophe (nicht nur) in Ländern wie Griechenland. Inzwischen steht sogar die Demokratie auf dem Spiel, da bei dem Versuch, Sozialkürzungen und Entlassungen gegen wachsende Widerstände in der Bevölkerung durchzusetzen, immer mehr demokratische und gewerkschaftliche Grundrechte außer Kraft gesetzt werden.

Der Schlüssel für eine Beendigung der europäischen Krise liegt in Deutschland. Wenn es hier nicht gelingt, die aktuelle Schwäche der Gewerkschaftsbewegung zu überwinden, die unsozialen Hartz-Gesetze zurückzunehmen und den Binnenmarkt über kräftige Lohnsteigerungen zu stärken, hat Europa keine Zukunft. Ein Ausweg bestünde darin, den Niedriglohnsektor einzudämmen, zum Beispiel durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde sowie eine sofortige Anhebung des ALG II auf 500 Euro im Monat bei Abschaffung sämtlicher Sanktionen. Leiharbeit sowie der Missbrauch von Werkverträgen müssten verboten bzw. in reguläre Beschäftigung umgewandelt werden. Zudem müsste die Möglichkeit der sachgrundlosen 6 Befristung von Arbeitsverhältnissen im Teilzeit- und Befristungsgesetz ersatzlos gestrichen werden, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen müsste erleichtert, das Streikrecht erweitert werden. Gäbe es darüber hinaus ein Verbandsklagerecht, könnten die Gewerkschaften die Einhaltung von Tarifverträgen auch gerichtlich durchsetzen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sollten sanktioniert werden, indem den Arbeitgebern hier der doppelte Beitrag zu den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung abverlangt wird. Menschen müssen von ihrer Arbeit wieder gut leben und ihr Leben wieder planen können. Das ist nur möglich, wenn die unsoziale Kürzungspolitik beendet und der durch Steuer- und Lohndumping entstandene Reichtum umfairteilt wird.