Merkels Geisterfahrt

Gastkommentar von Sahra Wagenknecht, erschienen in der jungen Welt am 10.12.2011

10.12.2011

Die deutsche Regierung hat sich durchgesetzt: Schuldenbremsen, Sparkommissare, automatische Sanktionen für sogenannte »Defizitsünder« – diese Politik soll jetzt in Stein gemeißelt, in Verfassungen und EU-Verträgen verankert werden. Statt zu überlegen, wie man die Euro-Staaten aus dem Würgegriff der Finanzmafia befreien kann, setzt Merkel weiterhin auf die »disziplinierende Wirkung« der Finanzmärkte, an die sich eine »marktkonforme Demokratie« anzupassen habe. Eine verhängnisvolle Realitätsverweigerung in einer Situation, in der selbst Italien auf einen Bankrott zusteuert, die Bankenkrise sich erneut zuspitzt und die Euro-Zone am Konflikt über die Verteilung der Krisenkosten zu zerreißen droht.

Wenn Merkel ihre Geisterfahrt nicht bald beendet, kommt es in Europa zum großen Crash. Wer den Krisenländern brutale Kürzungsprogramme diktiert, führt diese aus der Krise nicht heraus, sondern immer tiefer in sie hinein – diese Lektion sollte eine deutsche Kanzlerin 80 Jahre nach Brüning eigentlich gelernt haben. Doch Amnesie scheint ein Grundprinzip deutscher Politik zu sein. Wie sonst ist zu erklären, daß über Defizitsünder und Schuldenbremsen schwadroniert wird, während die horrenden Kosten der Bankenrettung, die den drastischen Anstieg der Schuldenquote verursacht haben, mit keinem Wort mehr erwähnt werden?

Es ist doch zynisch: Die gleiche Zockerbande, die die Staaten erst in die ganze Verschuldung hineingetrieben hat, diktiert den Staaten jetzt die Bedingungen, zu denen diese neue Kredite erhalten. Das ist, als würde ein Einbrecher mein Haus leerräumen und ich würde ihn anschließend um einen Kredit bitten, damit ich mich neu einrichten kann – wobei ich dem Einbrecher auch noch erlaube, die Zinssätze und Konditionen jederzeit neu festzusetzen. Dieses absurde System der Staatsfinanzierung muß geändert werden. Zum Beispiel, indem eine öffentliche Bank bzw. die Europäische Zentralbank an alle Euro-Staaten zinsgünstige Kredite ausreicht. Vom Diktat der Investmentbanker und Ratingagenturen befreit, könnte man auch einen Schuldenschnitt durchführen, ohne daß eine unkontrollierbare Kettenreaktion einsetzt.

Zwar würden viele Banken und Versicherungen einen Schuldenschnitt aus eigener Kraft nicht überleben. Dies bietet aber auch eine Chance: Der gesamte Finanzsektor könnte in öffentliche Hand überführt, geschrumpft und vernünftig reguliert werden. Das Geld für eine Rekapitalisierung des Finanzsektors ließe sich durch eine einmalige Vermögensabgabe für Superreiche beschaffen. Dort dürfte auch nach einem Schuldenschnitt noch genug zu holen sein: Allein in Deutschland verfügen etwa 830000 Millionäre über ein Finanzvermögen von mindestens 2,2 Billionen Euro – mehr als Bund, Länder und Gemeinden zusammen an Schulden haben. Statt zu dulden, daß der Sozialstaat brutal zerstört und die Demokratie Schritt für Schritt ausgehebelt wird müssen wir in Deutschland und Europa darum kämpfen, daß diese Profiteure zur Kasse gebeten werden.